Im Berliner Ortsteil Plänterwald offenbart sich, was so oder so ähnlich viele Nachbarschaften in Ost-Berlin prägt und die Menschen dort auseinanderzureißen droht. Sie erleben eine mangelhafte Gesundheits- und Nahversorgung, fehlende Infrastrukturen, schlechte Verkehrsanbindungen sowie marode Straßen statt blühender Landschaften. Darunter leiden insbesondere Menschen, die Sorgeverantwortung tragen, also zumeist FLINTA, aber auch ältere Menschen, da sie auf kurze Wege und die Integration der Nahversorgung in ihre Arbeits- und Lebensräume angewiesen sind. Trotz der über die letzten 30 Jahre hinweg entstandenen infrastrukturellen Defizite war es insbesondere der Stadtrand im Osten Berlins, der im vergangenen Jahrzehnt Platz für neuen Wohnraum bereitstellen musste. Durch die Nachverdichtung der grünen Innenhöfe der Ostmoderne verloren ausgerechnet diejenigen auch noch den dringend benötigten Raum zum Zusammenkommen ohne Konsumzwang, die ohnehin am wenigsten haben und in kleinen Wohnungen leben.
Das ist Klassenkampf von oben: Die kapitalgetriebene Baupolitik der Berliner SPD und CDU opfert grüne Begegnungsorte in Großsiedlungen, während die Villenviertel luftig bleiben. Diese Art der Nachverdichtung verstärkt außerdem die Versorgungskrise: Die Nachbar*innen können sich nicht mehr gut vor Ort versorgen, der Verkehr nimmt zu und besonders im hohen Alter wird es schwierig, auf ein Auto zu verzichten, weil es allein den Anschluss an soziale Teilhabe sichert. Wer sich kein Auto leisten kann, ist schlecht dran. Der Frust über diese Ungerechtigkeiten vermischt sich mit dem Gefühl, seit 1990 ohnehin nicht in relevante Entwicklungen einbezogen zu werden. Als Linke nehmen wir seit vielen Jahren diese Unzufriedenheit der Menschen ernst und versuchen, mit ihnen gemeinsam Verbesserungen in der Nachbarschaft zu erringen. Seit dem Wahlkampf der Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im Februar 2023 ist es uns gelungen, mit einer entsprechenden Kiezkampagne die Mobilisierung der Rechten ›auszudribbeln‹ – die häufig das Monopol auf die Kanalisierung des vorhandenen Unmuts haben – und dem sozialistisch-feministischen Anspruch auf ein gutes Leben für alle, der seit Jahren Basis unserer Arbeit im Kiez ist, eine politische Form zu geben.
Versorgungskrise trifft Demokratiekrise
Plänterwald ist ein Ortsteil des Berliner Bezirks Treptow-Köpenick, liegt eine Station außerhalb des S-Bahn-Rings und hat eine Bevölkerung mit hohem Durchschnittsalter. Etliche der Erstbewohner* innen der Q3A-Bauten[1] aus den 1960er-Jahren wollten nie wegziehen, hinzu kamen in den letzten Jahren diejenigen, die aus der Innenstadt verdrängt wurden, weil die Mieten dort nicht mehr bezahlbar sind. Jedoch fehlt es an allem: Ärzt*innen, Bäckereien, einer Apotheke und Kulturräumen. Es gibt noch nicht einmal ausreichend Geldautomaten. Die letzte Hausärztin steht kurz vor der Pensionierung, das örtliche Ärztehaus wurde erst privatisiert und dann aufgrund »fehlender Wirtschaftlichkeit« geschlossen, die lokale Apotheke gab auf. Wir nennen es die »Brandenburgisierung« der Hauptstadt – eine Leere, die inzwischen mitten in der Metropole Raum greift und das schöne Leben auf Tankstellen und Imbissbuden reduziert. Die Gründe dafür sind komplex: gravierendes Versagen der Stadtplanung, ein profitorientiertes Gesundheitssystem und eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Deregulierungen, Entstaatlichungen, Bodenprivatisierungen und Betongoldpolitik haben Wohnraum zu einem Anlageobjekt gemacht und zu Preisexplosionen geführt, die längst nicht nur die Innenstadt betreffen. Das Beispiel Plänterwald wirft ein Schlaglicht auf den Zustand des Gemeinwohls in den Kommunen und auf die Wut vieler Menschen dort. Berechtigt ist diese Wut allemal, allerdings richtet sie sich unter den aktuellen Verhältnissen häufig gegen »andere« anstatt gegen »oben«. Darin liegt aber auch eine Chance für linke Politikansätze, die versuchen, diese Emotionen solidarisch zu wenden.
