Vor kurzem begann Russland, direkt in den Krieg in Syrien zu intervenieren. So droht der Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Iran auf der einen und den Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien auf der anderen Seite in einen veritablen Krieg umzuschlagen. Die USA, die ohnehin in den letzten vierzehn Jahren die Kontrolle über ihre „Siege“ verloren haben, würden es lieber bei einem Stellvertreterkrieg belassen. Nun ist nicht absehbar, wie lange sie den russischen Vorstoß zulassen können, wie weit die Kooperation trägt, oder doch Interessengegensätze aufeinander prallen. Russland, dem lange eine Hauptrolle im Nahen Osten, verwehrt geblieben war, bringt sich aggressiv in die Gleichung ein. Ein recht eigentümlicher Kapitalismus, der keine Hoffnung auf eine, mit dem Westen vergleichbare stabile Entwicklung mehr hat, treibt die Einsätze hoch. Es ist nicht nur die russische Seite, die die Situation in Richtung eines totalen Krieges zerrt. Auch die Saudis und Kataris sind, während sie sich im Jemen offenbar gut amüsieren, sind begierig im das Spiel um Syrien mitzutun, und sie ziehen die Türkei mit sich. Doch alle gemeinsam irren sich, wenn sie glauben, in diesem von der ganzen Welt geplünderten Land gäbe es noch etwas zu gewinnen.
Selbst wenn die russischen Angriffe den IS entscheidend schwächen können, wird dies die Krise nur verschleppen und verzögern. Es gibt bereits Berichte, dass von russischer Seite geschlagene Dschihadisten in ihre Heimatländer zurückkehren. Sie mögen die nächste Zeit als Schläfer-Zellen ruhen, doch werden sie das Blutvergießen in der Region (und darüber hinaus) weiter ausdehnen, am wahrscheinlichsten beginnend mit der Türkei. Nicht nur in Syrien: Während der Ausbruch der dritten Intifada als ein der israelischen Besatzung inhärenter Prozess erscheint, drücken die jüngsten Attacken die umfassende Verzweiflung aus, die die ganze Region niederdrückt - und sie reproduzieren sie auch. Da die Besatzung - und ihre internationalen Verbündeten - alles begrub oder marginalisierte, was von linksnationalistischem oder islamistischem Widerstand noch geblieben war, können sich nur noch hoffnungslose und selbstmörderische Akte ausbreiten, was diese Phase definitiv von den ersten beiden Intifadas unterscheidet. Die ansteigende Aggressivität der Regime ebenso wie der nun “führerlose” und ohne jede Ideologie existierende Widerstand werden die Region wahrscheinlich immer weiter in einen allumfassenden Krieg stürzen. Dieser wäre für alle Seiten des Konflikts selbstzerstörerisch.
Die Morgenröte des neo-faschistischen Salafismus
Möglicherweise kann die jetzt durch Russlands Intervention aufgebrochene Krise abgewendet werden (durch kluge Diplomatie und vielleicht ein paar bedrohliche Schritte). Derzeit scheint Putins Ziel kein allumfassender Krieg zu sein, sondern eher die Sicherung ein paar befriedigender Gewinne in der turbulenten Region. Doch die langfristigen Trends und sozialen Dynamiken, die auf einen umfassenden Krieg über die Grenzen Syriens und des Iraks zutreiben, sind schwerer zu kontrollieren. Die grundlegendste dieser Dynamiken ist die globale Metamorphose des Islamismus zu Salafi-Dschihadismus. Nachdem sich alle Hoffnungen in die 'Islamische Revolution' - wie vom Iran repräsentiert - und den 'Islamischen Liberalismus' - wie von der Türkei repräsentiert - erschöpft haben, ist der extrem rechte, konservative Islam - Saudi-Arabien und seine Satelliten - als letztes funktionierendes Modell in der muslimischen Welt übrig. Doch die Golfregime sind ihrerseits unfähig, ihr Modell - in irgendeiner sinnvollen Bedeutung des Begriffs – zu exportieren; auch sie werden von der einzig effektiven, lebendigen, führenden Kraft im Islam - den salafistischen Dschihadisten – in die Selbstzerstörung gedrängt. Die salafistisch-dschihadistische Mobilisierung hat zum Spanischen Bürgerkrieg des 21. Jahrhunderts geführt: dem Krieg in Nordsyrien (Westkurdistan oder Rojava).
