Die Idee der Gleichheit ist ein linker Kerngedanke. Tatsächlich ist die Arbeiter*innenklasse durch alltagskulturelle Gräben und Kon­kurrenzverhältnisse gespalten. Eine Herausforderung für emanzipatorische Politik.

Jan Kortes Buch »Die Verantwortung der Linken« erschien kurz bevor die Coronapandemie auch Deutschland erfasste und seitdem die gesellschaftliche Diskussion dominiert. Die Pandemie hat alltägliche Potenziale von Solidarität und Empathie deutlich gemacht. Parallel dazu sind antirassistische Bewegungen in Deutschland in ermutigender Weise sicht- und hörbarer geworden. Gleichzeitig zeigen sich in der Pandemie aber auch die nachwirkenden neoliberalen Verheerungen; solidarische Erfahrungen treffen auf gegensätzliche Verhaltensweisen im Alltag. Die antirassistische Kraft wird getrübt durch Gefahren der Debattenschließungen. Manches ist also anders als zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches von Korte, doch die meisten dort thematisierten Probleme und Bruchstellen bestehen fort. 

Kortes Ausgangspunkt ist die Forderung, dass linke Politik wieder stärker auf diejenigen eingehen müsse, die das Gefühl haben, »in den politischen Debatten nicht vorzukommen, nicht gehört oder gesehen zu werden« (Korte 2020, 13). Für ihn ist die »Idee des Gemeinsamen, die Idee der Gleichheit« die »Uridee der Linken« (ebd., 16). Diese Ausrichtung begründet Korte sowohl mit einer gebotenen sozialen Empathie als auch in seinem Sinne materialistisch: Arbeitnehmer*innen und Arbeitslose sieht er als zentrale Basis und Bezugsgröße der Partei DIE LINKE. 

Korte stützt sich in seinem Buch vor allem auf Erfahrungen aus seiner langjährigen Wahlkreisarbeit in Sachsen-Anhalt, einer Region, die von einer radikalen Deindustrialisierung und sozialen Deklassierung betroffen ist. Inspiration für seine Überlegungen zieht er außerdem aus zahlreichen Publikationen von Autor*innen wie Nancy Fraser mit ihrem Begriff des »progressiven Neoliberalismus«, von Oliver Nachtwey (»Die Abstiegsgesellschaft«), Wilhelm Heitmeyer (»Autoritäre Versuchungen«), Andreas Reckwitz (»Die Gesellschaft der Singularitäten«), Cornelia Koppetsch (»Die Gesellschaft des Zorns«), Christian Baron (»Ein Mann seiner Klasse«), Michael J. Sandel (»Vom Ende des Gemeinwohls«), Lutz Raphael (»Jenseits von Kohle und Stahl«) und Didier Eribon (»Rückkehr nach Reims«). 

Der Autor betont die Gleichrangigkeit antirassistischer und anderer menschenrechtlich-emanzipatorischer Kämpfe der letzten Jahrzehnte mit sozialökonomischen Kämpfen. Was er einfordert, ist eine angemessene Balance der Aufmerksamkeit für verschiedene Zielgruppen und Anliegen linker Politik, eine größere Empathie für von Deklassierungen betroffene Menschen und Gruppen und eine politische Sprache, die habituelle Abstände nicht vergrößert. Ausgangspunkt sind für ihn dabei bittere Erfahrungen materieller und beruflicher Degradierung ebenso wie solche der Aberkennung von Leistungen, Lebensweisen und Fähigkeiten sowie des Verlustes sozialer Räume, die Beruf, Organisierung und Alltagsorte boten. Das eigene Leben nicht mehr verlässlich planen zu können und nicht mehr an eine für das eigene engere Umfeld politisch gestaltbare und bessere Zukunft zu glauben, sind für ihn wesentliche Ursachen dafür, dass sich Teile der Arbeitnehmerschaft und Arbeitslose von der politischen Linken abgewandt haben. Sich selbst als progressiv verstehende Akteur*innen, so Korte, würden darauf vor allem mit einem überheblichen Gestus und einer Sprache reagieren, der es an Empathie, Respekt und sachlichem Verständnis fehle.