Im Jahr 2021 wehrten sich Bewohner*innen einer der Nachkriegssiedlungen gegen die Errichtung von Neubauten auf mehreren Wiesen und sammelten dagegen in weniger als drei Wochen über 1 000 Unterschriften (vgl. Leiß 2021). Die rot-rot-grüne Mehrheit im Kommunalparlament beschloss daraufhin einen »Kompromiss«: Einer der großen Innenhöfe sollte von der Bebauung verschont werden, der Rest der geplanten Wohnungen wurde jedoch gebaut. Ohne Verkehrs- und Nahversorgungskonzepte zeigte sich schnell die Fadenscheinigkeit dieser »Lösung«, denn die Alltagsversorgung in der Gegend verbesserte sich nicht und die Frustration über das Abgehängtsein im Kiez vermengte sich mit der sich im Zuge der Corona-Pandemie und angesichts der Vielfachkrise verschlechterten gesamtgesellschaftlichen Stimmungslage. Auch rassistische Diskurse über die zugezogenen neuen Nachbar*innen nahmen zu. Als Ende 2022 dann für den Bau eines Radwegs 290 Parkplätze wegfallen sollten, schien das der sprichwörtliche Tropfen zu sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es folgte eine emotionalisierte Debatte über die Missstände im Ortsteil, die die AfD geschickt aufzugreifen verstand: Sie forderte im Februar 2023, drei Tage vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, die Parkplätze zu erhalten und den Radwegebau zu stoppen.
Bürgerinitiativen und Kiezkampagnen
Die Linke im Treptower Norden verfolgt seit 2016 eine konfliktorientierte Politik vor Ort. Wir versuchen, die Wut der Menschen über die gesellschaftlichen Verhältnisse in politische Handlungsfähigkeit zu verwandeln. Nichts wird kleingeredet, nichts wird wegmoderiert. Im Gegenteil: Kein Konflikt ist zu klein und keiner zu groß, um nicht mit einer Initiative im Stadtteil darauf einzugehen oder eine neue deswegen zu gründen. Die Gefühle der Menschen werden ernst genommen und dennoch – oder gerade deshalb – gemeinsam hinterfragt und reflektiert. Denn bei dieser Art von organisierender Kampagnenarbeit geht es auch darum, »die Spannung zwischen Affekten als kreativ-emanzipatorischem Aspekt von Handeln und Affekten als herrschaftlich überformten politischen Instrumenten« (Birgit Sauer in diesem Heft) aufzugreifen. Das ist ein ambitioniertes Anliegen, das aber nicht zuletzt auf der Grundlage einer seit Jahren vertrauensvollen Zusammenarbeit mit lokalen Akteur*innen im Plänterwald tatsächlich verfolgt werden kann. Zu der seit über 30 Jahren existierenden Bürgerinitiative gibt es langjährige Kontakte. Doch wie genau sind wir vorgegangen?
Zuhören, Probleme ernst nehmen und diese auf links drehen!
Als wir bei Haustürgesprächen von der Wut über den neuen Radweg erfuhren, überlegten wir zunächst, was eigentlich unsere Haltung dazu sein könnte. Schnell wurde klar, am Radweg selbst konnte es nicht liegen, dem Unmut mussten noch andere Dinge zugrunde liegen. Um diese zu ergründen, haben wir mit dem Wichtigsten angefangen: Zuhören, die Perspektiven der Menschen verstehen und ernst nehmen, die sie umtreibenden Probleme identifizieren und nach Lösungen suchen, die nicht diejenigen verantwortlich machen, die über noch weniger Ressourcen und Einfluss verfügen. Das heißt, die Menschen aktiv einbinden, aber auch alternative Deutungen und praktische Vorschläge anbieten, wie sich die Lebenssituation vor Ort jenseits rechtspopulistischer Frustparolen verbessern lässt. Im Plänterwald ließ sich daraus eine lokale Kampagne entwickeln, die an den alltäglichen Bedürfnissen der Nachbarschaft ansetzt und die Ohnmacht überwindet. Das ist aufwendig, aber lohnt sich.
An den Haustüren, in Bürgerdialogen neben dem Supermarkt vor Ort und im Austausch mit der lokalen Bürgerinitiative wurde der eigentliche »Elefant im Raum« identifiziert: die fehlende Beteiligung der Menschen an den Bauprojekten im Ortsteil bei gleichzeitigem Abbau der Versorgungsinfrastrukturen: von der Apotheke bis zur Postfiliale. Dies hatte zu einer allgemeinen Ablehnung und Wut gegen »die Eliten« geführt, anknüpfend an die im Osten noch sehr präsenten Erfahrungen von Vereinigungsunrecht, Ausverkauf und Schlechterstellung. Für rechte Mobilisierung ein ideales Terrain.