In dieser umgekehrten Version jener Tragödie haben eher die Salafi-Dschihadisten als die Linke die internationalen Massen angezogen. Der Hype um das „Ende der Ideologie“, diese unverantwortliche Festivalisierung des Verlustes jeglicher Hoffnung in kollektive Anliegen, hat schließlich begonnen, die von Konservativen so hoch geschätzte Stabilität und Ordnung selbst heimzusuchen. Das Drama: Anders als zu Zeiten des Spanischen Bürgerkriegs, existiert keine einzige Idee, die Leute in großer Zahl dazu bewegen würde, ihr Leben im Kampf gegen den Faschismus zu riskieren. Doch niemand im globalen mainstream hat offen Partei für die Revolution in Rohjava und den Kampf der Kurd_innen ergriffen. Es gibt - abgesehen von der taktischen Luftunterstützung der USA - keine internationale politische Unterstützung, obwohl die YPG und PKK die einzigen sind, die Terraingewinne gegen den IS erzielen. Ideologisch bleibt die „Revolution in Rojava“ auf den Norden Syriens beschränkt. Mit dem globalen Anspruch des Salafi-Dschihadismus kann sie es nicht aufnehmen. Zuvor hatten die Sowjetunion und China die kollektiven Hoffnungen der Menschheit verschleudert. Die Unternehmerklassen (gemeinsam mit ihren Regimen und Zivilgesellschaften) treiben seit langem aktiv jede Form von Kollektivismus ab. Doch auch die globalen Intellektuellen haben mit Zynismus ihren Anteil am Ende aller Hoffnungen. Während rechte und gemäßigte Intellektuelle erwartbar auf kollektiven Hoffnungen herumtrampelten, ergingen sich viele Linke in gelassener „Dekonstruktion“. Doch ist eben nicht gelungen, das Ende der Ideologie an sich herbeizuführen: Der Salafismus kann offensichtlich vielen den Antrieb geben, für eine Sache zu kämpfen und zu sterben. Derzeit ist offen, ob die Neue Rechte im Westen ihrerseits in der Lage sein wird, ideologische Ressourcen aufzubauen, um sich mit ihren Brüdern im Geiste messen zu können.
Faschismus in der Türkei
Die zweite wichtige Dynamik, die die erste zusätzlich befeuert, ist das Aufkommen eines faschistischen Regimes in der Türkei. Ohne dessen Auftauchen bliebe das salafi-dschihadistische Revival eine beschränkte Kraft. Das neue türkische Regime hat die Krieger nicht nur unterstützt und bewaffnet, sondern befähigt sie auch, den Krieg in die ganze Region hinauszutragen, womöglich in die ganze Welt. Die Kosten eines faschistischen Regimes in einem der schwachen Glieder der imperialistischen Kette sollten nicht unterschätzt werden. Die imperialen Hoffnungen Italiens und Deutschlands waren Teilauslöser des Zweiten Weltkriegs. Faschistische Bewegungen und Regime führen zu Krisen, die nicht innerhalb der Grenzen einzelner Staaten gelöst werden können. Die imperialen Frustrationen der Türkei in Syrien versprechen, ebenso desaströs auszugehen. Als in der Türkei ein islamistisch gewendeter, faschistischer Mob im Jahr 2013 den Wunsch skandierte, die Protestierenden von Gezi zu zerschmettern, nahm sie niemand wirklich ernst. Doch dieser Mob, durch die Ausbreitung des IS ermutigt, ergeht sich im Jahr 2015 in immer weiter ausgedehnten proto-faschistischen Aktionen: massenhafte Brandanschläge auf Gebäude der Oppositionspartei(en) - vor allem der HDP -, während derer Hunderte mit nationalistischen und islamistischen Slogans aufmarschieren; massenhafte Attacken gegen kurdische Aktivist_innen und andere Oppositionelle; Ermordung von kurdischen und linken Aktivist_innen.
