In welcher Welt leben wir? Welches Wort beschreibt sie am besten? Ist sie absurd, ignorant oder einfach nur grausam? Wie lässt sich sonst eine Gesellschaft bezeichnen, die tagtäglich ihr eigenes Grab schaufelt? Wie erzählen wir unsere Geschichte so, dass sie verständlich wird, und wo fängt sie überhaupt an? Vor 250 Jahren mit dem industriellen Kapitalismus? Vor 50 Jahren mit dem Club of Rome, als schwarz auf weiß klar war, dass unsere Art zu produzieren alles kaputtmachen würde und dann nichts passierte, um das zu verhindern? Oder beginnen wir mit den Überflutungen 2022, durch die Millionen Menschen ihre Heimat verloren, oder mit den Hitzewellen, die nun auch vor Europa nicht mehr haltmachen? Und wo soll diese Geschichte noch hinführen?
Zunächst einmal müssen wir damit anfangen, wie wir diese Geschichte nicht erzählen sollten. Die Behauptung, wir hätten bereits die beste aller denkbaren Gesellschaften geschaffen und damit das Ende der Geschichte erreicht, ist kein überzeugender Erzähleinstieg. Denn wie erklären wir dann die tagtäglichen Ungerechtigkeiten, das Leid, die Traurigkeit? Es ist das Märchen jener, die ihre Verantwortung verschleiern und von den wirklichen Ursachen ablenken wollen, während uns der Katastrophenkapitalismus von einer Krise in die nächste schleudert, wobei die Pausen zum Luftholen immer kürzer werden und die Luft immer knapper und dreckiger wird.

Tausendundeine Krise – ein System


Unsere Geschichte ist die Geschichte des Kapitalozäns – die Zuspitzung eines von Krisen, Kriegen und Katastrophen gezeichneten Systems. Es ist die Geschichte von Zerstörung und Gewalt im Namen von Macht und Profit. Einer Produktionsweise, die mit der Industrialisierung aufkam und in der Verwüstung unseres Planeten gipfelt. Das System, in dem wir leben, hat die Klimakrise erst hervorgebracht und ist der Motor, der sie immer weiter antreibt. Denn einen Kapitalismus ohne Expansion und Akkumulation kann es nicht geben. Insbesondere durch die Ausbeutung fossiler Ressourcen wird das geologische Gleichgewicht unseres Planeten immer weiter zerstört. 
Aber nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen werden gezwungen, sich dieser lebensfeindlichen Logik unterzuordnen. Während nur die wenigsten von diesem System profitieren, wird der Großteil der Menschheit nur noch von den leeren Versprechungen einer besseren Zukunft angetrieben – oder hat Angst, überhaupt eine Zukunft zu haben. Gefangen im trostlosen Alltagstrott geht der Blick für das große Ganze verloren, und wir lassen zu, dass wir mit zunehmender Geschwindigkeit auf den Abgrund zusteuern, einen Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. 
Doch seitdem das kapitalistische Wirtschaftssystem existiert, gibt es auch Menschen, die dieses System beharrlich infrage stellen, sich unermüdlich für eine gerechtere Welt einsetzen und damit an die vielen Kämpfe anschließen, die bereits vor ihnen geführt wurden. Mit diesen Menschen teilen wir eine gemeinsame Überzeugung, einen Funken Hoffnung: Dieses menschenfeindliche System, die Art und Weise, wie wir leben, ist menschengemacht – und darum auch veränderbar. Denn unsere Geschichte ist nicht nur die des Kapitalozäns, sie ist auch die Geschichte des Klassenkampfes.