Gemeinsame Interessen identifizieren und Anliegen formulieren
Nach vielen Gesprächen entstand die Idee zu einer Kampagne, die die eingeschränkte Mobilität der Menschen zum Ausgangspunkt nimmt und die fußläufige Erreichbarkeit von guter Nahversorgung für Alt und Jung zum Kern der Forderungen erklärt. Wir stellen damit soziale Infrastrukturen und nachhaltige Verkehrslösungen gegen die allgegenwärtige Krise des Alltagslebens, beharren auf dem Recht auf Mobilität und darauf, dass diese bezahlbar und umweltverträglich sein muss, anstatt die private Autonutzung unkritisch zu verteidigen. Damit docken wir als Linke an eine feministische Stadtentwicklungspolitik an, die das Leben und die Alltagsversorgung in den Blick nimmt und damit vor allem das Leben von FLINTA. Aus den Erfahrungen mit der harten Realität von Pflegenden, Kinderbetreuenden, körperlich eingeschränkten und älteren Menschen, die immer wieder an der Alltagsbewältigung scheitern, entwickeln wir die Realutopie einer »sorgenden Stadt«.[2] Wir versuchen das Bedürfnis danach zusammen mit der lokalen Bevölkerung zu artikulieren und vor diesem Hintergrund eine politische Bewegung aufzubauen. So weisen wir vermeintliche Betonlösungen in der Horizontalen oder Vertikalen wie eine traditionelle Parkplatz- und Autopolitik sowie das Konzept Bauen, Bauen und immer mehr Bauen zurück und schlagen solidarische Antworten vor, für die es sich wirklich zu kämpfen lohnt.
Verbündete suchen und Vernetzung vorantreiben
Für die konkrete Arbeit vor Ort kooperieren wir mit der Kampagne »Sorge ins ParkCenter«,[3] die das nahezu leer stehende Parkcenter im angrenzenden Stadtteil Alt-Treptow für die (Sorge-)Bedarfe der Nachbarschaft zu vergesellschaften sucht – mit Gemeinschaftsküchen, Kinderbetreuung und Repair-Stationen. Es soll zu einem »Sorge-Zentrum« umgenutzt werden, wie es sie in mehreren lateinamerikanischen Metropolen als Ergebnis einer Kooperation zwischen feministischen Bewegungen und lokaler Politik bereits gibt (vgl. Testoni/Zubcov 2025). Von Anfang an stützte sich die Kampagne auf eine enge Zusammenarbeit mit der lokalen Bürgerinitiative, die sich seit über 30 Jahren für den Ortsteil Plänterwald engagiert und mit der wir bereits zahlreiche Kämpfe geführt haben. So konnten wir lokale Publikationen wie das von der Initiative herausgegebene Plänterwaldblatt nutzen, auf Kontakt- und Mailinglisten zugreifen und dadurch unsere Reichweite vergrößern. »Macht umverteilen« wird dabei praktisch, indem Ressourcen des lokalen Abgeordnetenbüros für die Menschen vor Ort zugänglich und nutzbar gemacht werden. Es wird (Herrschafts-)Wissen aus Parlament und stadtpolitischen Netzwerken weitergegeben, es werden Ausschussthemen gesetzt oder Briefe geschrieben. Aber vor allem werden Menschen zur ehrenamtlichen Arbeit ermächtigt, indem Hauptamtliche Bürokratiekram und zeitraubende Aufgaben übernehmen.
Rein in die Kieze: kommunale Instrumente für die langfristige Organisierung nutzen
Mithilfe eines Einwohnerantrags, einem demokratischen Instrument, das die Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin bei Vorliegen von über 1 000 Unterschriften zu einem Beschluss zwingt, organisiert Die Linke zusammen mit der lokalen Bürgerinitiative Plänterwald nun seit über zwei Jahren den Kiez. Der Einwohnerantrag fordert nicht weniger als die Lösung des Versorgungs- und Infrastrukturproblems vor Ort. Er fordert ein Mobilitäts- und Infrastrukturkonzept für ein lebenswertes Plänterwald unter Beteiligung der dort lebenden Menschen. Das mag auf den ersten Blick nach einer großen Forderung klingen, im Kern geht es den Anwohner*innen schlicht um ein städtebauliches Entwicklungskonzept für den Ortsteil, das Bedürfnissen nach mehr sozialen Treffpunkten, einer besseren Nah- und Gesundheitsversorgung sowie Verkehrslösungen gerecht wird. Der entscheidende Punkt ist die Bürgerbeteiligung. Nur wenn die Menschen im Kiez ernsthaft eingebunden werden und auch Ergebnisse folgen, kann das zerstörte Vertrauen in die Demokratie langsam wieder aufgebaut werden.
