Auch andere Mittel des EU-Haushalts werden zunehmend für militärische Belange eingesetzt. Allein im Rahmen der Connecting Europe Facility (CEF) sollen 6,5 Milliarden Euro in Infrastrukturmaßnahmen investiert werden, um Straßen und Brücken vor allem in Osteuropa panzertauglich zu machen. Hintergrund ist die Überlegung, schweres militärisches Gerät schnell an die russische Grenze bringen zu können. Parallel zu diesen milliardenschweren Militärausgaben, die zu den nationalen Verteidigungshaushalten hinzukommen, werden auf der anderen Seite Kürzungen bei den Kohäsionsfonds durchgesetzt. Diese Fonds haben das Ziel, die Ungleichheiten zwischen den Regionen innerhalb der EU zu reduzieren. Dies ist kein Zufall und spricht für sich. Denn die Ambitionen, die militärische Schlagkraft auszubauen, werden ausgerechnet in einer Zeit dominant, in der die Krisenhaftigkeit der aktuellen Form der europäischen Integration und die entsprechenden Zentrifugalkräfte immer deutlicher werden. Die schon vor mehr als zehn Jahren im Lissabon-Vertrag verankerten Aufrüstungsbestimmungen schlummerten bis zum Brexit-Referendum, um dann vor allem von Berlin und Paris mit aller Macht auf die politische Agenda gesetzt zu werden. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sprach von der »schlafenden Schönheit« des Lissabon-Vertrags, die endlich erwacht sei.
Dabei böte das Ausscheiden Großbritanniens auch Chancen, Korrekturen an der EU-Krisenpolitik vorzunehmen. Denn mit dem Königreich würde ein neoliberaler Hardliner die EU verlassen, was Spielräume beispielsweise zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer bieten würde, die von den Briten bislang blockiert wurde. Stattdessen frohlocken die deutschen und französischen Eliten, weil sie nun endlich ohne Großbritannien, das immer dagegen votiert hatte, EU-Rüstungsprojekte durchsetzen können. Jüngster Schritt der Militarisierung ist der Aachener Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich, der anlässlich des Jahrestages des Elysée-Vertrags von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron am 22. Januar diesen Jahres unterzeichnet wurde. Zwar handelt es sich dabei um keinen Vertrag im Rahmen des EU-Rechts. Doch untermauert er den deutsch-französischen Führungsanspruch in der EU und legt die Marschroute für weitere Aufrüstung und Militarisierung fest. Während im Elysée-Vertrag noch der kulturelle Austausch und die zivile Kooperation im Vordergrund standen und lediglich die Absicht bekundet wurde, die Außen- und Verteidigungskooperation enger zu koordinieren, reiht sich der Aachener Vertrag ganz in die politische Linie der Militarisierung ein (vgl. hierzu ausführlicher Hunko 2019).
Aufrüstung statt Angleichung der Lebensverhältnisse
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO 2018) kam jüngst zu der Feststellung, dass die bis 2007 zu beobachtende Konvergenz innerhalb der EU in Bezug auf Sozial- und Arbeitsindikatoren seither stark rückläufig ist. Die Krise und vor allem das autoritär-neoliberale Krisenmanagement haben die Ungleichheiten dramatisch vertieft. Europa driftet auseinander. Galt die Kohäsionspolitik, also die Schaffung zumindest tendenziell gleicher Lebens- und Arbeitsverhältnisse innerhalb der EU, seit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 noch als ein zentrales Ziel der EU, so ist diese Zielstellung fast vollständig aus dem europapolitischen Diskurs verschwunden. Vor diesem Hintergrund sind die geplanten Kürzungen der Kohäsionsfonds in der Tat alarmierend und markieren in Verbindung mit den Aufrüstungsplänen einen Paradigmenwechsel. An die Stelle der wünschenswerten Annäherung der Lebensverhältnisse innerhalb der EU tritt zunehmend die Betonung der politischen und militärischen Stärke nach außen. Neben der Entscheidung Großbritanniens, die EU zu verlassen, und der unberechenbaren Politik des US-Präsidenten Trump dienen die zahlreichen Krisen rund um die EU als Katalysatoren, obwohl die EU hier oftmals großen Anteil an ihrem Zustandekommen hatte.
