Kerekes glaubt nicht, mit solchen Petitionen einen Arbeitskampf gewinnen zu können. Sie hofft aber, Kolleg*innen dadurch besser organisieren zu können, weswegen sie parallel zur Petition eine Facebook-Gruppe gegründet hat: »Gerade ist es noch eine ›Auskotzgruppe‹. Alle schreiben, wie schlimm ihre Arbeitsbedingungen sind.« Jetzt will sie selber aktiv werden und plant, ein Onlinetreffen zu organisieren. Für mehr fehlen leider Zeit und Unterstützung, denn noch mache sie eigentlich alles alleine, sagt sie. Dabei hat Kerekes andere Vorstellungen: »Mein Wunsch wäre, die Frauen, denn es sind ja vor allem Frauen, die jetzt das erste Mal über ihre miesen Arbeitsbedingungen posten, zu organisieren.« Dass es sich meist um Frauen handelt, bestätigt auch Nicole Mayher-Ahuja, Professorin für Arbeitssoziologie an der Universität Göttingen: »Die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel werden seit Jahrzehnten kontinuierlich schlechter. Vollzeitstellen sind stark zurückgebaut worden. Stattdessen gibt es unglaublich viele Teilzeitstellen und Minijobs.« Vielen reicht das verdiente Geld nicht mal zum Überleben, ergänzt Mayer-Ahuja: »Zehntausende Verkäuferinnen verdienen so wenig, dass sie gleichzeitig aufstocken, also ALG II beantragen müssen.« Kerekes hat versucht, dafür Unterstützung von ihrer Gewerkschaft Verdi zu bekommen – bislang ohne Erfolg. Sie sieht die Gründe beim niedrigen Organisierungsgrad in ihrer Branche: »Im Einzelhandel sind nur wenige gewerkschaftlich organisiert, und ich glaube, die Gewerkschaften interessieren sich vor allem für Bereiche, in denen sie schon viele Mitglieder haben.« Sie müssen mehr werden, damit Verdi sich für sie interessiert – und sie brauchen Verdi, um mehr zu werden. Kerekes trifft hier auf ein Problem, das andere Beschäftigte in Branchen mit niedrigem gewerkschaftlichem Organisationsgrad ebenfalls kennen: Auch Gewerkschaften müssen mit Ressourcen haushalten und überlegen, wo sich der Einsatz für sie lohnt. Die Überforderung ist Kerekes deutlich anzumerken, wenn sie sagt: »Ich mache das eigentlich alles alleine«. Die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Einzelhandel geraten aktuell allerdings wieder aus dem Fokus, stattdessen wird über die Öffnung von Geschäften am Sonntag, also über eine Sieben-Tage-Woche und die Absenkung des Mindestlohns diskutiert. Kerekes ist fassungslos, obwohl sie von der Politik ohnehin wenig erwartet: »Die klatschen im Bundestag, bedanken sich in ihren Reden bei uns Systemrelevanten und verpassen uns gleichzeitig einen Arschtritt.«
Streik der Erntehelfer
Drugan Ion ist Mitte 40 und war bereits mehrmals als Erntehelfer in Deutschland. Wie 2019 war er dieses Jahr wieder bei Spargel Ritter in Bornheim, in der Nähe von Bonn, jenem Betrieb, bei dem es Mitte Mai einen wilden Streik gab, der bundesweit für Aufsehen sorgte. Überhaupt sind die Arbeitsbedingungen von Arbeitsmigrant*innen in der Landwirtschaft, aber auch in der Fleischindustrie in diesen Wochen viel mehr Thema als sonst, was vor allem an einigen spektakulären Fällen massenhafter Infektionen von Beschäftigten lag. So wurde etwa Ende April bekannt, dass 300 Arbeiter*innen in einem Schlachthof in Baden-Württemberg positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Kurz darauf gab es etwa 200 Corona-Infizierte in einem Schlachtbetrieb in Nordrhein-Westfalen. Dann wurde bekannt, dass sich beim Fleischriesen Tönnies an dessen Hauptsitz in Rheda-Wiedenbrück in Nordrhein-Westfalen mehr als 1500 Arbeiter*innen mit COVID-19 infiziert hatten, woraufhin eine bundesweite Debatte um die Arbeitsbedingungen und das Subunternehmer-System in der Fleischindustrie entbrannte. Das Subunternehmer-System ist aber genauso in der Landwirtschaft und anderen Bereichen der Saisonarbeit etabliert. Kritisiert wurden auch die Unterkünfte für Saisonarbeitskräfte, die häufig auf engstem Raum leben müssen. »Corona hat die Situation der Saisonarbeiter und Arbeitsmigranten überhaupt erst sichtbar gemacht«, sagt Jens Zimmermann, Gewerkschaftssekretär bei der IG BAU und in Westfalen für den Agrarsektor zuständig. Allerdings habe das gestiegene mediale Interesse kaum zu Verbesserungen in der Landwirtschaft geführt. »Den meisten Betrieben geht es nicht darum, die Situation für die Beschäftigten zu ändern, etwa die Löhne zu erhöhen oder die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern. Die Unterbringungen und Arbeitsstätten, die ich in den vergangenen Wochen gesehen habe, nehmen es überwiegend nicht so genau mit dem Infektionsschutz«, sagt Zimmermann. Die Unterbringung und die Versorgung waren auch bei Spargel Ritter in Bornheim ein Problem, sagt Erntehelfer Ion. Er lebte mit etwa 200 anderen Saisonkräften zwischen Bahngleisen, Friedhof und Kläranlage in einem Containerdorf. Die hygienischen Bedingungen