Märchen sind voll Weisheit zum Einen, voller Moral zum Zweiten und dunkel von Schweigen, dass wir detektivisch Neues entdecken können. Beginnen wir mit dem Fischer und seiner Frau. Obwohl es Spaß macht, den gleichen Refrain immer bedrohlicher zu wiederholen, kommt es hier nur auf das Gerüst an, damit wir die Bauweise auseinandernehmen können. Ein armer Fischer und seine Frau leben in einem kleinen Verschlag und ernähren sich vom Fischfang. Er fängt wenig, wird immer mutloser, bis eines Tages ein großer Butt an seiner Angel hängt. Er zieht ihn heraus, da fängt der an zu sprechen und fleht um sein Leben. Der Fischer gewährt ihm dieses, da er sich nicht vorstellen kann, einen Fisch zu töten, der sprechen kann. Zuhause erzählt er es seiner Frau, die sich sogleich empört, dass er dem Fisch keinen Gegenwert für sein Leben abgenommen hat, und ihn zurück ans Meer schickt, das Versäumte nachzuholen. Sie will ein Haus mit Mö-beln und Garten und Hühnern im Hof. Unwilllig geht der Fischer, bekommt aber sogleich des Weibes Wunsch erfüllt, und nun nimmt das Unheil seinen Lauf. Die Wünsche der Frau werden immer größer. Vom Haus zum Schloss, es kommen haufenweise Bedienstete hinzu und Kutschen. Um weiter zu wünschen, muss sie ihr Geschlecht wechseln, nicht Königin, sondern König werden, dann Kaiser, jetzt hat sie Soldaten als Machtposten. Dann will sie Papst werden, hier ist der Prunk am größten, sie hat gleich vier Kronen, aber sie bleibt unzufrieden, will auch den Sonnenaufgang und -untergang befehlen und also sein wie Gott. Die Katastrophe ist vorherzusehen. Sie sitzt schließlich wieder in ihrem Verschlag.

Von Wunsch zu Wunsch, von Meergang zu Meergang wächst die Empörung der Natur über ihr widernatürliches Verhalten, erfahrbar am Farbwechsel des Meeres von blau nach gelb nach grün, violett bis schwarz und sich gewaltig türmenden Wellen und tosendem Krach.

Die Lehre ist ziemlich klar und grundlegend: Der Fischer ist arbeitsam und arm, die Frau voll gierigen Verlangens. Sie will aus der Ordnung gehen bis hin zur Schöpfung – so muss die alte Ordnung wiederhergestellt werden. Arbeitsam der eine und … jetzt merken wir, dass wir nicht erfahren haben, was die Frau vorher eigentlich tat oder ob überhaupt etwas, außer dass sie bis zur Dummheit unverschämt ist. Aber ist dies überhaupt eine Geschichte über Herrschaft und nicht eher über Arbeitsteilung, bei der nur ein Teil arbeitet, der andere vorläufig bloß gierig ist?

»die Lehr’ von der Geschicht’«

Frauen, so kann man aus Überlieferungen allenthalben lernen, sind unheilvolle Mächte, um die Kriege geführt werden, die große verdiente Männermacht über Nacht zu Schaum schlagen können – von daher ist es angebracht, sie ein zuschließen und Männer allein die Geschicke lenken zu lassen. Aber das maßlose, rastlose, planlose Verlangen, das vom ersten Sündenfall bis heute weibliche Mitgift ist, musste wohl in einen anderen Bereich auswandern, als die Frauen in die Häuser gesperrt waren. Endlich konnte sich das Kapital dieses vogelfreien Begehrens annehmen oder vielmehr das Begehren bemächtigte sich des Geldes, dass es Kapital werde. Planlos, maßlos, rastlos – wie Marx das analytisch herausarbeitet. In seiner Gier stürzt es von Krise zu Krise, jede Lösung bereitet nur die Mittel für die nächste, heftigere vor, wie das beim Fischer und seiner Frau geschah.

