Aktive Bürgerbeteiligung ist gewollt – vor allem bei Großprojekten. Partizipation ist Teil von Gesetzgebungsprozessen. Sehr demokratisch, könnte man meinen: der Bürger als Souverän. Doch immer wieder entpuppt sich diese Art der Demokratisierung als Beschäftigungstherapie, um breite Proteste zu verhindern und mittels Beteiligung zu regieren.

Regieren durch Partizipation

Aktivbürgerschaft ist kein eindeutiger Gradmesser mehr für eine ›lebendige‹ Demokratie, Aktivsein ist seit dem neoliberalen Um- und Abbau des Sozialstaates ein Muss. Nur wer sein Leben selbstverantwortlich in die Hand nimmt, wer sich flexibel und kreativ gibt und auf seine Gesundheit achtet, ist heutzutage ein marktkompatibler Bürger. Die kapitalisierbare Selbstführung der Einzelnen gehört ebenso zu einer neoliberalen Regierungsweise wie eine partiell ausgeweitete Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen. Selbstbestimmung, Freiheit und Partizipation mutieren von demokratischen Versprechen zu Instrumentarien von Herrschaft. Mittels kapitalisierbarer Aktivierung etabliert sich in einer autoritärer werdenden Demokratie (Demirović 2013) ein neues Modell von (Staats-)Bürgerschaft: die entrepreneurial citizenship (Sauer 2013). Soziale und politische Rechte werden an die aktive Marktteilnahme gebunden. Konsumstarke marktkompatible Partizipation gilt als Kriterium für Zugehörigkeit und strukturiert auch das europäische Grenzregime, teilt in erwünschte und unerwünschte (›Armuts‹-)Migration. Nur für jene, die in ökonomischer Hinsicht einen Gewinn versprechen, gilt das nationale wie europäische Recht auf Mobilität. Das Regieren durch Partizipation führt nicht zu einer größeren Mitbestimmung oder der Ausweitung von Repräsentation. Die konstitutiven Missstände liberaler Demokratie bleiben erhalten. Hinzu kommt, dass politische Entscheidungen immer weniger in den Parlamenten getroffen werden. Aber auch andere Institutionen repräsentativer Demokratie, wie Parteien und Verbände, stehen seit Längerem in der Kritik. In jüngster Zeit ist das am ausdrücklichsten in einem Slogan der 15M-Bewegung gegenüber der spanischen Regierung und den etablierten Parteien formuliert worden: »Ihr repräsentiert uns nicht. Das hier ist keine Demokratie.« Wenn das mit der Demokratie nicht mehr richtig funktioniert, leben wir dann in einer Postdemokratie? Von Postdemokratie zu sprechen bedeutet, von der Deformierung einer wenn nicht idealen, so doch bestmöglichen liberalen Demokratie auszugehen, der es in ihrer sozialstaatlichen Ausprägung bis vor wenigen Jahrzehnten noch gelungen war, einen adäquaten Ausgleich zu den Härten des Kapitalismus zu bieten. Eine solche romantisierende Sicht auf den Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre ignoriert, dass die soziale Absicherung über das männliche Ernährermodell in der Familie patriarchal strukturiert war und auf unbezahlter, abgewerteter weiblicher Sorge- und Reproduktionsarbeit im Privaten basierte. Die nostalgische Rede von Postdemokratie erfasst nicht das grundlegende Problem, das in der spezifischen Bauweise liberaler Demokratie begründet ist. Liberale repräsentative Demokratie ist jene historische Form, die sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts als Kompromiss zwischen Besitzenden und Armen durchsetzen konnte und Letzteren Anlass dafür gab, sich den Mächtigeren zu unterwerfen. Wenn die Effektivität von staatlicher Herrschaft durch Partizipation nicht erhöht werden konnte, war ihre Grenze schnell erreicht (Demirović 2013). In der Geschichte liberaler Demokratie ging es nie darum, dass alle gleichberechtigt an der Gestaltung des gemeinsamen Zusammenlebens teilnehmen, sondern darum, den (zivil)gesellschaftlichen Frieden zu bewahren. Im Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit gelang es, die Schere zwischen Arm und Reich in einem gesellschaftlich verträglichen Ausmaß zu halten– nicht zuletzt durch die Repatriarchalisierung des Geschlechterverhältnisses. Die Frauenbewegung und andere soziale Bewegungen brachen dieses liberale sozialstaatliche Arrangement nachhaltig auf – mit Konsequenzen für das Verständnis von aktiver Bürgerschaft. Letztere weitet sich seit den 1960er Jahren aus, von Petitionen bis Demonstrationen. Die liberale ist also weder in ihrer repräsentativen noch in ihrer plebiszitären Varianten die beste oder einzig mögliche Form von Demokratie. Es lassen sich andere Architekturen (er)finden.