Der Wert der Arbeit

Korte unterstreicht den hohen Stellenwert von Arbeit für viele Menschen, der gesamtgesellschaftlich, aber auch in der Linken aus dem Blick geraten sei: Arbeit als Existenzgrundlage, aber auch als Ort der Begegnung, der kollektiven Organisierung, der Sinngebung und des Stolzes auf Erreichtes. Hier treffen sich reale Prozesse und politisch-kulturelle Haltungen: etwa der stetige Rückgang industrienaher Beschäftigung, akut drängende ökologische und technologische Umbauten, deutlich weniger gemeinsame Arbeitsplatz- und damit Organisierungserfahrungen, sinkende gesellschaftliche Wertschätzung für (oft männliche) manuelle und Industriearbeit. Es geht Korte um die Art und Weise, wie über die Beschäftigten, ihre Angehörigen und Milieus gesprochen wird, dass sie und ihre Kompetenzen nicht in die Wandlungsprozesse einbezogen, sondern überspitzt formuliert eher als lästige Relikte dargestellt werden, denen etwas gegeben wird (vielleicht ein Grundeinkommen), deren Arbeit, Fähigkeiten und Bedürfnisse aber wenig zählen und die viel zu wenig als Subjekte und Akteur*innen erscheinen. 

Joan C. Williams beschreibt in ihrem Buch »White Working Class« (2020), dass sie neben vielen positiven auch einige sehr verächtliche Reaktionen auf ihr Werben um ein Verständnis für die Situation der working classes erhalten habe. Der bekannte britische Kolumnist und Autor Owen Jones (2012) hat dies bereits vor fast einem Jahrzehnt eindrücklich beschrieben. Williams und Jones verfolgen einen dezidiert verbindenden Ansatz, klassenbezogene, antirassistische und Anliegen der LGBT+-Communities zu verknüpfen, ohne freilich über Differenzen hinwegzugehen (»solidarity across differences«). Korte beschreibt dies am Beispiel seines Großvaters, eines Stahlarbeiters, für den CDU-Mitgliedschaft und Katholizismus kein Widerspruch zu einer starken IG-Metall-Bindung und einem Arbeiterbewusstsein gewesen seien – eine Kombination, aus der dann auch eine gewisse Immunisierung gegenüber Rassismus erwachsen sei. Hier bezieht sich Korte etwa auf den britischen Publizisten Paul Mason.(1)

Schon Eric Hobsbawm (1994, 389f) skizzierte vor mehr als einem Vierteljahrhundert, wie mit dem Macht- und Bindungsverlust der sozialistischen und gewerkschaftlichen Organisationen und Milieus auch in Arbeitnehmerkreisen Rassismus wirkmächtiger wurde. Als zentral für diese Prozesse sieht er – neben ökonomisch-materiellen Verschlechterungen und einem ausgeprägten Bedrohungs- und Abstiegsgefühl – die Abwertung industrieller Arbeit, den Bedeutungsverlust von Arbeiterorganisationen und das Verschwinden der Zuversicht, einer aufsteigenden Klasse und ihren Organisationen anzugehören. 