Da wir so märchenhaft aus dem armseligen Verschlag in die Krise des Kapitalismus gesprungen sind, können wir die Frage nach dem Herrschaftsknoten stellen, ohne die überlieferten Herrschaftstheorien noch einmal intensiv aufzusuchen.

Aber in der Unruhe der Weltwirtschaftskrise werden doch andere Fragen stellbar. Die am meisten beunruhigende ist die, warum Menschen sich bei so offenkundigen Ungerechtigkeiten, die als Reparaturversuche, die alte Gesellschaft noch eine Weile laufen zu lassen, im Angebot sind, nicht massenhaft wehren. Wie reproduzieren sich diese kapitalistische Gesellschaft und ihre Herrschaft trotz aller Katastrophen oder mit ihnen?

Indem wir nach dem Muster kapitalistischer Gesellschaft und ihrer Reproduktion fragen, rücken wir der Begriffssprache, in der Knoten eine Rolle spielen, schon näher. Hier können wir voraussetzen, dass es zum allgemeinen Wissen gehört, dass das treibende Motiv dieser Regulationsweise der Profit ist; Wachstum, immer mehr, immer größer, das unstillbare Verlangen, das wir in der Seele der Fischersfrau fanden und das im Märchen als menschlich nicht lebensfähig ausgemustert wurde. Wie lebt dann aber Kapitalismus, wenngleich krisenhaft?

In den überlieferten Herrschaftstheorien, das sei hier nur kurz angemerkt, werden Formen untersucht, in denen von oben nach unten gehandelt wird – durch überliefertes Recht, durch Beamte, durch einen Führer, an den geglaubt wird: »Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«, heißt es bündig bei Max Weber (1922, 38). Da ist gar kein Gedanke an einen Knoten, der sich in der sauber durchgeführten historisch gestützten Analyse jetzt eher wie ein Vorschlag ausmacht, der aus dem häuslichen Nähkörbchen kommt und mit ernsthaftem politischem Handeln wohlweislich nichts zu tun zu haben scheint. An dieser Stelle kommen wir nicht weiter, wenn wir nicht aus der gewohnten historischen Überlieferung ein wenig aussteigen und nach dem nicht so Sichtbaren, dem nicht ganz Bewussten, jedenfalls Verschwiegenen suchen.

Gehen wir also noch einmal zurück zur Fischersfrau, die zwar einen Namen hat, die Ilsebill, aber ansonsten nichts weiter ist als des Fischers Frau mit maßlosen Wünschen. Wir können wohl kaum annehmen, dass sie den ganzen Tag, zumal in einem kleinen Verschlag, auf der faulen Haut lag und wartete, dass ihr Mann etwas zum Essen heimbrächte, was, wie wir auch aus dem Märchen erfuhren, sehr häufig nicht gelang. Vermutlich hatten sie Kinder, auch für sie musste gesorgt werden, Nahrung musste her, es musste gesammelt, gepflanzt, geerntet werden, aus dem Naturzustand geputzt, geschält, gekocht, zuvor fürs Feuer gesammelt, danach das Geschirr gesäubert, geräumt, die Kinder getragen, geboren, gehütet, gesäubert, gekleidet, die Kleider genäht, geflickt werden usw. – vielleicht war noch jemand Altes oder Krankes zu versorgen, wie wir aus anderen Märchen oder aus eigener Erfahrung wissen. Bei großer Armut muss weit gegangen werden, um Ernährung herbeizuschaffen – historisch später, wenn die Fischersfrau schon ein Haus und dann einen Geflügelhof hat, ist es ein Bauernbetrieb mit einer Unmasse von Arbeiten, mit Vieh und Land, Futter besorgen, Schafe auf die Weide treiben, dann scheren, bei Geburten der Tiere helfen, bei Krankheiten auch, bis hin zum Schlachten und Häuten und Rupfen – Arbeiten, von denen im übrigen Engels in seiner Schrift zum Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates denkt, dass sich diese Tätigkeiten fast von selber tun. »Jetzt mit den Herden der Pferde, Kamele, Esel, Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine hatten die vordringenden Hirtenvölker […] einen Besitz erworben, der nur der Aufsicht und rohesten Pflege bedurfte, um sich in stets vermehrter Zahl fortzupflanzen und die reichlichste Nahrung an Milch und Fleisch zu liefern.« (Engels 1973, 58) Man denkt ans Schlaraffenland, wo die Schweine bekanntlich gebraten mit Messer und Gabel im Rücken umherlaufen. In der gleichen Schrift gibt es auch die grandiose und häufig zitierte Formulierung von der »weltgeschichtlichen Niederlage des weiblichen Geschlechts« (61) durch den Umsturz des Mutterrechts. Es folgt der Satz: »Der Mann ergriff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung.« Und schon wieder tut sie nichts, als ein passives Objekt und Werkzeug für andere zu sein. Lesen wir dies als eine Geburt des Opferdiskurses.