Widersprüchliche Architektur

Teilhabegrenzen sind in der liberalen Form von Demokratie nicht einfach zu beseitigen, sie gehören zu den Aporien dieser Form. Das Problem der Partizipation erwächst aus der grundlegenden Trennung zwischen dem Staat auf der einen und der (Zivil-)Gesellschaft auf der anderen Seite. Repräsentative Demokratie ist nicht zu trennen von Nationalstaatlichkeit und gilt in diesem Sinne als ›politische Demokratie‹, die von der Gesellschaft, von allen, die repräsentiert werden sollen, geschieden ist – das hat Marx bereits an Hegel kritisiert. Die Trennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen gilt in der bürgerlichen liberalen Demokratie als notwendige politische Arbeitsteilung. Aus ihr erwächst die Unabdingbarkeit politischer Repräsentation. Diese Setzung führt zu einer weiteren Aporie: Die aktive politische Partizipation von allen ist gar nicht erwünscht. Sie wird durch Repräsentation gebändigt. Doch Repräsentation ist immer ausschließend, der Anspruch der Gleichheit ist mit diesem Instrument nicht durchsetzbar. Er ist im Gegenteil der Motor einer immer nur als zukünftig verstandenen Demokratie. Eine umfassende gleichberechtigte Partizipation aller ist nur als Telos, als prinzipiell unendliche Ausdehnung von Beteiligungsrechten zu verstehen, um die gekämpft werden muss. Das nie einlösbare Versprechen einer kommenden Demokratie, einer in die unendlich verschobene Zukunft gerichteten Demokratisierung, ist das Fundament dieser vom Sozialen getrennten politischen Demokratie. Ist aber Repräsentation nicht gerade für politische Artikulation notwendig? Braucht es nicht den Widerspruch zwischen Repräsentation und Partizipation, um die Möglichkeit des bürgerlichen Engagements aufrechtzuerhalten? Anders gefragt: Ist nicht gerade der Anspruch einer Partizipation aller zynisch, wenn dieses alle ohnehin nur diejenigen meint, denen staatsbürgerliche Zugehörigkeit zugestanden wird? Wie auch immer der demos definiert wird – als StaatsbürgerInnen oder als BewohnerInnen – in der liberalen Logik darf sich nicht ereignen, dass alle teilnehmen, auch wenn neoliberale Governance-Strategien gegenwärtig auf den Ausbau von regierbarer Partizipation setzen. Das kann zu einem gefährlichen Spiel werden. Die Schwelle, an der eine herrschaftsfunktionale Bürgerbeteiligung kippt und das Potenzial entwickelt, diese Regierungsform durch Selbstorganisierung so umzubauen, dass eine neue Form von Demokratie entsteht, ist nicht kontrollierbar.

