Die Ausdrücke »Klasse an sich«, »Klasse für sich« und »Klasse an und für sich«, die MARX zugeschrieben zu werden pflegen, finden sich bei diesem nicht. BUCHARIN etwa behauptet in seiner Theorie des historischen Materialismus (1922, §54), MARX verwende die Ausdrücke »Klasse an sich« und »Klasse für sich« in [Das] Elend [der Philosophie]. Doch dort und zumal in dem von BUCHARIN als Belegstelle zitierten Passus unterscheidet MARX »eine Klasse gegenüber dem Kapital«, in der eine »Masse« von Besitzlosen zusammengewürfelt ist, von einer »Klasse für sich selbst«, in die sich diese Masse über Konflikte, Erfahrungen und Organisation verwandelt (4/181). Die objektive Lage jener Masse geht ihrer intersubjektiven Realisierung voraus. Daher die auf den ersten Blick paradoxe Einsicht, die E.P. THOMPSON mit seinem Kontrahenten ALTHUSSER teilt, dass der Klassenkampf der Klasse (im vollen Sinn) vorausgeht. […]
Wie eine ›Klasse an sich‹ zu einer »Klasse für sich selbst« (4/181) bzw. vom Objekt zum Subjekt der Geschichte wird, ist nicht aus einer sozio-ökonomisch beschreibbaren Klassenstellung allein »abzuleiten«, sondern muss an den wirklichen historischen Bewegungen »studiert werden« (Engels an C. Schmidt; 37/436f).
Nach 1848 beobachteten MARX und ENGELS aufmerksam die Entstehung neuer Gegenmachtpotenziale in den fortgeschrittenen Ländern. Sie kritisierten die Verselbständigung des Staatsapparats in Frankreich und die Staatsgläubigkeit in der Arbeiterbewegung und unterstützten demgegenüber die Entstehung unabhängig von Staat und Bürgertum sich organisierender Kräfte in Gestalt genossenschaftlicher, gemeindlicher und föderativer Selbstverwaltung. Gleichzeitig beobachteten sie die v.a. von den Facharbeitergewerkschaften erkämpften Verbesserungen im Arbeits- und Wahlrecht, der Lebens- und Arbeitsverhältnisse und forderten eine staatliche Arbeits-, Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik zur Verbesserung der sozialen Lage. Diese Verbesserungen würden allerdings das Wachstum des Elends nur eindämmen, nicht aber die grundsätzliche »Unsicherheit der Existenz« (22/231) beenden, solange nicht auch die politische Macht übernommen sei. Beide Perspektiven zielen auf die Überwindung des Kapitalismus, deuten aber auf unterschiedliche mögliche historische Konstellationen und nationale Wege. Die Verfestigung einander ausschließender Doktrinen war eine Folge der Enthistorisierung ihres Klassenkonzepts. […]
Durch ihren kritischen Rückgriff auf die politische Ökonomie von SMITH und RICARDO konnten MARX und ENGELS die sozialen Klassen auch als ökonomische Faktoren analysieren. Anstatt die sozialen Kämpfe allein auf Ideen oder Machtkämpfe zurückzuführen, untersuchten sie diese »nach den existierenden empirischen Daten« (D[eutsche] I[deologie], 3/29) und an der »wirklichen Bewegung« (35) historischer Strukturen und Akteure. Ihre Untersuchungen mündeten im Theorem des Widerspruchs zwischen der Dynamik der ökonomischen Produktivkräfte und der Beharrungskraft der in Verkehrsformen und Institutionen wirksamen Produktionsverhältnisse. […]
Solange sich die Elemente einer neuen historischen Produktionsweise und Gesellschaftsordnung im Schoße der alten Gesellschaft vorbereiten, koexistieren sie noch mit den Elementen der alten Gesellschaft. […]