Die Notbremse ziehen


Aus dieser Geschichte lernen wir und die Klimakrise führt uns das tagtäglich vor Augen, dass nur ein radikaler Bruch mit dem Bestehenden uns noch vor dem Sturz in den Abgrund bewahren kann. So läuft alles auf den fundamentalen Entscheidungsprozess hinaus: Schaffen wir es, ein ökologisches und somit auch soziales Desaster zu verhindern? Können wir mit der Ideologie des endlosen Wachstums und der Illusion eines gesellschaftlichen Wohlstands brechen, an dem doch nur die wenigsten teilhaben? Dafür müssen wir endlich die Notbremse ziehen und uns aus den Zwängen befreien, die uns in dieser Abwärtsspirale gefangen halten.
Der angeblichen Alternativlosigkeit des Kapitalismus setzen wir die Zukunftsvision einer radikal anderen Gesellschaft entgegen, einer Gesellschaft, die ein schönes Leben für alle und den Erhalt des Planeten in den Mittelpunkt stellt: einen demokratischen Ökosozialismus. Ziel der Produktion wäre nicht mehr der Profit für die Wenigen, sondern die Erfüllung der Wünsche und Bedürfnisse aller. Und das hieße auch, der Natur ausreichend Zeit und Raum zu geben, sich zu regenerieren. 
Doch die Welt verwandelt sich nicht ohne Weiteres in jene, die wir uns ausmalen. Vielmehr liegt es an uns, unsere Geschichte so zu verändern, dass sie nicht mit dem Kapitalozän als letztem Kapitel zu Ende geht.

Wir müssen viele werden


Alle Kämpfe, die wir bereits führen – Arbeitskämpfe, antirassistische, feministische und queere Kämpfe, Kämpfe um Reproduktion, soziale Kämpfe, antiimperialistische und Antikriegskämpfe –, sie alle werden durch die Klimakrise erschwert. Die ihnen zugrunde liegenden Konflikte werden sich noch weiter verschärfen. Darum reicht es nicht aus, sich mit einigen wenigen bequemen Reformen zufriedenzugeben oder das System etwas grüner anzustreichen. Wir müssen uns vor einem fatalen Gewöhnungsprozess hüten und davor, immer neue Verschiebungen dessen, was zumutbar ist, hinzunehmen. 
Radikale Veränderung erreichen wir aber nur, wenn wir viele sind. Denn unser Gegner ist riesig und erscheint allzu oft allmächtig. Aber so gigantisch der Kapitalismus in unseren Köpfen erscheinen mag und so sehr er unsere Produktionsweise bestimmt: Er ist nicht unbesiegbar. Wenn es uns gelingt, ausreichend politische Macht aufzubauen, können wir das bestehende System stürzen und eine ökosozialistische Gesellschaft errichten. Denn der Kapitalismus ist auf unsere Arbeitskraft angewiesen. Wenn wir sie ihm verweigern, greifen wir ihn in seinem Kern an.

Ein gemeinsames ökosozialistisches Projekt 


Es kommt also darauf an, möglichst viele Menschen hinter einem ökosozialistischen Projekt zu vereinen. Schließlich haben wir viel vor, und wir stehen noch ganz am Anfang. Aber überall auf der Welt wagen Menschen bereits die ersten Schritte: Als in Florenz in Reaktion auf zahlreiche Entlassungen ein Automobilzulieferwerk besetzt wurde, haben die Beschäftigten gemeinsam mit Fridays for Future für eine nachhaltigere Produktion und sichere Arbeitsplätze protestiert. In den USA kämpfte die indigene Bevölkerung, unterstützt von Naturschutzorganisationen und zivilgesellschaftlichen Bewegungen, jahrelang gegen den Bau der Dakota-Access-Pipeline, um ihre Landrechte und ihre Wasserversorgung zu sichern und um gegen die dreckige Energiepolitik der Regierung ein Zeichen zu setzen. In Indonesien haben Bewegungen ihre Abwehrkämpfe, die sich gegen großflächige Monokulturen und Enteignungen richten, mit dem Aufbau von alternativen Formen der Landwirtschaft und Forderungen nach Ernährungssouveränität verbunden. Und in über 30 deutschen Städten stritten Busfahrer*innen und Klimaaktivist*innen jüngst Seite an Seite um bessere Arbeitsbedingungen und einen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs.
Daran wollen wir anknüpfen, aber nicht dort stehenbleiben, sondern noch zwei, drei oder 500 Schritte voranschreiten: In der Autoindustrie geht es darum, eine breite Basis an Beschäftigten zu gewinnen, um sich gemeinsam für sichere Arbeitsplätze und zugleich eine Konversion der Branche einzusetzen: weg von der Produktion von Autos hin zur Herstellung von Bahnen und Bussen. Die Blockaden und Aktionen zivilen Ungehorsams, die bereits stattfinden, könnten sich viel zielgerichteter gegen Logistik und Infrastruktur richten, um einen Zusammenbruch der bereits zum Zerreißen gespannten Lieferketten schädlicher Produktionen herbeizuführen. Die Organisierung von Arbeitskämpfen entlang von Lieferketten würde nicht nur die globale Solidarität stärken, sondern würde auch die brutalen Arbeitsbedingungen der Menschen in den Fabriken, in der Landwirtschaft, im Transport und im Verkauf in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen rücken. Wenn also in jeder Tarifrunde nicht nur die Lohnhöhe, sondern auch die Art der Produktion zur Debatte steht, wenn bei einem Generalstreik fürs Klima die Schulen und Unis genauso wie die Unternehmen ihren Betrieb einstellen müssen, dann können wir durch unsere kollektive Macht eine tatsächliche Umstellung der Produktion erwirken.
All diese Auseinandersetzungen haben das Potenzial, die kapitalistische Gesellschaft ernsthaft infrage zu stellen – oder tun es bereits. Aber nur wenn sie aufeinander abgestimmt sind, an unzähligen Stellen gleichzeitig auf das System einwirken, Risse erzeugen und kontinuierlich Druck aufbauen, können sie das gesamte Kon-strukt zum Einsturz bringen.