Radikale Inklusion und präsentische Demokratie

In den Demokratiebewegungen in Südeuropa wird die unmögliche Partizipation aller in den letzten Jahren zur Selbstorganisierung der Vielen. In den Solidaritätsnetzwerken und Initiativen, die in Spanien und Griechenland aus den Platzbesetzungen 2011 hervorgegangen sind, geht es nicht um Partizipation in der Logik liberaler Demokratie. Traditionelle Formen von Repräsentation werden zurückgewiesen, die Bestätigung des Fundaments liberaler Demokratie wird verweigert. Auch die Arbeitsteilung zwischen der politischen Demokratie der Regierung und der im Aktivbürgertum verharrenden Zivilgesellschaft wird aufgekündigt: Es werden keine Forderungen mehr an die politischen RepräsentantInnen gestellt. Die etablierte Form der politischen Arbeitsteilung hat sich im Rahmen der Austeritätspolitik endgültig als Farce herausgestellt. Die unmögliche Partizipation aller in der Logik liberaler Demokratie wird von den Bewegungen zu einem neuen demokratischen Verständnis von Teilnahme gewendet: das der radikalen Inklusion. Es weist die Dynamiken der regierbaren Individualisierung zurück und geht von der wechselseitigen Relationalität mit anderen und der Umwelt aus. Affektive Bezogenheit und Praxen der Solidarität stehen im Vordergrund, nichtidentitäre Aufteilungen in ›wir‹ und ›sie‹. Von Beginn an ist soziale Reproduktion in den Bewegungen neu organisiert worden und spielt eine immer bedeutendere Rolle in den sich aus den Besetzungen entwickelnden Solidaritätsnetzwerken im Gesundheits-, Bildungs- und Wohnbereich (vgl. Benos in LuXemburg 1/2014). Feministische Überlegungen zur Neuorganisation von Arbeitsteilung und Reproduktion erlangen hier neue Aktualität, etwa jene des Madrider Kollektivs Precarias a la deriva zur cuidadanía zu einer auf Sorge beruhenden politischen Sozialität. Radikale Inklusion bedeutet auch, dass immer mehr gesellschaftliche Bereiche durch offene Versammlungen gestaltet werden, durch möglichst egalitäre Weisen der Teilnahme, um gemeinsame Angelegenheiten in den Kommunen oder in Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen selbst zu organisieren und Privatisierungen etwa von Gütern wie Wasser abzuwenden. Solidaritätsnetzwerke bilden sich durch und mit denjenigen, die im Zuge von Sparpolitiken aus der Krankenversicherung herausfallen, wie die Sozialkliniken in Griechenland (als Teile von Solidarity4all1) oder das Netzwerk Yo Sí, Sanidad Universal in Spanien, das MigrantInnen unterstützt. Auch die erfolg- und einflussreiche spanische Plattform für Hypothekenbetroffene (PAH) und all die Initiativen, die Essen für Bedürftige sammeln, verstehen sich nicht einfach als soziale Hilfsdienste in der Not, sondern als politische Praxen zur Entwicklung neuer sozialer Infrastrukturen (vgl. Candeias in LuXemburg 3, 4/2013) und einer neuen demokratischen Weise des Zusammenlebens. Die Praxen und Instituierungen radikaler Inklusion sind nicht allein in der Selbstorganisierung durch Versammlungen zu finden. Eine der zentralen Frage ist, wie konkrete soziale Räume so organisiert und strukturiert werden können, dass sie für jede und jeden offenbleiben, eine Begegnungsmöglichkeit jenseits von vorgefertigten Konzepten eröffnen. Horizontalität spielt als Instrument eine wichtige Rolle: Räume und Sprechsituationen werden so gestaltet, dass Interessierte sich ermächtigt und ermutigt fühlen zu sprechen und ihnen respektvoll zugehört wird und ihre Stimme zählt. Das bedeutet nicht – wie oft missverstanden wird –, dass alle Entscheidungen in (langen) Versammlungen getroffen werden. Schon in der Organisierung der Plätze gab es verschiedene Komitees und Arbeitsgruppen. Horizontalität war und ist an vielen Orten nicht Dogma, sondern der Ausgangspunkt, von dem aus mit unterschiedlichen Formen von Delegation, abhängigen Mandaten und Räten bis zur Bildung neuer Parteiformen experimentiert wird. In Spanien lässt sich das gerade an Podemos (Wir können) beobachten, einer vornehmlich aus der 15M-Bewegung entstandenen