ENGELS legte 1845 mit [Die] Lage [der arbeitenden Klasse in England] eine einzigartig umfassende Darstellung der englischen Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse vor, aber diese enthält z. T. noch lineare Prognosen, ferner Unterschätzungen des Klassenbewusstseins der Arbeiter, die auf ein Elite- Masse-Schema zurückgehen. MARX entwickelte 1847 ein methodisch stringentes Konzept der Klassenentwicklung, das die empirische Entwicklung der englischen Gewerkschaftsbewegung nach einem praxeologischen Theoriekonzept auf den Begriff bringt und quer zur Alternative von idealistischen und anschauend-materialistischen Interpretationen steht. Das Theorem der Entwicklung von der »Klasse an sich« zur »Klasse für sich selbst« (4/181) enthält bereits fast alle wesentlichen Elemente eines analytischen Konzepts sozialer Praxis (im Sinne der Thesen über Feuerbach), wonach die Arbeiterklasse sowohl durch bestimmte äußere Bedingungen erzeugt wird, als auch durch eigene Kämpfe und Zusammenschlüsse sich selbst erzeugt. Das praxeologische Theorem greift seiner Zeit weit voraus. […]
Während MARX wie ENGELS die ökonomischen und politischen Prozesse weitgehend in ihrem historisch spezifischen Zusammenhang miteinander darstellen, haben sich diese beiden Aspekte in der Wirkungsgeschichte des Marxismus gegeneinander verselbständigt. […] Bes. Karl KORSCH hat hervorgehoben, dass die beiden Formeln sich zwar ergänzen, aber auf theoretischer Ebene unzureichend miteinander vermittelt sind (1938/1967, 82ff, 136ff, 181ff). Auch deshalb sind sie zur Grundlage gegensätzlicher Konzepte der historischen Handlungsperspektive der Arbeiterbewegungen geworden, eines substanzialistischen bzw. mechanisch-evolutionistischen Konzepts und eines »relationalen« bzw. »praxeologischen«, wie es BOURDIEU (1976, 139-318) nannte. […] Die Bewegungen bzw. ihre Avantgarden sind immer wieder in ›objektivistische‹ und ›subjektivistische‹, ›evolutionäre‹ und ›aktivistische‹, ›reformistische‹ und ›revolutionäre‹ Richtungen zerfallen. Die praxeologische Denkströmung lag quer zu diesen dualistischen Alternativen; aus ihr sind bedeutsame, wenn auch an den Rand gedrängte Weiterentwicklungen der historischen Klassenanalyse hervorgegangen, die mit den Namen Rosa LUXEMBURG und Antonio GRAMSCI, aber auch THOMPSON, BOURDIEU, Raymond WILLIAMS und Barrington MOORE verbunden sind.
Das Elend der Philosophie
Im 1847 auf den abschließenden Seiten von [Das] Elend (4/180ff) entworfenen praxeologischen Konzept ist die Klassenentwicklung bereits in allen ihren analytischen Dimensionen konzipiert. Nach den prägnanten Formulierungen, durch die das MARX‘sche Klassenkonzept bekannt geworden ist, »mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun« (23/27). Tatsächlich sind sie als »summarische Zusammenfassung langer Entwicklungen, die vorher […] gegeben worden sind« (19/111), entstanden, also als Quintessenzen, in denen differenzierte historische und zeitgeschichtliche Untersuchungen auf den Begriff gebracht sind. Diese Zusammenfassungen tauchen später oft als Versatzstücke in den wissenschaftlichen und v.a. politischen Schriften von MARX und ENGELS auf.
Bei solchen Quintessenz-Texten muss unterschieden werden, ob ausgelassene analytische Distinktionen und empirische Bezüge durch Rückgriff auf den Texthintergrund wiederhergestellt werden können oder ob sie auch dort fehlen, d.h. tatsächlich auf einer ›reduktionistischen‹, wichtige Vermittlungsglieder und Unterscheidungen auslassenden Analyse beruhen. An den Formulierungen in [Das] Elend, in denen MARX die Entwicklung der Arbeiterklasse zur »Klasse für sich selbst« konzipiert, lässt sich dies exemplarisch zeigen (wobei die eingefügten Ziffern und kursiven Hervorhebungen die analytischen Dimensionen markieren, die in den folgenden Unterabschnitten vollständiger dargestellt werden):
»Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt [1]. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation [2], gemeinsame Interessen [3] geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf [4], den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf [5]« (4/180f).