Das Übersehen, nicht in Betracht ziehen, Vergessen – ›Verschweigen‹, wäre schon zu absichtsvoll, – zieht sich durch die Geschichtsschreibung. Wer je versucht hat, Frauengeschichte zu erforschen, stößt immerzu auf Leerstellen, Lücken, Mängel, Nichts (vgl. Haug 2001b; 2010). Und doch ist auch wiederum allen bewusst, dass die Produktion des Lebens, wie Marx und Engels dies ausdrücken, das Wesentliche ist, dem die Produktion der Lebensmittel dient. Allerdings so, dass das eine ohne das andere nicht geht, ein Trennungszusammenhang. Eine Verkehrung kommt hinein, wenn das eine dem anderen wirklich übergeordnet ist, wie dies eben im Kapitalismus mit der Produktion des Profits wegen geschieht, für die das Leben und seine Produktion nur Mittel sind. Aber die hierarchische Überordnung der profitlich organisierten Mittelproduktion über das Leben selbst braucht zu ihrem Betrieb die vorhergehende Unterdrückung der Frauen, dass sie sich des Lebensnotwendigen außerhalb der Profitgesetze annehmen.

In dieser Weise können wir feststellen, dass Geschlechterverhältnisse Produktionsverhältnisse sind (vgl. Haug 2001a). Diese These gibt uns schon Auskunft über die Hartnäckigkeit, mit der Frauenmarginalisierung und -unterdrückung bleibt, selbst wenn die Lage der Frauen historisch immer weiter verbessert wird. Alle Verhältnisse sind in Geschlechterverhältnissen kodiert. Dieser einfach zu sprechende Satz eröffnet einem außerordentlich weit verzweigten Dasein ein riesiges Untersuchungsfeld. Auch kapitalistische Herrschaft, diese vor allem, braucht Frauenmarginalisierung, um an Stelle der Barbarei, die Marx und Luxemburg vorhersahen, weiter funktionieren zu können, wenngleich krisenhaft.

Dies nenne ich den Herrschaftsknoten, das Ineinander-Verflochten-Sein unterschiedlicher Stränge, die einander abstützen und halten, von denen eine Reihe nicht sichtbar sind, die in ihrem Wirkungszusammenhang aber die kapitalistische Gesellschaft am Laufen halten. Verflochten sind in diesem Knoten: das profitgetriebene Agieren des Kapitals, das sich lebendige Arbeit in der Form der Lohnarbeit einverleibt, die Produktivkräfte immer weiter entwickelt und damit Arbeit, die ihre Quelle ist, austrocknet und einspart – dies allein ist schon ein komplizierter dialektischer Zusammenhang. Dann die unsichtbaren ungesprochenen und geschichtslosen Taten, die allesamt zur Wiederherstellung des Lebens der Menschen und der sie umgebenden Natur nötig sind. Diese bilden einen eigenen Strang, haben eine andere Zeitlogik, lassen sich schlecht rationalisieren oder effektiver und schneller schaffen, um gewinnbringend zu sein. Die unterschiedlichen Individualitätsformen von der liebenden Mutter zur heroischen Krankenschwester, zur ehrenamtlich Wohltätigen, zum Umweltschützer sind ebenso bekannt wie die Katastrophen, die hinterrücks die Menschen überfallen: von der Verrohung und dem Verkommen von ganzen Generationen und Bevölkerungsteilen bis zur Unbewohnbarkeit der Erde. Viele dieser Tätigkeiten bleiben unsichtbar. Vieles wurde in den entwickelten kapitalistischen Ländern in die Lohnarbeit überführt, wo es ein geduldetes, schlechtes und schlecht bezahltes Ansehen hat.