neuen Partei (vgl. Iglesias in LuXemburg Online). Erst ein paar Wochen vor der Europawahl im Frühsommer 2014 gegründet, gewann sie auf Anhieb beachtliche fünf Sitze im Europaparlament. Seit vergangenem Sommer entsteht im Hinblick auf die Kommunalwahlen 2015 eine weitere neue Organisationsform, die sich als ›Raum‹ versteht, in dem BürgerInnen, Leute aus den sozialen Bewegungen, Kollektive und Parteien wie Podemos zusammenarbeiten. Die lokalen Vereinigungen nennen sich Ganemos (Wir gewinnen), versehen mit dem Zusatz der jeweiligen Kommune: Ganemos Madrid, Ganemos Málaga oder auf katalanisch Guanyem Barcelona, deren Spitzenkandidatin Ada Colau, eine bekannte Aktivistin der PAH, ist.2 Ganemos will kommunalpolitische Institutionen erobern und trotzdem noch weniger zu einer Partei werden als Podemos. Stattdessen soll eine demokratische Rebellion losgetreten werden, die ›reale Demokratie‹ in der Jetztzeit (Benjamin 1974). Es geht um eine andere Demokratie, die – entsprechend dem zentralen Slogan von Ganemos Madrid (La democracia empieza en lo cercano) – im Lokalen, in der Nähe, in der Nachbarschaft, in der Kommune beginnt und dort eine Stadt schafft, die für jede und jeden ein Leben in Würde ermöglicht, in der nachhaltig und gerecht agiert wird. Auf kommunaler Ebene wird ausprobiert, was auf die Landesebene und auf ganz Europa ausgeweitet werden soll. All das sind Komponenten eines demokratischen konstituierenden Prozesses (Hardt/Negri 2013). Die darin entstehende neue Form von Demokratie, die ›reale Demokratie‹ in der Jetztzeit habe ich als präsentische Demokratie bezeichnet (vgl. Lorey in LuXemburg 4/2012). Präsentische Demokratie durchbricht liberaldemokratische Zeiten und Räume. Sie wird zu einer neuen Form von Demokratie, die auf Affektivität und Relationalität basiert und in der ein ›gutes Leben‹ für die Vielen möglich ist. Präsentische Demokratie lebt nicht von einem aufgeschobenen Versprechen in die Zukunft. Sie wird in der Aktualität, in der Jetztzeit der Kämpfe bereits praktiziert. Neue Werkzeuge im konstituierenden Prozess einer präsentischen Demokratie sind zwei 2014 veröffentlichte Chartas: die Carta por la democracia und die Charter for Europe.3 Die aus der 15M-Bewegung hervorgegangene Bewegung für Demokratie (Movimiento por la democracia) hat in einem einjährigen Prozess mit etwa 200 Teilnehmenden in 30 überall in Spanien stattgefundenen Workshops die Carta por la democracia erarbeitet. Sie wird als Diskussionsangebot darüber verstanden, wie ein anderes politisches, soziales, ökonomisches und rechtliches Zusammenleben aussehen könnte und wie damit begonnen werden kann, es zu praktizieren. Die Carta por la democracia soll nicht notwendigerweise in eine neue spanische Verfassung münden, noch ist sie auf den nationalen Kontext beschränkt. Sie ist an vielen Stellen in internationalistischer Perspektive formuliert und war auch Anstoß für die Charter for Europe: Ausgehend von einem internationalen Aktivistentreffen Ende Februar 2014 in Madrid ist in einem mehrmonatigen kollektiven Prozess ein erster Entwurf verfasst worden, der sich als Teil eines konstituierenden Prozesses zur Schaffung eines neuen Europas ›von unten‹ versteht. Er lädt uns dazu ein, in die Diskussion darüber einzutreten, in welcher sozialpolitischen Demokratie ein ›gutes Leben‹ für die heterogenen Vielen möglich sein kann. Der Chartaentwurf schlägt konzeptionell bereits einen offenen Raum vor, der eine radikale Inklusion in einer präsentischen Demokratie ermöglichen kann. Ein zentraler Angelpunkt dafür ist eine neu gedachte Bürgerschaft, die Zugehörigkeit offen hält, unabhängig von Geburts- und Herkunftsort (vgl. Georgi in diesem Heft). Der demos bleibt unbestimmt und setzt sich aus der Heterogenität der Vielen zusammen. Es stellt sich nicht mehr die liberale Frage der Partizipation. Im Zentrum steht die Konstituierung und Instituierung des Gemeinsamen durch radikale Inklusion. Das Gemeinsame ist nicht das, was alle teilt. Es ist das, was gemeinsam geteilt wird.  

