Man stelle sich einen Klimastreik vor, bei dem 40.000 Fabrikarbeiter*innen, Klimaaktivist*innen, Friedensbewegte und politisch Unorganisierte zusammentreffen. In ihren Reden skandalisieren sie die Schließung eines Autozulieferer-Betriebes. Alle sind sich einig, dass man eine Konversion des Betriebes statt Entlassungen braucht. Im vordersten Block laufen die Arbeiter*innen der betroffenen Fabrik, hinter ihnen Massen von kämpferischen Klimaaktivist*innen und spontanen Demobesucher*innen. Die Beschäftigten des Werkes schließen sich mit Wissenschaftler*innen zusammen, um einen Konversionsplan zu entwickeln. Abgeleitet aus ihren Fähigkeiten und den neuesten umweltwissenschaftlichen Erkenntnissen entsteht die Vision, von nun an Bestandteile für wasserstoffbetriebene Busse herzustellen. Immer mehr Menschen sind sich einig: Eine Produktion für die Menschen, nicht für die Profite muss her!
Diese Vision, die am Ende eines ökosozialistischen Manifestes stehen könnte, ist im letzten Jahr in der Toskana Realität geworden. Nachdem die 422 Festangestellten und ca. 80 Leiharbeiter*innen des Automobilzulieferers GKN Driveline am 9. Juli 2021 per E-Mail mitgeteilt bekamen, dass sie am kommenden Montag nicht mehr zur Arbeit erscheinen sollten, besetzten sie ihr Werk in Campi Bisenzio, einem Vorort von Florenz. Strategisches Zentrum der Besetzung und der um sie herum entstandenen Mobilisierungswelle ist das Fabrikkollektiv Collettivo di Fabbrica GKN, das autonom, aber eng verbunden mit den offiziellen Gewerkschaftsstrukturen agiert. Die Mehrheit der gut 500 Arbeiter*innen inklusive der in der CGIL-FIOM[1] organisierten Betriebsräte verstehen sich als Teil des Kollektivs, das sich außerhalb der Arbeitszeiten trifft.
GKN ist ein Automobilzulieferer mit mehr als 50 Produktionsstätten auf der ganzen Welt. Bis zum Produktionsstopp im Sommer 2021 wurden im Werk in Campi Bisenzio hauptsächlich Achswellen für Fiat (Ducato), Maserati und Ferrari hergestellt. Die Inhaber des Werkes haben in den vergangenen Jahrzehnten stetig gewechselt. Einst im Besitz von Fiat, wurde das Werk im Jahr 1994 von dem Unternehmen GKN erworben, das wiederum 2018 vom britischen Investmentfonds Melrose Industries für 8 Mrd. aufgekauft wurde. Nur drei Jahre später verkündete die Geschäftsführung nun die Schließung des Werks in Campi Bisenzio und die Entlassung der gesamten Belegschaft.[2] Der Grund ist keineswegs eine Krise des Unternehmens. Unmittelbar vor der Schließung wurde noch in hochwertige Roboter investiert, die bis heute eingeschweißt im besetzten Werk stehen (vgl. Cini u. a. 2022, 5). Es handelt sich bei der Schließung vielmehr um einen „Teil des Prozesses der Finanzialisierung von Unternehmen und der spekulativen Prinzipien des Shareholder-Kapitalismus“ (ebd., Übers. d. Verf.): Das einzelne Werk wird einer profitorientierten Re-Strukturierung der Wertschöpfungskette geopfert und die Produktion ins Ausland verlagert. Das Motto von Melrose Industries „Buy, Improve, Sell“ (Melrose Industries PLC 2022) lässt diesbezüglich keinen Zweifel zu. Zudem ist die Schließung als „Teil eines allgemeinen Trends zur Zerschlagung des italienischen Automobilsektors“ (ebd.) zu verstehen.