Beispielhaft sind Ereignisse wie in der Stadt Konya: tausende Fußballfans riefen Sprechchöre, mit denen sie das blutige Massaker gegen die Friedenskundgebung vom 10. Oktober in Ankara billigten. Ein zuvor verübtes Massaker im Grenzort Suruç hatte nach über 10 Jahren den Bürgerkrieg in Südosten der Türkei wieder entfacht. Das Regime schürt durch Anstachelung gewalttätiger Massenmobilisierung auch in der Westtürkei bewusst die Atmosphäre eines Bürgerkrieges: nicht nur zwischen sich und den Kurd_innen, sondern auch zwischen sich und jeglicher Opposition. Die größten Teile der Opposition haben bisher dieser Einladung widerstanden. Doch das Regime und seine Paramilitärs werden weiter Oppositionelle verfolgen und töten (lassen), unabhängig davon, ob die Opposition zu den Waffen greift oder nicht. Das Regime will der Opposition nur zwei Möglichkeiten lassen: Verstummen oder Bürgerkrieg. Jede dieser beiden Situationen wird es zur weiteren Militarisierung des gesamten Nahen Ostens nutzen. Aus eben diesem Grund haben einige Linke damit begonnen, ihrerseits zum Bürgerkrieg aufzurufen. Ein kürzlich erschienener Artikel hat beispielsweise argumentiert, das der Friedensaktivismus - sowohl der im weiteren Sinne friedliche Aktivismus als auch ziviler Ungehorsam - in der Türkei sein Limit erreicht habe. Doch angesichts der massiven und internationalen Unterstützung des Regimes als „Garanten der Stabilität“ würden die Linken einen solchen Krieg ganz sicher verlieren.
Assistierte Staatsgründung des IS
Das scheiterten des US-amerikanischem Imperialismus und das Aufkommen eines realen, faschistischen Regimes in der Türkei haben dem Salafi-Dschihadismus, der selbst unter Salafisten eine Minderheitenposition gewesen war, ertüchtigt. Den USA schien er zunächst nützlich, um Kriege gegen den Kommunismus zu gewinnen. Wie jedoch Afghanistan gezeigt hat, vermochten es die Salafi-Dschihadisten nicht einmal, die gewonnenen Territorien militärisch zu halten. Das Aufkommen von Al-Kaida verschärfte diese Stärken und Schwächen noch zusätzlich. Salafistischer Dschihadismus schien eher die Ideologie einsamer, isolierter Helden zu sein als die der Massen. Das heißt nicht, dass er irrelevant gewesen wäre. Vielmehr handelt es sich um eine globale Bewegung. Salafi-Dschihadismus ist eine Form, in der gebildete, westliche bzw. verwestlichte und qualifizierte Leute ihre „Besonderheit“ geltend machen, wenn sie mit einem Kapitalismus konfrontiert sind, der sie weniger und weniger respektiert. Es gibt eine frappante Ähnlichkeit zwischen den vernetzten, mehr zellen- als massenbasierten Mobilisierungsstrukturen des Anarchismus nach 1968 und denen des Salafi-Dschihadismus (und auch zwischen einigen der von beiden Rekrutierten). Diese individualistische, fast anti-autoritäre Exklusivität wurde nach dem Staatskollaps im Irak abgeschwächt, als einige hochrangige Generäle und Truppenteile sich den Reihen der Salafi-Dschihadisten anschlossen. Die US-amerikanische Invasion von 2003 ist der reale Wendepunkt für die Geschichte des Islamismus. Der gescheiterte Versuch, die Landkarte des Nahen Osten neu zu zeichnen, löste Dynamiken aus, die womöglich iWeltkarten eine neues Gesicht zeichnen werden.