Eingerahmt sind diese viel zitierten Zeilen in zwei andere Quintessenz-Passagen, die für das Verständnis unverzichtbar sind, weil sie die historischen Bezüge und v.a. die Pointe verdeutlichen, dass die Klasse nicht nur erzeugt wird, sondern sich durch Kämpfe, Koalierung und Gegenmachtbildung auch selbst erzeugt. […]
Der zweite, ohne Unterbrechung an das Leitzitat anschließende Rahmungstext zieht das klassische Modell der Revolution der Bourgeoisie heran, die sich in einem etwa achthundertjährigen Emanzipationskampf innerhalb der vorangehenden Gesellschaftsformationen konstituiert hat: »Mit Bezug auf die Bourgeoisie haben wir zwei Phasen zu unterscheiden: die, während derer sie sich unter der Herrschaft des Feudalismus und der absoluten Monarchie als Klasse konstituierte [4, 5], und die, wo sie, bereits als Klasse konstituiert, die Feudalherrschaft und die Monarchie umstürzte [6], um die Gesellschaft zu einer Bourgeoisgesellschaft zu gestalten [7]. Die erste dieser Phasen war die längere und erforderte die größeren Anstrengungen. […]
Unterschieden werden damit insgesamt sieben Dimensionen. Zunächst drei Dimensionen der ›Klasse an sich‹: Stellung als Lohnarbeiter, gemeinsame Lage unter Herrschaft des Kapitals, gemeinsame Interessen; sodann zwei Dimensionen der Konstitution und Organisation als »Klasse für sich selbst«: Koalierung zuerst im gewerkschaftlichen Kampf und dann im politischen Kampf; schließlich zwei Dimensionen der Revolution: Eroberung der politischen Macht und Gestaltung der neuen Gesellschaft. V.a. den ersten vier Dimensionen liegen 1847 bereits ausführliche historische Analysen zugrunde (bes. in [Die] Lage, die D[eutsche] I[deologie] u. [Das] Elend), die später fortgeführt wurden, u.a. in den Gr[undrissen], dem K[apital Bd.] I) u. Ursprung [der Familie]). Sie verdeutlichen, wie weit diese Dimensionen gerade nicht idealistisch-teleologische Konstrukte sind, sondern der »wirklichen Bewegung« historischer Strukturen und Akteure nachgehen (3/35). Auch die übrigen Dimensionen wurden nach 1848 auf empirischer Grundlage weiter ausgefüllt. […]
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Um zur »Klasse für sich selbst« zu werden, muss der Zustand der durch »Konkurrenz zersplitterten Masse« (4/470) isolierter Einzelner überwunden, d.h. die Vergesellschaftung ihrer Beziehungen erreicht werden. Diese wird von der industriekapitalistischen Produktionsweise selber ermöglicht, indem sie die Arbeitenden in Großbetrieben, großen städtischen Agglomerationen und über zunehmende Verkehrs- und Kommunikationsmittel physisch zusammenbringt (466f).
MARX hat dies 1852 im 18. B[rumaire] durch den Vergleich mit den französischen Parzellenbauern verdeutlicht: Diese
»bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. Die Isolierung wird gefördert durch die schlechten französischen Kommunikationsmittel und die Armut der Bauern. […] Jede einzelne Bauernfamilie genügte beinahe sich selbst […]. Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse. Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden« (8/198). […]
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{In der} bürgerlichen Klassenentwicklung […] ist der Phase der politischen Revolution, in der die alte Ordnung umgestürzt und die neue Gesellschaft gestaltet wurde, eine längere und mit Anstrengungen verbundene Phase der Klassenkonstitution vorausgegangen, in der die neuen Produktivkräfte entwickelt und die institutionelle Gegenmacht erkämpft wurden, beginnend mit partiellen Koalitionen gegen den Feudalismus und selbstverwalteten Stadtgemeinden (4/181). Im [Kommunistischen] Manifest werden die »Entwicklungsstufen der Bourgeoisie« genauer dar- gestellt: als
»Produkt […] einer Reihe von Umwälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise«, »begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt. Unterdrückter Stand unter der Herrschaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbst verwaltende Assoziationen und der Kommune, hier unabhängige städtische Republik, dort dritter steuerpflichtiger Stand der Monarchie, dann zur Zeit der Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel […], erkämpfte sie sich endlich […] im modernen Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft« (464).