Ein neues Projekt der Demokratisierung

Von Alex Demirovic In ihrem Buch Multitude (2004) haben Michael Hardt und Antonio Negri ein neues Konzept der Demokratie angedeutet. Es stellt angesichts des Bezugs auf Globalisierung und die vielfachen Krisendynamiken sicherlich eine der anspruchsvollsten Demokratiekonzeptionen innerhalb der Linken und sozialen Bewegungen dar. Die Multitude verkörpert darin der historischen Tendenz nach eine neue konstituierende Macht. Nicht Klasse, Volk oder Masse, bildet sie stattdessen ein Netzwerk von singulären Subjekten, die in den vielfältigen Formen der Arbeit – industrielle, intellektuelle, affektive Arbeit – gemeinsam das Gemeinsame erzeugen. Sie überwindet die Trennung von Ökonomie, Sozialem und Kultur, und insofern kann die Multitude in einer neuartigen Form der horizontalen Demokratie die Spaltungen entlang von Nation, Ethnizität, Geschlecht oder verschiedenen Arten der Arbeit aufheben. Diese Multitude agiert immer in der Gegenwart, weil sie das Gemeinsame durch die Kooperation herstellt. Im Prinzip immer schon vorhanden, bedarf es eines politischen Projekts, um sie konkrete Wirklichkeit werden zu lassen. Mein Eindruck ist, dass Isabell Lorey die Entwicklung der Diskussionen, die von der Protestbewegung M15 angestoßen wurden, stark unter dem Eindruck dieser grundsätzlichen Überlegungen von Hardt und Negri liest und die Prozesse in Spanien als ein Zu-sich-selbst-Kommen der Multitude deutet. Die Proteste in Spanien bringen demnach die historisch neue Form oder gar Periode der Demokratie ansatzweise zur Geltung. Sie wenden sich gegen die Repräsentation und den damit notwendigerweise verbundenen Ausschluss einer Vielzahl von Menschen, ebenso gegen eine Regierung der Individuen mit dem Mittel der Partizipation. Sie argumentieren für eine Horizontalität der Kommunikation und für eine Demokratie im Hier und Jetzt, die auf der Grundlage von Affektivität, Solidarität und Relationalität der Kommunikation bestrebt ist, alle Individuen zu inkludieren. Es sind meiner Ansicht nach Projekte grundsätzlich positiv zu begreifen und zu unterstützen, in denen es darum geht, die Demokratie fortzuentwickeln und auf neue Grundlagen zu stellen. Auch halte ich es für richtig, dass diese Grundlage in der gesellschaftlichen Kooperation und Produktion des Gemeinsamen gesehen wird. Auf welche Weise diese Kooperation demokratisch organisiert werden kann, ergibt sich nicht aus Sachzwängen. Die Demokratie ist ein Labor, in dem viele Menschen in den unterschiedlichsten Kontexten experimentieren. Neben vielem, was in den vergangenen Jahrhunderten gelungen ist, erzeugte Demokratie aus sich heraus auch autoritäre Fehlentwicklungen, Misserfolge und resignatives Abfinden mit dem Status quo. Ohne damit den im Namen der Demokratie gebrachten Opfern nachträglich einen falschen und harmonisierenden Sinn zusprechen zu wollen, wurden in diesen Prozessen doch demokratietheoretische Erfahrungen gesammelt, um Dinge anders und besser zu machen. Die Kriterien, nach denen Lorey die Prozesse in der spanischen Protest- und Demokratiebewegung beurteilt, sind selbst Ergebnis einer Vielzahl von demokratietheoretischen Diskussionen, die darauf zielen, Ausschlüsse zu beseitigen, den Individuen eine Stimme zu geben und ihre konkreten Lebensformen zur Geltung zu bringen. Trotz einer grundsätzlichen Sympathie und Solidarität mit solchen Projekten muss aber auch kritisch geprüft werden, wie praktikabel und verallgemeinerungsfähig sie sind. Zu oft hat sich die Linke von ihrem Enthusiasmus gefangen nehmen lassen, der für die Durchführung der konkreten Aktivitäten erforderlich ist. Es sind allgemeinere demokratietheoretische Gesichtspunkte, die ich vorbringen möchte. 