Als George W. Bush erklärte, er befände sich im Krieg mit den “Islamofaschisten”, gab es in Wirklichkeit keine. Sein vermeintlich größter Feind, Osama bin Laden, hatte weder das Kaliber, die Massen zu mobilisieren, noch ein Regime zu errichten. Es ist zweifelhaft, ob dieser überhaupt den Wunsch danach hatte. Faschisten, wenn wir den Ausdruck korrekt statt sensationell gebrauchen wollen, sind definiert durch ihre Fähigkeit, beides tun zu können. Faschismus ist die richtige Bezeichnung für den massenmobilisierenden und staatsbildenden Teil der radikalen Rechten; wir können – oder sollten – den Begriff nicht für alle Versionen des rechten Randes gebrauchen (andernfalls träfe er auch auf Bush selbst zu). Abspaltungen von Al-Kaida begannen erst damit, diese Fähigkeit und sogar den Wunsch zu kultivieren, nachdem sie vom türkischen Regime angesprochen worden waren, und nachdem sie im Scheitern der Regime im Irak und in Syrien ein Vakuum füllen konnten. Erst mit dem Aufstieg der Türkei und dem Fall ihrer Nachbarn wurden die Salafi-Dschihadisten zu Massenmobilisierern und Staatsgründern. Heute ist der IS nicht nur in der Lage, Territorien zu halten, er vermag es sogar, die Anfänge eines Wohlfahrtsstaates zu errichten. Sicherlich, Kapazität zur Staatsgründung heißt nicht notwendigerweise Hegemonie (die Führung von Muslimen, beruhend auf ihrer bereitwilligen Zustimmung). Bis zu einem gewissen Punkt schien es, dass der IS allein durch Furcht und Kontrolle regiere. Doch diese Sicht war trügerisch angesichts des früh beginnenden Jubels irakischer und türkischer Führer, die ihn als den Aufstand der sunnitischen Muslime gegen den schiitischen Islam sahen. Aber konnte dies wirklich über eine vage Sympathie, beruhend auf geteiltem Hass gegen die Muslime der Shi‘a, (im Gegensatz zum sunnitischen Islam) hinausgehen? Würde nicht der extreme Puritanismus der Salafisten schließlich zur Abwendung der Mehrheit der Muslime führen, gerade in der sufistisch dominierten Türkei?
Ideologische Synthese von Gegensätzen
Die Sprechchöre für IS-Bomben in Konya sind ein solider Indikator dafür, dass diese Grenze durchbrochen ist. Die Islamisten von Konya, einer in der westlichen Vorstellung mit dem Sufismus Mevlâna Celaladdin Rumis assoziierten Stadt, haben kein Problem mit Feinden des Sufismus, solange diese sich nur gegen die Feinde des türkischen Regimes richten. Die ideologischen Konturen des entstehenden faschistischen Salafismus sind derzeit nicht klar umrissen, doch scheint sicher, dass die Türkei einen Weg finden wird, die europäische faschistische Tradition, den „toleranten“ anatolischen Islam und den salafistischen Dschihadismus zu synthetisieren. Eben genau diese Konfiguration mag ihre Reise durch die muslimische Welt nicht ohne Transformation machen, doch was sie dem salafistischen Dschihadismus verspricht, ist zum ersten Mal in seiner Geschichte eine massenhafte Gefolgschaft. Ebenso bezeichnend ist das Vermögen des IS, sich in einer kleineren türkischen Stadt namens Adıyaman zu organisieren. Wie die meisten anatolischen Zentralregionen ist Adıyaman recht konservativ. Es gibt dort eine beachtliche alevitische Minderheit, ebenso wie in manchen anderen Regionen. Islamisten waren hier nie so stark wie sie es in Konya waren. Am ehesten charakteristisch für Adıyaman ist die Nakshibendi-Gemeinde (Menzil), die sich von hier aus in den Rest der Türkei hinein ausgebreitet hat. Als eine der populärsten sufistischen Gemeinschaften der Türkei hatte Menzil eine solch starke spirituelle Aura, dass Kolonnen von Bussen alkoholtrinkende Gläubige aus den großen türkischen Städten nach Adıyaman brachten, um den dortigen Scheich zu sehen. Der Glaube war verbreitet, dass eine spirituelle Verbindung mit ihm (die sufistische rabita) durch ein Gespräch Auge in Auge die Seele, den Verstand und den Körper vom Alkohol reinigen würde.