In diese Verklammerung geht ebenso fast unerwähnt die Vernachlässigung der Menschen je selbst als Menschen ein. Entwicklung ist etwas, das sich nur Reiche leisten können, während die Regungen, menschlich Mögliches zu entfalten, im Konsumrausch erstickt werden, der zugleich eine Grundlage für Wachstum, Verbrauch ist – und sich auf andere Weise das Verlangen der Fischersfrau zunutze gemacht hat. Ebenso unbemerkt bleibt, dass Menschen subaltern in Unmündigkeit gehalten bleiben in Bezug auf die Gestaltung der Gesellschaft, was wir das Politische nennen. Diese vier Stränge sind vielfältig eingeflochten, abgesichert, ausgestaltet, finden sich in Gewohnheiten, Taten, Moral, im Hoffen und Begehren, im Commonsense. Sie zusammenzuführen ist das Projekt der Vierin-Einem-Perspektive (Haug 2011; LuXemburg 3/2011; Kipping in diesem Heft).

Herrschaft als Knoten denken

»Über, was Herrschen ist, besteht eine verkehrte Meinung bei einigen. Die meisten Leut wissen zeit ihres Lebens nicht, dass sie beherrscht werden, das ist eine Tatsache. Sie meinen, sie tun, was sie auch täten, wenns überhaupt keine Obrigkeit oder sonstwas, was herrscht, gäb« (Brecht 1967a, 1437), sagt Kalle in den Flüchtlingsgesprächen und spricht so aufs Knappste, dass Herrschaft die Beherrschten braucht, die ihr Beherrschtsein praktisch betätigen Tag und Nacht. Man kann sich das Zusammenwirken dieser vielfältigen Kräfte vorstellen, auch, wie enorm das Forschungs- und Praxisfeld ist, das zur Befreiung von Herrschaft beschritten werden muss, und wieviele gehen müssen verändernd sich und ihre Bedingungen Bei Gramsci finden wir als Aufgabe: »Man muss eine Lehre erarbeiten, in der alle diese Verhältnisse tätig und in Bewegung sind, wobei ganz deutlich festgestellt wird, dass der Sitz dieser Tätigkeit das Bewusstsein des Einzelmenschen ist, der erkennt, will, bewundert, schafft, insofern er bereits erkennt, will, bewundert, schafft usw. und sich nicht als isoliert, sondern als voller Möglichkeiten begreift, die ihm von anderen Menschen und von der Gesellschaft der Dinge geboten werden, wovon er unvermeidlich eine gewisse Kenntnis hat.« (Gramsci 2012, H7, §35)

Aber was bringt es, in diesem Zusammenhang von einem Herrschaftsknoten zu sprechen, statt einfach von einem Zusammenwirken? Ich nehme das einfache Beispiel vom Schuh mit Schnürsenkeln. Jeder weiß, dass hier zwei Stränge so zusammengebunden werden, dass sie sich nicht leicht von selber lösen können. Damit das garantiert ist, macht man einen Doppelknoten. Wenn man vier oder mehr Stränge hat, wird es fast unlösbar – wie der gordische Knoten – die Lösung bleibt Aufgabe. Aber worauf es jetzt hier ankommt, ist, dass es immer die Möglichkeit gibt, am falschen Ende zu ziehen und so den Knoten fester und die Lösung unmöglicher zu machen.