1 | Repräsentation lässt sich nicht einfach aussetzen; sie ist ein Herrschaftsverhältnis, das sich aus der Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft, der Trennung von Ökonomie und Staat, ergibt: Das Volk der StaatsbürgerInnen geht seinen alltäglichen Geschäften nach und wählt VertreterInnen, die in seinem Namen handeln. Es geht hier um ein Moment der Herrschaft der Produktionsmitteleigentümer, die sich vorrangig um ihre ›privaten‹ Geschäfte der Profitmaximierung kümmern und für Fragen des Gesamtinteresses Repräsentativorgane geschaffen haben, in denen Mandatsträger die für alle verbindlichen Regeln festlegen. Die Träger dieser politischen Form werden diejenigen, die die Macht der Repräsentativorgane durch neue Formen der Demokratisierung zu unterlaufen versuchen, in das Repräsentationsregime zwingen. Denn sie werden weiterhin in Anspruch nehmen, dass die staatlichen Entscheidungen für alle gleichermaßen gelten sollen. Sich der Repräsentation zu entziehen heißt also, sich dieser Macht der Entscheidung zu entziehen und damit dem Block an der Macht, dessen Gruppierungen definieren, was die allgemein bindenden Entscheidungen sein sollen, und die versuchen, für diese eine Unterstützung auch von subalternen Gruppen zu erhalten. Wer nicht wenigstens stillhalten und sich fügen mag, wird mit dem allgemein gültigen Gesetz und der Polizei unter Druck gesetzt und ›erzogen‹. In Spanien hat es in den vergangenen Jahren eine enorme Verschärfung bei Demonstrations- und Streikrechten gegeben. Die allgemein verbindlichen Regelungen werden weiterhin im Parlament und in der Regierung getroffen. Gewählt wurde die tief korrupte und mit der großen Krise auf engste verbundene konservative Partei. Die alternative Demokratie ist demnach schwach. 2 | Diejenigen, die sich abspalten und eigene demokratische Wege für die Erzeugung des Gemeinsamen suchen, benötigen dazu die Produktionsmittel. Sich zu versammeln und zu diskutieren, sich wechselseitig in der Notlage zu helfen, Wohnungen und Häuser zu schützen oder zu besetzen und Privatisierungen von Wasser und Energie zu verhindern, ist lebensnotwendig und eine wichtige Grundlage, auf der Demokratieprozesse in Gang kommen können – also Entscheidungen von unten. Doch immer stellt sich für soziale Bewegungen die Frage, wie lange sie durchhalten, denn ihr Engagement findet neben ihrer Subsistenzarbeit statt. Die demokratische Diskussion und Entscheidung ist nicht direkt und umfassend mit ihrer Lebensgrundlage verbunden. Dies gibt zwangsläufig denjenigen mehr Macht, die weiterhin über den Einsatz der Produktionsmittel entscheiden, die über die Ressourcen der kollektiven Meinungs- und Willensbildung verfügen und entweder selbst die Zeit haben, sich politisch zu engagieren, oder andere dafür bezahlen können, stellvertretend für sie und abhängig von ihnen die allgemeinverbindlichen Entscheidungen zu diskutieren und zu treffen. 3 | Gesellschaftliche Zeit für die gemeinsamen Entscheidungen zu haben, ist also eine Machtfrage. Wenn es nicht zu Repräsentation kommen soll, bei der unkontrolliert wenige im Namen aller sprechen, dann gibt es als Alternative dazu die Willensbildung und Entscheidung unter Anwesenden oder die Wahl von Delegierten. Wenn soziale Bewegungen dieses Problem nicht bewusst lösen, entsteht sehr schnell Zeitnot, weil sich nicht alle an allen Entscheidungen oder gar deren Durchführung beteiligen können. Ein Ergebnis ist wechselseitiges Misstrauen, denn es ergeben sich immer Situationen, in denen einzelne Personen oder Gruppen in Begriffen eines kollektiven Wir sprechen. Daraus ergeben sich zwangsläufig Konflikte darüber, wer im Namen der Bewegung sprechen darf. Es erneuert sich also, weil die politische Form nicht ohne Veränderung ihrer gesellschaftlichen Grundlagen geändert werden kann, die Logik der Repräsentation. Sie ermöglicht es, einen von allen kontrollierten Modus zu finden, wie einzelne oder Gruppen verstetigt und im Namen dieser Bewegung sprechen, sich Gehör verschaffen, vielleicht sogar allgemein zur Verfügung stehende Ressourcen des staatlichen politischen Apparats nutzen können. So verstehe ich auch die Bildung einer Partei wie Podemos. 