Dieses Vertrauen in die Person des Sufi-Scheichs ist exakt das, was die Salafisten als anti-islamischen Götzendienst begreifen. Überdies spricht Menzil üblicherweise Konservative, Faschisten und Ex-Faschisten an, anstatt sich mit Islamismus oder Radikalismus zu assoziieren. Die Ausbreitung des salafistischen Dschihadismus in Adıyaman - einer Sufi-Bastion, die gleichermaßen eine ethnizistisch-nationalistische Festung ist — ist daher eine überraschende Entwicklung. Transnationalismus und Anti-Sufismus, nachgerade lehrbuchmäßige Komponenten des Salafismus, scheinen hier in einer neuen Synthese „aufgehoben“ zu sein, in der bestimmte Dosen von Nationalismus und Sufismus akzeptabel geworden sind. Wenn der IS in der Lage war, den salafistischen Dschihadismus in Adıyaman zu organisieren, zu popularisieren und zu verbreiten, dann kann er es an jedem anderen Ort. Der sogenannte türkische Islam mit seiner angeblichen Toleranz und Moderatheit hat den IS hier nicht stoppen können, und er wird ihn auch anderswo nicht stoppen. Wie konnte der neofaschistische Salafismus in der Türkei diese ideologische Anziehungskraft erreichen? Ist dies von Dauer? Die Türkei hat eine tief verwurzelte faschistische Tradition, direkt inspiriert aus dem europäischen Faschismus und Nazismus (wenn auch ebenso lose dem Islam und anderen lokalen Traditionen verbunden). Eben weil sie das am meisten verwestlichte Land in der Region ist, überragt ihre faschistische Tradition (wenn auch nur die Ideologie einer Minderheit) alle Entsprechungen im Nahen Osten. Das relative Stillhalten der nationalistischen rechten mainstream-Partei in den letzten drei Dekaden (im Unterschied zu ihrer erfolgreichen Militanz in den 1960er und 1970er Jahren), der Krieg der salafistischen Dschihadisten mit den Kurden, zuletzt der Gebrauch nationalistischer Töne durch die regierende islamische Partei - all dies brachte während der letzten Jahre eine Durchsetzung der islamistischen Ränge mit türkischen Faschisten mit sich.
Diese Entwicklung könnte eine bleibende Amalgamierung bedeuten (so wie die scheinbar solide, wenn auch letztendlich vergängliche Verschmelzung von Islamisten und Liberalen in den 2000er Jahren). Sie hat bereits begonnen, die Türkei in der Tiefe zu transformieren. Faschisten konnten in der Türkei nie aus eigener Kraft an die Macht kommen, doch das islamische Regime und die umfassende Salafisierung haben ermöglicht, dass ihre Kader, Ideen und Methoden zum mainstream wurden. Noch immer ist es vorstellbar - wenn auch unwahrscheinlich -, dass die Weltmächte gemeinsam intervenieren und den IS von der Karte tilgen. Wenig wahrscheinlich ist allerdings, dass sie die hier genannten sozialen Dynamiken umkehren können. Die salafistischen Dschihadisten haben nicht nur gelernt, wie sich eine ernsthafte Staatsgründung vorantreiben lässt, sie arbeiten auch am Aufbau von Visionen, die eine breite muslimische Masse in Bewegung versetzen können. Nicht länger beschränkt auf die Che Guevaras des Islam, zeigen ihre massenhafte Gefolgschaft wie ihre erreichte Führung eine tiefgreifende kulturelle und politische Transformation der muslimischen Welt an. Die Konsolidierung des neuen faschistischen Regimes in der Türkei ist indes eine Vorbedingung für eine langfristige, anhaltende Transformation des Salafi-Dschihadismus in eine vollwertige, globale faschistische Bewegung. Insofern ist die Verhinderung einer weiteren Verfestigung des Regimes in der Türkei notwendig. Was kann die totale Faschisierung der Türkei stoppen? Aufrufe zu westlicher Vermittlung führen nicht weiter. Westliche Regierungen haben die derzeitige Situation produziert.