seien dort mies gewesen, und auch das Essen war laut Ion schlechter als im vergangenen Jahr. Trockenes Brot und ungekochter Reis führten dazu, dass viele der Saisonarbeitskräfte anfingen, sich selbst zu versorgen, obwohl der Betrieb zu ihrer Verpflegung verpflichtet war. »Die Bedingungen waren zwar schlechter als vergangenes Jahr, aber die hätten wir noch verkraftet. Schlimmer war die Sache mit dem Lohn«, erzählt Ion. Unter den Beschäftigten rumorte es in den Tagen vor dem Streik, denn einige der Saisonarbeitskräfte, die früher abreisen mussten, hätten von dem unter Insolvenzverwaltung gestellten Betrieb viel zu wenig Geld bekommen, manche sogar weniger als 200 Euro für ihre gesamte Arbeitsleistung. Bei Ion und vielen Kolleginnen und Kollegen wuchs die Sorge, ebenfalls deutlich weniger als vereinbart zu bekommen. »Dann hat eine Gruppe der Arbeiter beschlossen, wir arbeiten nicht weiter, bis wir den Lohn für unsere bisher geleistete Arbeit bekommen haben.« Am Streik hätten sich mehrheitlich jene beteiligt, die zum ersten Mal auf dem Hof gearbeitet haben, sagt Ion. Eine kleinere Gruppe war gegen die Arbeitsniederlegung, allerdings sei diese Gruppe auch weniger von der Vorenthaltung der Löhne betroffen gewesen. Unterstützer*innen wie Beschäftigte berichten von Spannungen zwischen den beiden Gruppen, den Streikenden und den Nicht-Streikenden, bei denen offenbar auch rassistische Spaltungen eine Rolle gespielt haben. Unterstützung bekamen die Streikenden in Bornheim von der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAU, die von dem Konflikt aus dem Radio erfuhr und noch am gleichen Tag Leute nach Bornheim schickte. »Über Dolmetscher haben wir erfahren, dass es ein akutes Problem mit der Bezahlung gibt und unsere Hilfe angeboten«, sagt Max Schnetker von der FAU Bonn. Während sich die Beschäftigten auf ihren spontanen Streik konzentrieren konnten, organisierte die FAU samt Unterstützerkreisen aus der linken Szene der Umgebung eine Demonstration in Bornheim. Auf Videoaufnahmen im Internet sind einige Reden in rumänischer Sprache dokumentiert. Sie zeigen, dass nicht nur ausbleibender Lohn die Wut der Arbeiter*innen beförderte. Eine Erntehelferin erzählt etwa, wie sie seit Beginn des Streiks in dem Containerdorf von einem Security-Team behandelt wird: »Sie bewachen uns seit drei Tagen Tag und Nacht, als wären wir im Gefängnis.« Eine andere Frau beschreibt, wie die Saisonkräfte »jeden Tag, vom Morgengrauen an, ohne Schutzmasken vor dem Mund, eingepfercht in Bussen kamen«. Sie seien auf dem Feld beleidigt und misshandelt worden wie Hunde und das Essen sei nicht einmal für Schweine geeignet gewesen. Nach einer weiteren Demo in Bonn ging eine Gruppe der rumänischen Saisonkräfte zum Konsulat ihres Landes und erzwang damit, dass der Konsul aktiv wurde. So kam am 20. Mai sogar die rumänische Arbeitsministerin Violeta Alexandru nach Bornheim, um Gespräche zu führen. Sie reiste zwar kurz darauf wieder ab, aber dass sie überhaupt gekommen war, wurde bereits als Zeichen gewertet, dass der spontane Streik Wirkung zeigte. Einige der Arbeiter*innen gingen mittlerweile wieder zurück nach Rumänien, andere suchten sich Arbeit auf anderen Höfen. Nicht alle haben das Geld bekommen, das sie erwartet haben – auch Drugan Ion nicht. »Für drei Wochen habe ich nur 600 Euro gesehen. Es hätte mehr als das Doppelte sein müssen.« Der Aktivist Christian Frings war in den Tagen des Arbeitskampfes häufiger in Bornheim und Teil der Unterstützungsstruktur. »Bemerkenswert ist, dass einige der Feldarbeiterinnen und -arbeiter sich bei der Suche nach neuen Jobs erst einmal die Unterkünfte und die Arbeitsverträge angeschaut haben«, sagt er. Und auch IG-BAU-Sekretär Zimmermann sieht für sein Gebiet, zu dem Bornheim nicht zählt, eine Veränderung im Vergleich zu den Vorjahren: »Für die Arbeiter gab es in der Landwirtschaft selten so gute Voraussetzungen wie jetzt, denn es sind wegen der Corona-Krise deutlich weniger Saisonarbeitskräfte als sonst da.« Die würden dann teilweise von anderen Höfen abgeworben. Manche Felder seien aus Mangel an Arbeitskräften gar für die private Ernte freigegeben worden. Unterstützer Frings zieht eine positive Bilanz. Man habe gesehen, dass sich Linke an solchen realen Kämpfen beteiligen können: »Wir müssen die Augen aufhalten, dann können wir uns auch nützlich machen.« Denn dass Linke überhaupt von solchen wilden Streiks erfahren, ist nicht selbstverständlich. Anders als sozialrevolutionäre Aktivist*innen und auf Klassenpolitik fokussierte Journalist*innen haben die spontan Streikenden häufig andere Sorgen, als diese häufig illegale Form des Arbeitskampfes an die große Glocke zu hängen. Drugan Ion jedoch überlegt, vor Gericht zu ziehen, um für seine Arbeit bei Spargel Ritter doch noch den kompletten Lohn bekommen.