Korte greift dies auf, indem er von einer Abwägung spricht, zu der Wähler*innen gebracht werden könnten:

»2009 gelang es uns, auch jene zu erreichen, die schon damals bestimmt einige Ressentiments verinnerlicht hatten, die unsere Positionen zur Einwanderung bestimmt nicht teilten. Aber es gelang uns, diese Menschen zu einer Abwägung zu bringen: Auch wenn ich als Wähler viele liberale Positionen der Linken nicht teile, so ist es dennoch die Partei, die am meisten mit meinem Leben zu tun hat. Das war damals unser Angebot. Und dahin müssen wir als ersten Schritt zurück, um als Linke danach eine neue Ära der Solidarität auszurufen, in deren Zentrum das Gemeinsame, das Verbindende und die reale Veränderung für die Drangsalierten dieser Gesellschaft steht. Egal, wie sie leben, lieben und wo sie herkommen.« (2020, 98)

Deutlich beschreibt Korte die Auswirkungen von Deregulierung und marktradikaler Globalisierung, des Selbstoptimierungsdrucks der vergangenen Jahrzehnte und der Nachwirkungen von Hartz IV: »Unsicherheit im Job, Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Leiharbeit und menschenunwürdige Löhne sind Gewalt« (ebd., 114). Er führt dies am Beispiel der Beschäftigten der Paketlieferdienste plastisch aus. Die Coronapandemie mag vielleicht – unzureichende – Verbesserungen für Beschäftigte im Gesundheitsbereich bewirken, für Beschäftigte in der Logistik oder für Verkäufer*innen bleibt die (Arbeits-)Lage unverändert schlecht, wie kürzlich etwa Philipp Tolios (2021) in seiner Studie zu »systemrelevanten Berufen« zeigte.

Was also tun?

Jan Korte nennt einige programmatische Eckpunkte, die in der Partei DIE LINKE weitgehend unstrittig sein dürften: eine radikale Abkehr von der Privatisierungspolitik, die Stärkung öffentlichen Eigentums und öffentlicher Dienstleistungen, die Wiederherstellung eines Sozialsystems, das persönliche Sicherheit gewährleistet, sowie eines gestaltungsfähigen Staates und schließlich die dafür erforderliche Umverteilung in der Steuer- und Wirtschaftspolitik. Doch sollte die Reichweite vernünftiger politischer Forderungen in Zeiten von Polarisierungen und Unsicherheiten nicht überschätzt werden. Die Betonung tiefer liegender Grundlagen linker Politik ist daher berechtigt: Empathie, Solidarität und Gleichheit. Gerade der Gleichheitsbegriff bietet dabei eine gute Möglichkeit, die in der Linken in Deutschland derzeit oft bemühte »verbindende« Politik auszuformulieren, mehr noch als der traditionell verwendete Begriff der sozialen Gerechtigkeit, denn Gleichheit im Sinne des englischen equality schließt sowohl individuelle (Bürger*innen- und Menschen-) als auch soziale Rechte ein.

Ohnmacht überwinden

Linke Politik, so Korte, sollte an frühere Erfolge erinnern: Was bereits einmal gelungen ist, kann, wenn auch sicherlich in anderer Gestalt, wieder gelingen. Dazu gehören für Korte sowohl soziale Errungenschaften und Bewegungen (Kampf um Gewerkschaftsrechte, Arbeitsrechte, Tarifverträge und das Frauenwahlrecht sowie der kompromisshafte Aufbau des Sozialstaates, später etwa die Einführung des Mindestlohns) als auch andere emanzipatorische Kämpfe (Geschlechterverhältnisse, Ehe für alle) und nicht zuletzt positive Erfahrungen internationaler Solidarität (Chile, Südafrika) und des europäischen antifaschistischen Widerstands. Geschichts- und Traditionsbewusstsein sind für Korte mithin wesentliche Bestandteile der Rückgewinnung von Zukunftsvertrauen und der Überwindung von Ohnmacht. Auch ein vermeintlich moderner Kapitalismus wird es jedenfalls nicht wieder richten, denn: »Der Kapitalismus braucht die Demokratie nicht, das kann man zurzeit gut in China besichtigen.« (Korte 2020, 64) 