Eine neue Generation


Niemand von uns weiß, wie viele Auseinandersetzungen noch vor uns liegen, bis es zu diesem Bruch kommt. Nicht jeder Kampf wird uns näher an die Zielgerade bringen. Manchen Kampf werden wir verlieren. Wir wissen nicht, wie viele Hindernisse uns in den Weg gelegt werden und welche neuen Verwerfungen der Selbsterhaltungstrieb des Kapitalismus hervorbringen wird. Aber um den Kapitalismus zu überwinden und die Klimakrise zu bekämpfen, gibt es keine Abkürzungen. Es wird unzählige Auseinandersetzungen brauchen – und ihr Ausgang wird von unserer Stärke, der kollektiven Kraft all jener Menschen, die etwas verändern wollen, abhängen.
Inzwischen hat eine neue Generation von Linken die Bühne der Geschichte betreten. Unsere Generation ist in einer Zeit tiefer Unsicherheit, einer bröckelnden Weltordnung und des drohenden Untergangs unseres Planeten aufgewachsen. Daher verwundert es wenig, dass sich immer mehr Menschen weigern, ein System zu unterstützen, das ihre und die Zukunft des Planeten verspielt – für Profite, die nie bei ihnen ankommen werden. Jahrzehntelang war ein Ende des Kapitalismus unvorstellbar, doch im Angesicht des wortwörtlich drohenden Endes der Welt wird die Forderung nach »System Change, not Climate Change« immer lauter – mit einer Dringlichkeit, die kein Zögern oder Zweifeln zulässt.

Zukunftsgeschichte schreiben


Die alte Ordnung geht unter – was an ihre Stelle treten wird, ist offen. Darum müssen wir uns ab morgen mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit und Konzentration in jene Auseinandersetzungen begeben, die in der Lage sind, die Kräfteverhältnisse real zu verschieben. Das erweitert nicht nur unseren Handlungsspielraum, sondern trägt auch zur Stärkung ­eines neuen Bewusstseins kollektiver Hand­lungsfähigkeit bei. Wurde der Menschheit der Glaube an die eigene Fähigkeit, die Welt verändern zu können, ausgetrieben, so wird er in den gemeinsamen Kämpfen zurückkehren und sich die neu entzündete Hoffnung wie ein Leuchtfeuer ausbreiten. Es ist Zeit, dass wir selbst unsere Geschichte schreiben. 
Schließlich geht es um unsere Zukunft, um die Zukunft des Planeten und um die Zukunft aller, die noch auf ihm leben werden. Das ist viel Verantwortung, viel steht auf dem Spiel und viel ist zu verlieren – aber umso mehr haben wir auch zu gewinnen. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Welt veränderbar ist – und wir sind am Zug. Es liegt in unserer Hand, die Regeln des gesamten Spiels neu zu bestimmen, die Notbremse zu ziehen und die Fahrt Richtung Abgrund zu stoppen. Mit viel Kraft, Mut und neuen Ideen wollen wir das Alte hinter uns lassen, den Beginn einer neuen Geschichte schreiben und in eine für uns alle bessere Zukunft aufbrechen.