Das Manifest enthält somit schon das Konzept der stufenweisen historischen Bildung einer Gegenmacht von sich selbst verwaltenden Assoziationen und Institutionen. Dieses Konzept wird auch auf die entstehende Arbeiterklasse angewandt. […]
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{In den 1840er Jahren schien die politische Entwicklung blockiert.} Dieser blockierten Situation entsprechend stehen im Manifest {zwei} Perspektiven, das Konzept der Gegenmacht und das der abkürzenden Revolution, noch unvermittelt nebeneinander. Einerseits setzt das Manifest darauf, dass die Arbeiter »Koalitionen« bilden und durch Kämpfe ihre Zersplitterung nach lokalen und regionalen, betrieblichen und branchenspezifischen partikularen Interessen überwinden. Trotz Rückschlägen ersteht die »Organisation der Proletarier zur Klasse […] immer wieder«, wird politischer, zentraler, national und »erzwingt die Anerkennung einzelner Interessen der Arbeiter in Gesetzesform […]. So die Zehnstundenbill in England.« (4/471) Schließlich konstituiert sich die »proletarische Bewegung« als »selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl« (472). – Andererseits mündet diese Darstellung einer aktiven, kämpfenden, durch Rückschläge immer wieder unterbrochenen Koalierung und Bewegung vier Absätze später in ein Resümee, das diesen Prozess begrifflich in die Nähe naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit rückt: »Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation.« (473f) Die Bourgeoisie »produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.« (474)
Knapp 50 Jahre nach dem Erscheinen von [Das] Elend, in seinem Todesjahr 1895, erlebte ENGELS jedoch noch die Bestätigung der anderen, weitblickenden Prognose einer Politisierung der Gewerkschaftsbewegung. Aufgrund neuer Zuspitzungen der ökonomischen Klassengegensätze bildeten die englischen Gewerkschaften eine unabhängige Arbeiterpartei, die schließlich 1945, weitere 50 Jahre später, die politische Mehrheit gewann, die sie dann zur Einführung eines modernen Sozialstaates nutzte.
Nach 1848 wurde, bedingt durch die unerhörte Entwicklung des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung, v.a. das Konzept der Gegenmacht weiterentwickelt. Das Konzept einer abkürzenden Revolution wurde gleichwohl nicht aufgegeben, sondern blieb daneben bestehen, und zwar auch im K[apital Bd.] I. […]
Bemerkenswert ist, dass das historische Ergebnis dieser Umwälzung nicht ein kollektives oder staatliches Eigentum sein soll,
»wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit produzierten Produktionsmittel« (23/791). Diese Formulierungen sind nicht näher erklärt. Wahrscheinlich ist an bestimmte Formen der genossenschaftlichen und gemeindlichen Selbstverwaltung gedacht, die im Manifest umschrieben werden als »eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (4/482). […]
Ebenfalls aus der Erfahrung praktischer Kämpfe in der Periode der Ersten Internationalen ging MARX’ Schrift zur Pariser Kommune von 1871 ([Der] Bürgerkrieg [in Frankreich]) hervor. Marx sah in dieser von der Arbeiterklasse erkämpften Regierung »die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte« (17/342). Das Wesentliche dieses Beispiels »neuer geschichtlicher Schöpfungen« (340) sah er in ihrer Politik, die herkömmliche Herrschaft des Kapitals und des Staatsapparates nicht selbst zu übernehmen, sondern zu ersetzen durch wirtschaftliche und politische Selbstverwaltungsorgane und eine planvolle Koordination nach dem föderativen statt dem zentralistischen Prinzip (335-45). Zu dieser Selbstverwaltung gehörte auch, die Unterrichtsanstalten den Einflüssen von Zentralstaat und Kirche zu entziehen (339). Mit diesen Maßnahmen hatte die Arbeiterklasse keine Doktrinen oder »Ideale zu verwirklichen«, sondern »nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben« (343).