Was wir aus den Kämpfen lernen können
Zu Beginn der Pandemie waren im linksliberalen Feuilleton ausgesprochen hoffnungsvolle Artikel zu lesen, die Corona-Pandemie läute das endgültige Ende des Neoliberalismus ein. Davon ist, so lässt sich vorläufig bilanzieren, in den betrachteten Branchen wenig zu spüren. Die Beschäftigten berichten von schlechteren Arbeitsbedingungen und haben Angst um ihre Gesundheit. Der neoliberale Kapitalismus könnte durch Corona sogar eine Renaissance erfahren: Eine Intensivierung der Ausbeutung, die Stützung der Kapitalseite durch die Regierungen, Appelle an die Arbeiterklasse, die Gürtel zum Wohle der Wirtschaft enger zu schnallen, deuten sich bereits jetzt an. Wie allerdings die Bedingungen aussehen werden nach oder während der sich verschärfenden Corona-Krise, das ist heute kaum vorhersehbar. Es zeichnen sich allerdings drei Tendenzen ab. Angesichts der geschilderten Beispiele wird erstens einmal mehr klar, wie vielfältig die Klasse der Arbeiter*innen ist – sowohl hinsichtlich ihrer Beschäftigungsverhältnisse als auch in ihrer sozialen Zusammensetzung. In den vergangenen Jahren hat sich in der Debatte zwischen sozialer Frage auf der einen Seite und Identitätspolitik auf der anderen Seite eine zweifelhafte Polarisierung zwischen Klassenfragen und Fragen des Antirassismus und des Feminismus entwickelt. In konkreten Kämpfen aber wird sichtbar, dass diese Gegensätze in den Unterdrückungsverhältnissen so nicht existieren. Die Pflegekräfte sind mehrheitlich weiblich, als Arbeiterinnen in sogenannten Frauenberufen ist ihre Arbeit gesellschaftlich abgewertet und ergo schlechter bezahlt. In den privatisierten, outgesourcten Krankenhausbereichen, in denen die Menschen weniger abgesichert und schlechter bezahlt sind, finden sich überdurchschnittlich viele migrantische Arbeiter*innen. Ähnlich ergeht es Verkäuferinnen im Einzelhandel, die selbst in der Gewerkschaft wenig Beachtung finden. Ihre Arbeit wird in der Öffentlichkeit immer noch als »Zuarbeit der Hausfrau« gewertet, auch wenn die Frauen oftmals den Familienunterhalt (mit-)bestreiten oder ganz für sich selbst sorgen. Kund*innen begegnen ihnen mit der Respektlosigkeit und Ignoranz, mit denen Frauen der unteren Klassen oftmals bedacht werden. Die Spargelarbeiter*innen aus osteuropäischen Staaten sind fast vollkommen entrechtet. Die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft, aber auch in der häuslichen 24-Stunden-Pflege oder in der Fleischindustrie sind von der Überausbeutung migrantischer Arbeitskräfte geprägt. »Hier zeigt sich deutlich das Zusammenspiel wirtschaftlicher Überausbeutung mit rassistischen Diskursen über Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Ihnen wird unterstellt, sie kämen einzig nach Deutschland, um Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Solche Diskurse legitimieren die Überausbeutung ideologisch. Ergänzt wird dies durch die relative Entrechtung der ausländischen ArbeiterInnen in Deutschland: Sie haben kein Wahlrecht, können also selbst nur bedingt an politischen Prozessen teilhaben, um an der Situation etwas zu ändern.«