Das offensichtlichste Beispiel ist die östliche Nachbarschaftspolitik der EU und die Krise in der Ukraine: Mit dem EU-Assoziierungsabkommen sollte sich die Ukraine für wirtschaftliche Beziehungen zur EU auf Kosten der Beziehungen zu Russland entscheiden. Der Beschluss des damaligen Präsidenten, die Unterschrift zu verweigern um weiter zu verhandeln, wurde im Jahr 2014 zum Auslöser des blutigen Umsturzes in Kiew, der dann wiederum die völkerrechtswidrige Abspaltung der Krim und den Krieg im Donbass zur Folge hatte. Auf die Frage nach möglichen Fehlern bei der Verhandlung des Abkommens mit der Ukraine antwortete mir Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor zwei Jahren wörtlich und auf Deutsch: »Wir haben in maßloser Verblendung geglaubt, nicht mit Russland reden zu müssen.« Die russische Reaktion wird als Auslöser der Krise dargestellt und dient als Legitimation für Sanktionen und die militärische Aufrüstung gegen Russland. Das Feindbild einer russischen, gar militärischen Expansionsstrategie täuscht aber darüber hinweg, dass die EU in ihrem Streben nach Ausweitung ihres Marktzuganges und ihrer Machtprojektion gegen Russland selbst die Krise befördert hat. Dagegen lässt sich mit dem ehemaligen EU-Kommissar Günter Verheugen sagen: »Die Lehre aus der Entspannungspolitik und dem KSZE-Prozess [also dem Vorläufer der OSZE] der 1970er Jahre ist, dass Frieden nur möglich ist, wenn keiner den anderen dominieren will und keiner imperiale Ansprüche erhebt.« (Der Spiegel, 28.9.2015)
Imperiale Logik hinter Nichtbeitritt zur Menschenrechtskonvention
Die EU stellt sich gern als Förderin einer rechts- und regelbasierten internationalen Ordnung dar, insbesondere in den Bereichen der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und der Demokratie. Das mit Abstand wichtigste Menschenrechtsinstrument auf europäischer Ebene ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarates. Sie gewährt den 820 Millionen Einwohner*innen der Mitgliedsstaaten sowie allen weiteren Menschen auf europäischem Boden ein individuelles Klagerecht beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), wenn ihre Rechte verletzt werden. Die Urteile aus Straßburg werden von den 47 Mitgliedsstaaten des Europarates auch weitestgehend anerkannt und umgesetzt. Dieses weltweit einzigartige internationale Rechtssystem sollte verteidigt und ausgebaut werden. Es krankt unter anderem an einer chronischen Unterfinanzierung: Der gesamte Europarat kostet im Jahr so viel wie die EU an einem einzigen Tag. Der EGMR hatte 2018 einen Jahreshaushalt von gerade einmal 72 Millionen Euro. Lange Bearbeitungszeiten von Klagen könnten ohne Probleme beseitigt werden, wenn hierzu der politische Wille bestünde. In Artikel 6(2) des Lissabonner Vertrages hat sich die EU im Jahr 2009 explizit dazu verpflichtet, der EMRK beizutreten.
Dieser Beitritt hätte längst vollzogen sein müssen. Jedoch legte der EU-Gerichtshof in Luxemburg 2014 ein Gutachten vor, das den Beitritt der EU zur Menschenrechtskonvention für unvereinbar mit den Verträgen erklärt und damit blockiert hat. Unter Jurist*innen hat die 150-seitige Argumentation Ratlosigkeit und Kopfschütteln ausgelöst. Im politischen Kern geht es darum, ob die EU in Menschenrechtsfragen eine externe Kontrolle durch den EGMR zulässt oder nicht. Es erinnert an imperiale Arroganz, wie die EU sich gern als erste Hüterin der Menschenrechte inszeniert und sich zeitgleich weigert, einen anderen Gerichtshof anzuerkennen. Statt weiterer Aufrüstung und Ausdehnung des Einflussbereichs der EU nach Osten gilt es, übergreifende europäische Sicherheitsstrukturen zu stärken, allen voran die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in der alle Staaten Europas (und weitere) Mitglied sind. In diesem Zusammenhang sollten die Verhandlungen über eine konventionelle Abrüstung im Rahmen des KSE-II-Prozesses wieder aufgenommen werden. Nicht Konfrontation und Drohgebärden, sondern Kooperation und Konfliktprävention können Sicherheit und Menschenrechte in Europa gewährleisten. Institutionen wie der Europarat und die OSZE stehen meist im Schatten der mächtigen EU – sie sind jedoch besser geeignet, einem friedlichen Europa näher zu kommen.