Im Projekt der 4in1-Perspektive ist die Vorstellung vom Knoten und seiner tückischen Weise, sich beim Lösen festigen zu können, zentral. Das ist einfach zu begreifen und zu erklären, wenn man sich etwa die in Lohnform gefangene Arbeit ansieht und ihre Verkürzung als ausschließliche Politik betreibt. Die Vernachlässigung aller anderen gesamtgesellschaftlichen Arbeit ist dabei ebenso evident wie die Zielgruppe mit Entwicklung der Produktivkräfte immer kleiner wird. Die vielen anderen Arbeiten verschwinden immer weiter aus dem sichtbaren Feld, während ihre in Lohnform überführten Teile den Sparmaßnahmen in der Krise zum Opfer fallen, z.B. im Gesundheits-, im Schulwesen, in der Sozial- und Jugendarbeit, in der Altenpflege, im Kulturellen. Die vielen Sorge- und Reproduktionsarbeiten finden sich allgemein in großer Not, für sie reicht die Zeit nicht. Daher müssen die Kämpfe um sie anders geführt werden als die um Erwerbsarbeitszeitverkürzung allein. Beginnt man, an dem zweiten Strang zu ziehen und z.B. Betreuungsgeld, Elterngeld, Müttergeld zu fordern, also damit, diesen Bereich der menschlichen Reproduktion ebenfalls gänzlich in die Geldform zu überführen, erfährt man schnell, dass fast unvermeidlich reaktionäre Mutterbilder verfolgt werden, die, wie Bloch das ausspricht, das weibliche Geschlecht »auf ewig ans Kreuz der Geschichte nageln« (Bloch 1978, 295). Es ist, allein gezogen, das falsche Ende, ohne – wie schon bei der Arbeitszeitverkürzung – überhaupt falsch zu sein. Der Knoten muss anders gelöst werden. Das Knotengewirr beim Alten zu lassen und vorsichtig am Strang allseitiger Entwicklung zu ziehen, festigt die Grenzen, die um die Ausbildung von Eliten gezogen sind. Denn die Verknüpfung mit wirtschaftlichem Wachstum führt zur Unterstützung von wirtschaftlich Gebrauchten, was weder der allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit zugute kommt, noch der Entfaltung aller Sinne. Stattdessen kommt es zur Konzentration des Erfindungsgeists aufs Machbare, was die Indienstnahme von Natur anbelangt: Verlängerung des Lebens für Reiche, Ersetzung ihrer Organe durch anderswo geraubte, fehlerfreie Kinder für einige usw. Man muss, wie Donna Haraway (1995, 178ff) das fordert, eine Liste erstellen, welche Erfindungen und Entwicklungen den Ausschluss vieler aus dem allgemeinen Menschsein fördern, also Herrschaft stützen. Schließlich der Strang Politik. Alle Verbesserungen in der politischen Stellvertretung, die gewiss nötig sind, ermäßigen die Notwendigkeit, dass es letztlich darum gehen muss, Politik von unten zu machen – Sozialistische Demokratie, in der alle befähigt werden, die Gesellschaftsgestaltung in eigene Hände zu nehmen. Wiewohl sich das phrasenhaft anhört, weil wir nicht mehr daran glauben, dass dies gelingen könnte, bleibt es Fernziel, bleibt unsere Politik die Vertiefung von Demokratie als Handeln von allen. Nicht Arbeitszeitverkürzung für Vollbeschäftigung und diese für Wachstum, sondern Arbeitszeitverkürzung, damit wir Zeit haben für Märchen, für andere und fürs Politikmachen.

Herrschaft destabilisieren

Bleibt weiter die Frage, warum sich die Menschen in der jetzigen Großen Krise nicht wehren, sondern diejenigen als ihre Vertreter zumeist wählen, die diese Krise politisch mit verursacht haben. Die Frage allgemeiner gestellt zeigt Wege ihrer Beantwortung. Zu den sich festzurrenden Fäden des Herrschaftsknotens gehört wie eine Sicherung, dass in den Befestigungen auch Belohnungen stecken. Der verschnürte Schuh erleichtert das Laufen. In jeder Herrschaftsform steckt nicht nur Gewohnheit, sondern damit auch Handlungsfähigkeit für die Unterworfenen. Das erschwert ein weiteres Mal, die einzelnen zur Veränderung ihrer Lebensbedingungen zu ermutigen. Die Lösung des Herrschaftsknotens ist daher nicht nur eine unerhört langfristige und komplizierte Arbeit. Sie kann nur in allen Bereichen zugleich begonnen werden und braucht die Kraft und die Zeit der Vielen.