Noch am Tag der Schließung besetzten einige Arbeiter*innen das Werk und begannen eine permanente Versammlung. In den kommenden Tagen schloss sich die Mehrheit der Belegschaft der Besetzung an (vgl. Radio Corax 2021). Dadurch will das Kollektiv die Unternehmensleitung bis heute daran hindern, das Werk zu leeren und die Maschinen und die gelagerten Achswellen abzuführen. Das Kollektiv beschloss zudem, die Fabriktore für Unterstützer*innen und Interessierte zu öffnen und von nun an systematisch politischen Druck gegen die eigene sowie alle folgenden Entlassungen aufzubauen. Dadurch erkämpften sie sich ein Transformationskurzarbeitergeld, das ihnen vom Staat seit Januar 2022 gezahlt wird. Seither gibt es monatlich Krisengespräche zwischen dem Fabrikkollektiv, dem Entwicklungsministerium, der Region Toskana, der Gemeinde Florenz und dem neuen Besitzer der Fabrik, Francesco Borgomeo. Dieser kaufte die Fabrik am 23. Dezember 2021 und verpflichtete sich dazu, innerhalb eines halben Jahres einen Plan für eine neue Produktion in der Fabrik zu entwickeln. Trotz dessen begann das Kollektiv seinen Kampf auf die gesamte Region auszuweiten, da es von Anfang an davon ausging, dass Borgomeo lediglich als Strohmann im Rahmen der Abwicklung des Unternehmens fungieren würde.
„Insorgiamo“ – die Arbeiter*innen gehen auf Tour
Zehn Tage nach der Besetzung rief die FIOM zu einem vierstündigen Streik in der Metallindustrie in der Provinz Florenz auf. Streikende Arbeiter*innen in der Logistikbranche (Text-Sprint, Fedex) und im Textilbereich (Prato), soziale Zentren und ökologische Landwirtschaftsverbände bis hin zu tausenden von empörten Bürger*innen solidarisierten sich mit der Besetzung (vgl. Labournet 2021). Es folgten eine Reihe großer Demonstrationen, wie etwa am 11. August, dem Tag der Befreiung vom Faschismus in Florenz. Das Motto der Demonstrationen, Insorgiamo con i lavoratori GKN ("Wir erheben uns mit den GKN-Arbeitern"), verweist auf den florentinischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Als Friday For Future (FFF) Italien anlässlich des G20-Gipfels in Rom am 30. Oktober zum Gegenprotest aufrief, bespielte das Fabrikkollektiv von GKN einen ganzen Block des sehr bunten Demozuges. Es war die erste gemeinsame Aktion der jungen Klimabewegung mit dem Fabrikkollektiv. Im Laufe des Jahres sind ökologischer und betrieblicher Kampf immer mehr verschmolzen.
Doch wie kam es, dass die Schließung eines Werkes zur Mobilisierung einer ganzen Region führte? Und wie konnte hier das sogenannte jobs vs. environment dilemma (Räthzel und Uzzell 2011) überwunden werden, der Widerspruch zwischen Arbeitsplatzerhalt und ökologischen Umbau, der die Klima- und die Arbeiter*innenbewegung derzeit „normalerweise“ spaltet? Der ökologische Klassenkampf, der seit eineinhalb Jahren in der Toskana geführt wird, ist nicht vom Himmel gefallen. Seine Ursprünge liegen einerseits in der kontinuierlichen Gewerkschaftsarbeit im Betrieb und der unermüdlichen Bündnisarbeit des Fabrikkollektivs vor und nach der Werkschließung. Das wurde nicht zuletzt während der Insorgiamo-Tour sichtbar: Das Fabrikkollektiv besuchte Belegschaften, soziale Zentren und Umweltorganisationen in ganz Italien, um ihren Kampf zu verbreiten. Der andere Grund ist die gemeinsame Suche der Klimaaktivist*innen von Fridays For Future und des Kollektivs nach sozialen und ökologischen Forderungen. Aus einer Haltung heraus, die das Gemeinsame sucht und findet.