4 | Diese Überlegung führt mich zu einem letzten Gesichtspunkt, dem der Verfahren. Demokratie besteht nicht einfach aus Inklusion und horizontaler Mitsprache. Beides sind wichtige Merkmale. Doch es geht bei Demokratie auch um kollektiv bindende Entscheidungen. Darin liegt auch die große demokratiepolitische Herausforderung transformatorischer Projekte. Denn wenn das kollektive Leben betreffende Entwicklungspfade nicht vermeintlich blind-evolutionären oder marktförmigen Mechanismen – anders gesagt: herrschaftlichen Entscheidungen – überlassen bleiben, sondern Ergebnis bewusster Entscheidungen unter Beteiligung aller werden sollen, dann nimmt die Demokratie eine die Menschheit umfassende Dimension an, die alle Lebensbereiche einschließt: die Art der Ernährung, Besiedlungsweisen, Mobilitätspraktiken, die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit und der technischen Aneignung der Natur, Formen des Wissens und der Bildung, familiale Reproduktionsmuster oder Kulturpraktiken. Es versteht sich, dass nicht alle Entscheidungen im Weltmaßstab getroffen werden müssen, aber in einigen Fällen wird es sinnvollerweise so sein, um entscheidende Koordinaten für eine emanzipierte Lebensweise zu setzen. Dazu bedarf es Verfahren, die sicherstellen, dass alle sich beteiligen können und Einfluss auf die Gestaltung und die Wirkungstiefe des Verfahrens haben, sodass sie sich darauf verlassen können, dass sich ihr Engagement lohnt. Wenn man befürchten muss, dass man ohnehin übergangen wird, dass SprecherInnen ihre eigene Agenda verfolgen, getroffene Entscheidungen ignoriert oder unterlaufen werden können, muss man auch in den Bewegungen darum kämpfen, wer spricht und wer entscheidet. Deswegen bedarf es auch hier der Verfahren und der Bindung an diese Verfahren. Versammlungen, offene Diskussionsrunden, Horizontalität allein reichen nicht, sondern schüren auf Dauer Konflikte, weil die Willensbildung und Entscheidungsfindung denen zufällt, die zufällig die Zeit haben und anwesend sind. Das Konzept der präsentischen Demokratie nimmt die angesprochenen und weitere Gesichtspunkte wie die der Bündnispolitik oder des Handelns in den formellen politischen Institutionen nicht angemessen in den Blick und lässt sich von der Radikalität des demokratischen Willens der Bewegungen verführen. Der Impuls für eine radikale Erneuerung der Demokratie, der von diesen Bewegungen ausgeht, ist beeindruckend, aber wichtige Fragen werden, soweit ich sehe, nicht angegangen.

Literatur

Benjamin, Walter, 1974: Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt/M, 691–704 Demirović, Alex, 2013: Multiple Krise, autoritäre Demokratie und radikaldemokratische Erneuerung, in: Prokla 171, 193–215 Hardt, Michael und Antonio Negri, 2013: Demokratie! Wofür wir kämpfen, Frankfurt/M Dies., 2004: Multitude, Frankfurt/M Lorey, Isabell, 2012: Demokratie statt Repräsentation. Zur konstituierenden Macht der Besetzungsbewegungen, in: Kastner, Jens et al. (Hg.): Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen, Wien/Berlin, 7–49 Precarias a la deriva, 2014: ›Was ist dein Streik?‹ Militante Streifzüge durch die Kreisläufe der Prekarität, Wien, www.transversal.at Sauer, Birgit, 2013: Komplexe soziale Ungleichheiten, Citizenship und die Krise der Demokratie, in: Appelt, Erna/Aulenbacher, Brigitte/Wetterer, Angelika (Hg.): Gesellschaft. Feministische Krisendiagnosen, Münster, 167–185  

Anmerkungen

1    www.solidarity4all.gr/files/deutsch.pdf 2    http://ganemosmadrid.info/ganemos-madrid/; https://guanyembarcelona.cat/gewinnen-wir-barcelona 3    www.movimientoporlademocracia.net; http://guerrillatranslation.com/2014/06/26/a-charter-for-democracy; Charter for Europe: www.transversal.at; deutsche Übersetzung: Kamion 0/2014, 89–94