Diese Züge hob ENGELS in seiner Einleitung von 1891 zur Kommuneschrift noch einmal hervor […] zugunsten einer {wie Marx schrieb} »freien Föderation aller französischen Kommunen mit Paris«, weil »die Arbeiterklasse, einmal zur Herrschaft gekommen, nicht fortwirtschaften könne mit der alten Staatsmaschine« (17/623.). […]
Kritisiert wird gleichzeitig der »Aberglaube an den Staat« (624) in vielen Arbeiterparteien […] Der gleiche Tenor beherrscht die 1875 verfasste Kritik des Gothaer Programms, die v.a. gegen den staatsgläubigen Lassalleanismus gerichtet war. Zum einen sollen sich »im selben Maß […], wie die neue Gesellschaft sich entwickelt«, die Staatsaufgaben von Ordnungs- bzw. Verwaltungsaufgaben zu sozialen Aufgaben verschieben, v.a. »zur gemeinschaftlichen Befriedigung von Bedürfnissen […] wie Schulen, Gesundheitsvorrichtungen etc.« (19/19). Damit sollte aber keine neue Staatsbürokratie, sondern die Organisationsform autonomer Gegenmacht und Selbstverwaltung gestärkt werden. […]
Den Gewerkschaften sollte eine besondere Rolle beim Erlernen der Fähigkeit zur Selbstverwaltung zukommen. Sie, so ENGELS 1875 an August BEBEL, sind »die eigentliche Klassenorganisation des Proletariats, in der es seine täglichen Kämpfe mit dem Kapital durchficht, in der es sich schult« (34/128). Angestrebt werden sollte nicht nur Gesetzgebung, sondern »Verwaltung durch das Volk. Das wäre doch etwas« (ebd.).
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Unter dem Eindruck v.a. der Kommune verstärkten MARX und ENGELS ihre Bemühungen, ihr Klassenkonzept nicht als doktrinäre Prophezeiung, sondern als heuristische Methode zu verstehen, mit der geschichtliche Bewegungen zu entdecken wären. So scheute sich Engels nicht, 1872 in seinem Vorwort zum Manifest einzuräumen, dass zwar die »allgemeinen Grundsätze« des Manifests »im ganzen und großen« richtig geblieben seien, aber die »praktische Anwendung dieser Grundsätze […] überall und jederzeit von den geschichtlich vorliegenden Umständen abhängen« wird, sodass der Passus über die »revolutionären Maßregeln […] heute in vieler Beziehung anders lauten« würde (18/95). Mit der Fortentwicklung der großen Industrie, der politischen Lage und der Parteiorganisation der Arbeiterklasse und den »praktischen Erfahrungen« v.a. mit der »Pariser Kommune, wo das Proletariat zum ersten Mal zwei Monate lang die politische Gewalt innehatte, ist heute dieses Programm stellenweise veraltet« (96).
Mit der gleichen heuristischen Absicht studierten MARX und ENGELS systematischer die historischen Vorläufer demokratischer Selbstverwaltung und (entgegen ihrer früheren Annahme, dass der Kapitalismus alle früheren gesellschaftlichen Bindungen auflösen werde) die Möglichkeit von deren Wiederkehr. In seinen Briefentwürfen an Vera SASSULITSCH erinnert MARX 1881 an… das »Gemeineigentum eines mehr oder weniger archaischen Typus« (19/384f), das im Mittelalter zum »Hort der Volksfreiheit und des Volkslebens« (387) wurde und möglicherweise, wie MARX Lewis Henry MORGAN zitiert, eine »Wiedergeburt des archaischen Gesellschaftstypus in einer höheren Form« erleben könnte (386). […]
In seinen Altersbriefen kritisiert ENGELS die dogmatisierende Ableitung des Politischen aus dem Ökonomischen, die »als Vorwand dient, Geschichte nicht zu studieren« (an C.Schmidt, 5.8.1890, 37/436) und die »relative Selbständigkeit« und »Eigenbewegung« der Kräfte des politischen Feldes (27.10.1890, 490) zu ignorieren, denen gegenüber »die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens« nur »das in letzter Instanz bestimmende Moment« (an J. Bloch, 21.9.1890, 463) seien. […]
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Die inhaltliche Besonderheit der Klassenanalyen nach 1848 liegt nicht darin, dass statt eines revolutionären nun ein reformistischer Weg der Arbeiterbewegung zum Dogma gemacht wurde. Es wird vielmehr eine Pluralität von Entwicklungswegen für sinnvoll gehalten, die je nach den Phasen der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung und je nach Land verschieden sein können. Dabei kommt es primär nicht auf die Durchsetzungsform – etwa friedlich oder gewaltsam – an, sondern darauf, ob damit inhaltlich eine nachkapitalistische Gesellschaft vorbereitet wird oder nicht. […] Wenn in der kapitalistischen Gesellschaft Verbesserungen der Lebenslagen erkämpft werden können, dann bedeutet dies nicht, dass damit für ENGELS die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung unnötig geworden wäre.