Gewerkschaftliche Beteiligung als Waffe
Gäbe es ein Collettivo di Fabbrica-Rezept für den Aufbau eines ökologischen Klassenkampfes, es wäre laut den Arbeitern eine maximale gewerkschaftliche Beteiligung (vgl. Longo 2021). Der Entstehungsprozess des Kollektivs zog sich über mehr als zehn Jahre und wurde im Jahr 2007 von einer heftigen Auseinandersetzung zwischen der Belegschaft und der FIOM eingeleitet. Die Unternehmensleitung beabsichtigte eine Reform des Schichtsystems, der die damaligen Betriebsräte der FIOM[3] ohne weiteres zustimmten. Hinzu kam im Jahr 2018 die Übernahme des Werks durch Melrose Industries: „Da sich die neue Unternehmensleitung gar nicht um die Qualität der Arbeitsabläufe und den Arbeitsschutz scherte, mussten wir unsere Gegenmacht aufbauen“, erklärte der Betriebsrat Dario Salvetti im Juli 2021 (ebd.). Aufgrund der Enttäuschung von der eigenen Gewerkschaft und der Gleichgültigkeit der neuen Leitung begann ein Großteil der betrieblich Aktiven damit, ein partizipatives Gewerkschaftsmodell zu entwickeln (vgl. Radio Corax 2021). Letzteres materialisierte sich im Jahr 2018 in der Gründung des Collettivo di Fabbrica, einer organisatorisch flachen und offenen Struktur, die Betriebsräte, gewerkschaftlich Aktive, unorganisierte Arbeiter*innen und externe Unterstützer*innen vereint. Außerdem wirken die sogenannten Verbindungsdelegierten (italienisch: delegati di raccordo) am Fabrikkollektiv mit.
Die Verbindungsdelegierten wurden kurz nach der Übernahme von Melrose eingeführt. Die Unternehmensleitung hatte ursprünglich die Absicht, in den einzelnen Bereichen Teamleader einzuführen. Diese wären die Ansprechpersonen bei Fragen zum Arbeitsvertrag oder zu Urlaubstagen gewesen. Der Betriebsrat lehnte die Einführung von Teamleadern jedoch ab, da sie erfahrungsgemäß die gewerkschaftliche Arbeit im Betrieb schwächen. Nach langen Verhandlungen wurde die Einführung der Verbindungsdelegierten vereinbart. Aus Sicht des Kollektivs sind sie für den Machtaufbau im Betrieb von zentraler Bedeutung, da sie als Scharnier zwischen dem Betriebsrat und dem Rest der Belegschaft fungieren. Sie werden jedes Jahr von der Arbeiterversammlung[4] neu gewählt, so dass jede*r Beschäftigte die gewerkschaftlichen Strukturen von innen kennenlernen kann, ohne zwangsläufig Gewerkschaftsmitglied zu sein. Da die Verbindungsdelegierten nicht freigestellt sind (für ihre Arbeit sind nur drei Stunden pro Monat vorhergesehen), teilen sie weiterhin ihren Alltag mit den Kollegen und tragen die Erfahrungen und Probleme aus allen Abteilungen im Kollektiv zusammen.
Laut den Arbeitern führte die Einführung der Verbindungsdelegierten zu einer enormen Demokratisierung der gewerkschaftlichen Arbeit. Denn das Wissen aus allen Abteilungen floss nach jeder Schicht und teilweise auch bei Wochenendtreffen zusammen und war die Grundlage der Entscheidungen der Betriebsräte.[5] Diese Struktur ermöglichte es, auf die plötzliche Werkschließung mit einer von fast allen Arbeiter getragenen Besetzung zu reagieren.
Die Praxis des Fabrikkollektivs ist als Fortführung einer italienischen Tradition des Klassenkampfes zu verstehen, die sich Ende der 1960er und während der ganzen 1970er Jahren in den Fiat-Werken zeigt. In dieser Zeit entwickelten die Arbeiter*innen bereits möglichst demokratische und von vielen getragene Betriebsratsstrukturen, an denen sich das Collettivo di Fabbrica orientierte (vgl. Longo 2021). Auch die Haltung, dass der Klassenkampf nicht an den Betriebstoren aufhört, sondern sich in Form von Solidarität mit anderen Belegschaften und Initiativen ausdehnt, wurzelt in den stürmischen Auseinandersetzungen jener Zeit (vgl. Noce 2021). Für das Fabrikkollektiv war es in diesem Sinne naheliegend im Herbst 2021 auf Fridays for Future als größte Jugendbewegung zuzugehen, um über gemeinsame Perspektiven zu diskutieren.