Ebenso wie der liberale und konservative Westen dem Aufstieg der Nazis an die Macht zuschaute (und von Zeit zu Zeit mit ihnen kooperierte), werden westliche Regierungen mit diesem Regime solange zusammenarbeiten, bis es den totalen Krieg beginnt. Während die Situation immer mörderischer wird, werden westliche Führungen die Hände heben und fragen: "Was können wir schon tun?" Eben das ist der Punkt. Es gibt nichts, was sie (als diejenigen, die mit diesen Regimen kooperierten und in einigen Fällen deren Entstehung unterstützten) tun könnten. Nichts anderes als echte Machtveränderungen, ein 'regime change' innerhalb der erstrangigen Weltmächte würde eine bedeutsame Revision in deren Nahostpolitik zulassen. Dessen ungeachtet, die Konsequenzen einer totalen Faschisierung werden so schrecklich sein, dass jede Handlung, diese Entwicklung zu verlangsamen, willkommen zu heißen ist. Doch sollte uns klar sein, dass aus dem westlichen mainstream, stets ein Hauptakteur der hier benannten Trends, nicht viel Hilfe kommen wird. Dies ist kein banales, nach innen gerichtetes Argument hinsichtlich der Notwendigkeit, sich eher auf lokale als auf ”äußerliche” Dynamiken zu beziehen, insofern die Lösung - dem Problem entsprechend - nicht anders als transnational sein kann (mit dauerhaften lokalen and nationalen Verbindungen). Vielmehr ist dies eine dringliche Erinnerung an die Verantwortung des Westens für die Situation, und an die vollständige Unfähigkeit seiner Regime, sie zu überwinden.
Ein Krieg, in dem alle verlieren
Wenn sich die oppositionellen Bewegungen und Organisationen in der Region ihre Orientierungen und Methoden nicht einer grundlegenden Revision unterziehen, können weder Krieg noch Frieden gewonnen werden. In einem umfassenden Krieg würden alle verlieren. Es gäbe nur wenige Sieger. Die Kurd_innen könnten zu diesen gehören. Nach über einem Jahrhundert sind sie nun an einem Punkt ihre Selbständigkeit zu konsolidieren. Doch die Staatlichkeit, die sie innerhalb einer solchen Hölle bilden würden, wäre nicht mit Frieden und Wohlstand gesegnet. Die salafistischen Dschihadisten werden sehr wahrscheinlich noch mehr Einfluss in der muslimischen Welt erlangen und womöglich langfristig stabile Staaten bilden. Allerdings, sofern ihre Leistung in Syrien als Indikator gelten kann, würden ihre extrem autoritären Staaten die Islamophobie in der Welt nur noch mehr steigern (und wahrscheinlich würden sie zu Massenkonversionen von Muslimen zu anderen Religionen, Agnostizismus und Atheismus führen). Ungeachtet der Voraussagen, dass sie sich unausweichlich normalisieren würden - so wie die iranische Revolution und der Wahhabismus des 19. Jahrhunderts es taten, als sie sich in staatlicher Form konsolidierten -, ist es bei den salafistischen Dschihadisten sehr viel wahrscheinlicher, dass sie im Verlauf eines allumfassenden Krieges den Kollaps der Weltordnung auslösen würden, der sich bereits ankündigt. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg, werden die westlichen Machtzentren nicht in der Lage sein, das Ergebnis zu kontrollieren. Sie haben ihre Kontrollkapazität eine Dekade zuvor verloren. In den kommenden Jahren Hoffnung und Kollektivismus wieder aufzubauen, könnte das Schicksal der Region verändern, selbst wenn der kommende Krieg den Nahen Osten in Trümmer legt. Es wäre allein unsere Schuld, wenn nach der herannahenden Katastrophe der salafistische Dschihadismus als Seele einer seelenlosen Welt allein zurückbliebe.
Aus dem Englischen von Corinna Trogisch und Mario Candeias.