Es bedarf dabei vielleicht einer größeren Offenheit für seriöse Zeitdiagnosen auch solcher Wissenschaftler*innen, die der Linken fernstehen. So geht Korte auf Philip Manows »Die Politische Ökonomie des Populismus« (2018) ein, ein Buch, das relativ spät und nur von wenigen Linken (Christa Luft, 2019, ist hier eine Ausnahme) reflektiert wurde, obwohl es auch für Linke zentrale Fragen stellt. Auch Veröffentlichungen aus dem Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu »Rechtspopulismus und Gewerkschaften« sind als wichtige, zugleich leider seltene Beispiele zu nennen, die die ökonomischen und betrieblich-arbeitsweltlichen Ursachen der gesellschaftlichen Brüche sichtbar machen (vgl. Sauer et al. 2018; Detje/Sauer 2021). Weiterhin sei hier auf einige Arbeiten von Horst Kahrs (2020) verwiesen, die sich mit ökonomisch-materiellen Ursachen des tiefen Krisenbewusstseins von Arbeitnehmerschichten befassen. Allzu zahlreich sind solche Deutungsversuche jedoch nicht, und das macht einen Teil der Probleme linker Politik aus. 

Schließlich geht es auch um einen Bildungselitismus, so etwa in Gestalt der ebenso anmaßenden wie historisch vielfach widerlegten Annahme, Bildungsabschlüsse seien mit einer umfassenden, auch humanen Bildung identisch. Bildungselitär ist vor allem eine kulturelle und sprachliche Abgrenzung, mal bewusst, mal eher unbewusst, weil unreflektiert (vgl. Bitis/Borst 2013; Altieri/Hüttner 2020, ABG 2020/2), oder wenn der »rohe« Konsumismus der »Unterschichten« karikiert oder angeprangert wird, obwohl doch der Lebensstil der »gebildeten« Mittelschichten die ökologische Katastrophe viel stärker beschleunigt. Bildungselitär ist es, wenn von »bildungsfernen Schichten« und »sozial Schwachen« gesprochen wird, oder individuelles Verhalten, das vielleicht selbstschädigend, nicht aber fremdschädigend ist, moralisch angeprangert wird: Alkohol-, Zigaretten- und anderer Drogenkonsum, wirklich oder vermeintlich gesundes Essen, Fitness, eine »richtige« innere Einstellung zur Gesundheit, Übergewicht und anderes mehr. Gebotener wäre es für Linke doch, über Armut und Gesundheit zu sprechen, über Fremdschädigung anstelle von Rücksichtnahme, nicht nur in Pandemiezeiten, über Inklusion und Ableismus. 

Der Autor arbeitet, um den Kerngedanken des »niemals herabschauen« zu illustrieren, gern mit Musikbeispielen, so von Tom Petty (»Baby, even the losers / get lucky sometimes / even the losers / keep a little bit of pride«) und von Ton Steine Scherben (»Du bist nicht besser als der neben dir«). Joan C. Williams nennt Bruce Springsteen als einen der wenigen US-amerikanischen Künstler, der mit Empathie das Leben der traditionellen Arbeiterschaft und der Deklassierten darstelle. Und Christian Baron (2020) fordert in einem Interview mehr »Erzählung von unten«, ohne jeden Anflug von sozialistischem Realismus, aber mit Empathie: »Nur Empathie ermöglicht uns, die Kompliziertheit der Dinge zu begreifen.«

1. »Während die Generation meines Vaters Antirassismus, Internationalismus und autodidaktischen Altruismus geatmet hatte, versorgte der Neoliberalismus die entgegengesetzten Neigungen mit Sauerstoff. Über drei Jahrzehnte hinweg unterspülte und zersetzte dies den Widerstand der Arbeiterklasse gegen den Neoliberalismus. Und als der Neoliberalismus selbst zusammenbrach, wurde nicht länger der herkömmliche Konservatismus mit Sauerstoff versorgt, sondern der autoritär rechtsextreme Populismus.« (Paul Mason, zit. nach Korte 2020, 79.)

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