Ausgehend von einer Kiezversammlung kam es zu einer Nachbarschaftsvernetzung, um für den Einwohnerantrag die benötigten Unterschriften zu sammeln sowie Demonstrationen, Podiumsdiskussionen zur Gesundheitsversorgung, Haustüreinsätze und Infostände vor dem Supermarkt zu organisieren. Nach der Einreichung des Antrags mit über 1 300 Unterschriften war die Arbeit vor Ort natürlich nicht vorbei. Mittels einer auf den Einwohner-antrag aufbauenden Ärzt*innenvernetzung, einer weiteren Unterschriftensammlung und einem Aufruf, der sowohl online als auch als Abreißzettel im Bezirk verbreitet wurde, gelang es, einen neuen Hausarzt für den Kiez zu gewinnen. Dieser wird seine Praxis Anfang 2026 eröffnen. Zusätzlich machen sich derzeit einige Genoss*innen aus der Linken Gedanken, wie und ob die leer stehende Apotheke zu einer Apothekengenossenschaft ausgebaut werden kann.
Das zeigt deutlich: Vertrauen aufbauen und Erfolge feiern braucht Zeit und Ausdauer an der Seite der Menschen in den Kiezen, insbesondere weil vonseiten der Verwaltung selten schnelle Lösungen kommen. So ist zwar über den Einwohnerantrag mittlerweile positiv abgestimmt worden, aber bis auf zwei vom Bezirksamt organisierte Einwohnerversammlungen ist bislang nicht viel passiert.
Kleine Erfolge feiern, nächste Schritte gehen
Am deutlichsten wurde der Erfolg der Kampagne bei einer der öffentlichen Versammlungen nach der Abgabe des Einwohnerantrags. Der Saal im Rathaus war bis auf den letzten Platz besetzt. Über 250 Nachbar*innen waren vor Ort, mehr als bei vorherigen Protesten. Das war ein starkes Zeichen an den Bezirk. Sie äußerten sich zur mangelhaften Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung vor Ort oder auch zum ÖPNV – die für den Radweg wegfallenden Parkplätze wurden lediglich in einem Beitrag erwähnt. Es wurde klar, dass es gelungen war, den Diskurs zu drehen und die eigentlichen Probleme im Kiez in den Fokus zu rücken. Und obwohl die AfD in Plänterwald Stimmen dazugewinnen konnte und weiter versucht, Themen wie den Radwegebau oder im Bezirksparlament den Einwohnerantrag für sich zu instrumentalisieren, grenzten sich diejenigen, die die Rede zur Einbringung des Einwohnerantrags auf der Versammlung hielten, klar von der AfD ab. Sie sprachen sich gegen Scheinlösungen durch rechte Stimmungsmache aus. Dafür gab es großen Applaus im Saal. In einem Kiez mit Wahlergebnissen von bis zu 25 Prozent für die AfD (und weiteren 10 % für die CDU) bei den letzten Bundestagswahlen ist das keineswegs selbstverständlich.
Klar ist aber auch: Es geht hier um die langfristige Organisierung einer Gegenmacht von unten. Eine solche Kampagne ist nur möglich, weil Die Linke in Plänterwald seit Jahren konsequent an der Seite der Nachbar*innen kämpft. Der dreifache Gewinn des Direktmandats bei den Berlin-Wahlen ist ein klares Indiz dafür. Gleichzeitig haben die Rechten auch hier zugelegt. Als Linke können wir hier nur Stück für Stück Terrain (zurück-)gewinnen. Im Plänterwald zeigt sich, dass wir im Kleinen aufbauen, was wir im Großen schaffen wollen: Wir sind die Brandmauer gegen rechts und wir können feministisch-sozialistisch Land zurückgewinnen für eine lebenswerte Zukunft.
Weitermachen!
Mit einer gut verankerten Wahlkreisarbeit von unten und Kiezkampagnen, die an den Punkten ansetzen, die den Menschen wirklich wichtig sind, gehen Parteiaufbau, Verankerung und linke Programmatik Hand in Hand. Rechte Positionen und Akteur*innen werden auf mehreren Ebenen gleichzeitig zurückgedrängt. Indem die hier beschriebene Kampagne an den alltäglichen Bedürfnissen ansetzt, leistet sie Sorgearbeit im Kiez und strukturiert diese solidarisch um. In der Verknüpfung mit der Praxis des Zuhörens und des Findens gemeinsamer Lösungen entsteht eine feministische Organisierung, die auch an unsere Parteipraxis anknüpft.