Da ruckeln sie an den einzelnen Strängen. Sie lockern ihren Griff auf die Erwerbsarbeit in Vollzeitform und wollen weniger Zeit dort verbringen, um die freigewordene Zeit der fürsorgenden Arbeit zu widmen und der Freundlichkeit in der Welt. Sie gewichten um, halten Lohnarbeit nicht mehr für das ausschließliche Zentrum ihres Lebens die einen, wollen sich nicht mit ganzer Zeit dem Häuslichen widmen die andern. Beide erkennen in größerer Muße, dass menschliche Sinne mehr vollbringen als bloßes Abrackern in der einen oder anderen Form. Aufatmend blicken sie um sich, sehen, dass wenig zum Rechten steht und sehen auch, dass sie die Gestaltung der Gesellschaft gemeinsam vorantreiben, also Politik in ihre Hände nehmen müssen. In diesen vier Bewegungen zugleich lockern sich die Knoten, wird Herrschaft instabil. Diese Lockerung ist antikapitalistisch und radikal demokratisch. Deshalb ist mit systematischem Widerstand zu rechnen.

Lernen wir von Brecht als politischem Lehrer: »Wenn die herrschende Klasse ihren Griff verliert, fallen die Beherrschten zunächst meist zusammen. Die Institutionen schwanken und zerfallen schon, und die Unterdrückten machen noch lange keine Anstalten, die Führung zu übernehmen. Gegen sie steht ihre Religion, ihre Lebenskunst, die sie mühsam gelernt haben, viel davon vom Feind, einiges davon im Kampf mit dem Feind, eine komplexe Ausstattung von Gewohnheiten und Maximen. Deshalb muss der Umsturz selber etwas Geschäftsmäßiges bekommen, ein organisiertes Unternehmen, in dem sie Züge ihres Alltags wieder erkennen können, kurz, vernünftig, um die Massen einzubeziehen.« (Brecht 1967b, 120)

Das Ineinander offen legen

Noch einmal zurück zur Fischersfrau, die am Anfang des Märchens untätig im Verschlag saß und immer höher fliegende Wünsche hatte. Die einseitige Abbildung, die ihre Taten vergaß, dient auch dazu, allgemein die Wünsche zurückzustufen, besonders die weiblichen. Sie soll im Verschlag bleiben und das Nötige tun ohne weitere Worte. Kann so davon ausgegangen werden, dass die Menschheit einstweilen überlebt und Fortschritt in den Händen des Fischers läge? Aber er wird von allein nicht auf bessere, gewinnbringendere Nutzung seiner Arbeitskraft kommen – daher muss das Wünschen in die richtigen Hände, die dann wiederum den Fischer sich zunutze machen können als verfügbare Arbeitskraft in einer immer gesellschaftlicher, also arbeitsteiliger und kooperativer werdenden Form. Die Verfügung über Körper und Arbeit der Frauen bleibt weiter unerwähnt – eine Kraft, die der Verknotung anheim fällt. Es ist also auch wichtig und gehört zum Herrschaftsknoten, dass ein großer Teil der gesamtgesellschaftlichen Arbeit unerkannt, unbewusst, verborgen ist. So bekommt der Knoten eine schwerer zu entziffernde Form. In seine Lösung geht Erkenntnis ein und damit eine Wahrnehmung, die die Arbeiten nebeneinander stellt, dass sie gleichzeitig sichtbar sind, wie ebenso ihre Unsichtbarkeit als Strategie gesehen werden kann. Erst von da aus ist eine Zukunftserzählung zu schreiben und an schrittweise Verwirklichung zu gehen.