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ENGELS in [Die] Lage und MARX im K[apital] [Bd.] I hatten, gestützt v.a. auf Andrew URE (1835), eine vereinheitlichende Herabdrückung der Arbeitsqualifikation und der Löhne v.a. der Frauen und Kinder zwar nur in der Textilindustrie (und dort auch zutreffend) beobachtet, aber diese zu einer Tendenzprognose für alle Industrien und Lohnarbeiter verallgemeinert. E.P. THOMPSON (1963/1987, 203-28) stellte stattdessen eine sehr uneinheitliche Entwicklung der Löhne und keine allgemeine Dequalifizierung fest. Spätere Datenanalysen bestätigen, dass es auch in anderen kapitalistischen Ländern im langfristigen Durchschnitt zur Zunahme der qualifizierten Facharbeit kam, ohne dass allerdings die großen Verlierergruppen der gering Qualifizierten und Entlohnten verschwanden (vgl. KUCZYNSKI 1961-72).
Die Heterogenität solcher äußerer Lagemerkmale musste jedoch nicht zur sozialen Fragmentierung führen, da die Arbeiter- und Volksmilieus weitgehend auch durch den Rahmen solidarischer Kohäsions- und Deutungsmuster zusammengehalten wurden. […]
Insgesamt zeigt THOMPSON auf, dass die Klassenentwicklung eine politische Koalitionsbildung verschiedenartiger, aber durch eine gemeinsame Alltagskultur verbindbarer Volksmilieus war, die durch einen unerbittlichen liberalen Gegner überhaupt erst zur Solidarisierung und zur Umstellung auf modernere Verhältnisse herausgefordert wurden. Diese Koalitionen konnten auch wieder zerfallen, wenn der Gegner eine koalierende Gruppe – wie die kleinen Hausbesitzer, die 1832 das Wahlrecht bekamen – zu sich herüberziehen konnte.
THOMPSON (1971, 1978a/b) ergänzt, hierin in weitgehender Übereinstimmung mit BOURDIEU, den Marxismus v.a. durch zwei miteinander verbundene Konzepte einer Theorie der Praxis. Wie sich Akteure praktisch verhalten, kann nicht unvermittelt aus den mit ihrer gesellschaftlichen Stellung verbundenen Interessen bzw. materiellen oder kulturellen Ressourcen – ihrem ökonomischen, kulturellen und sozialen »Kapital« (Bourdieu 1979 u. 1983) – abgeleitet werden. […]
THOMPSON grenzt sich ab von den statischen Klassenbegriffen des orthodoxen Marxismus und des soziologischen Positivismus, die ihm als epistemologisches Zwillingspaar gelten. Er fasst Klasse als »historische Kategorie« auf, die auch »den realen erfahrungsbestimmten historischen Prozess der Klassenbildung« einbeziehen müsse; man habe
»dem Begriff ›Klasse‹ viel zu viel (meist offensichtlich ahistorische) theoretische Beachtung geschenkt, dem Begriff Klassenkampf dagegen zu wenig. In der Tat ist Klassenkampf sowohl der vorgängige als auch der universellere Begriff. […] Klassen existieren nicht als gesonderte Wesenheiten, die sich umblicken, eine Feindklasse finden und dann zu kämpfen beginnen. Im Gegenteil: Die Menschen finden sich in einer Gesellschaft, die in bestimmter Weise (wesentlich, aber nicht ausschließlich nach Produktionsverhältnissen) strukturiert ist, machen die Erfahrung, dass sie ausgebeutet werden […], erkennen antagonistische Interessen, beginnen um diese Streitpunkte zu kämpfen, entdecken sich im Verlauf des Kampfs als Klassen und lernen diese Entdeckung allmählich als Klassenbewusstsein kennen. Klasse und Klassenbewusstsein sind immer die letzte, nicht die erste Stufe im realen historischen Prozess« (1978a, 264-67).
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um Auszüge aus dem Lexikonartikel „Klasse an sich/für sich“ des „Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus“, hrsg. von Wolfang Fritz Haug u.a., Bd. 7.1, Berlin 2008, 736–775