»Eccolo qua il Made in Italy« (»Das hier bedeutet Made in Italy«) heißt es auf einem Banner, das an einem Wagen voller verrosteter Achswellen für Nutzfahrzeuge befestigt ist. Damit wird humorvoll auf das italienische Wirtschaftsministerium verwiesen, dem die frisch gewählte Staatschefin Giorgia Meloni ein national-protektionistisches Antlitz verliehen und welches sie zum »Ministerium für das Made in Italy« umbenannt hat. Die dem strömenden Regen überlassenen Achswellen ähneln einem wertlosen rostigen Stahlhaufen, waren einst aber das Spitzenprodukt des britischen Automobilzulieferers Gkn-Driveline. Die hochwertigen, vollautomatisierten und teils noch unbenutzten Maschinen zur Herstellung der Achswellen, die diesen Gkn-Standort auszeichneten (vgl. Radio Corax 2021), stehen bis heute in der besetzten Fabrik. Vor dem berüchtigten 9. Juli 2021, der Tag an dem der Eigentümer von Gkn, der Investmentsfonds Melrose Industries, das Werk schloss, waren hier 500 Arbeiter*innen beschäftigt, davon 422 festangestellt. 330 von ihnen sind heute noch an QF, das Unternehmen des neuen Eigentümers Francesco Borgomeo, gebunden und blicken tagtäglich auf den Stahlhaufen vor »ihrem Zuhause«, wie sie die Fabrik nennen. Einer von ihnen ist Giovanni. Er hat hier 15 Jahre lang als Abteilungsleiter gearbeitet und ist einer der wenigen leitenden Angestellten, die bis heute Teil der Besetzung geblieben sind: »Die anderen Abteilungsleiter*innen und die Facharbeiter*innen haben sehr schnell eine neue Beschäftigung gefunden. So lange ich es mir leisten kann, will ich aber hier bleiben. Für mich ist es ein moralisches Prinzip geworden.« Für ihn steht der beunruhigende Stillstand hier in Campi Bisenzio sinnbildlich für das Versagen der gesamten italienischen Industrie: »Es kann nicht sein, dass ein Werk mit den technologisch hochwertigsten Maschinen, das Gewinne macht, die eigene Produktion im Handumdrehen ins Ausland verlagert und der Staat und die Institutionen dies ermöglichen, ohne einen Mucks von sich zu geben. Das heißt, dass dieses Finanzsystem, Kapitalismus, wie auch immer man es nennen will, nicht für die Gemeinschaft, sondern für private Interessen funktioniert.« Gegen diese beängstigende Situation führt das Fabrikkollektiv GKN einen seit 17 Monaten andauernden betrieblichen Abwehrkampf, woraus sich eine außergewöhnliche sozial-ökologische Mobilisierung in der Toskana und darüber hinaus entwickelt hat. Klimaaktivist*innen, Anwohner*innen, Bäuer*innen kämpfen gemeinsam mit den Arbeiter*innen für eine ökologische Umstellung der Produktion (vgl. Ferrari/Kaiser 2022). Bis zum November 2022 konnte die Besetzung und der gesellschaftliche Kampf, den das Fabrikkollektiv anführte, auf Grundlage eines Transformationskurzarbeitergeldes geführt werden. Dies wird ihnen die neue Unternehmensleitung von QF nun nicht mehr ausgezahlt.
Nichts als heiße Luft
Am 23. Dezember 2021 kaufte der Unternehmer Francesco Borgomeo die Gesamtheit der Gkn-Aktien dem Investmentfonds Melrose Industries ab. Er stammt aus einer reichen norditalienischen Familie, die im Laufe des 20. Jahrhunderts im Bereich der Metallverarbeitung ein Vermögen aufbaute (vgl. Porcu 2018). Francesco Borgomeo trat in die Fußstapfen des Vaters indem er sein Forschungsinstitut übernahm, es aber in ein Beratungszentrum für industrielle Konversion umwandelte. Im Laufe des letzten Jahrzehnts spezialisierte er sich auf Kreislaufwirtschaft, sprich ein »Modell der Produktion und des Verbrauchs, das die Abfälle auf ein Minimum reduziert« (Elementplus 2021), wie Borgomeo es im November 2021 beschrieb. Er erschien in Campi Bisenzio mit einem brillanten Portfolio an »geretteten Unternehmen« im Bereich der Keramikmanufaktur (ebd.) und kündigte souverän an, dass in 24 Monaten das Werk wieder produzieren würde. Für sein Konversionsvorhaben gründete er das Unternehmen »QuattroF ̶ Fiducia nel Futuro della Fabbrica di Firenze« (»Vier F - Vertrauen in die Zukunft der Fabrik in Florenz«). »Das klingt mehr nach Motivationstherapie als nach Industrie« (Grossi 2022), kommentiert der Betriebsrat Matteo Moretti den Unternehmensnamen.
Beim ersten »Krisengespräch« vom 19. Januar 2022 in Anwesenheit von Francesco Borgomeo, den Betriebsräten von ex-Gkn, Vertreter*innen der gewerkschaftlichen Dachverbände sowie des Arbeitsministeriums und der Landesregierung Toskana, Stadträten aus Florenz und des Bürgermeisters von Campi Bisenzio wurde die Arbeit des neuen Inhabers Borgomeo definiert. Diese Art von runden Tischen sind in Italien die öffentliche Instanz, bei der die Zukunft liquidierter oder kriselnder Unternehmen, die auf staatliche Gelder und Maßnahmen angewiesen sind, diskutiert wird. Derzeit gibt es davon 90 Stück in ganz Italien, im Rahmen derer die Zukunft von knapp 100 000 betroffenen Beschäftigten diskutiert wird (vgl. Gabbriellini/Gabbuti 2021). Damals verpflichtete sich Borgomeo bis zum 31. August 2022 einen Zeitplan für die Konversion des Werks vorzulegen, um die Gesamtheit der noch übrig gebliebenen 370 Arbeiter*innen zu beschäftigen und Investor*innen zu akquirieren (vgl. Ministero dello Sviluppo Economico 2022). Sollte er dies nicht schaffen, müsse er selbst die Konversion durchführen und finanzieren.
Den Schwarzen Peter ziehen die Arbeiter*innen: seit November ohne Einkommen
Diese Treffen wurden im Laufe des Jahres viermal einberufen. An keinem der Termine konnte Borgomeo die Bedingungen für die Bewilligung des Transformationskurzarbeitergeldes für die Arbeiter*innen erfüllen. Deswegen musste Borgomeo selbst von Februar bis November das Geld monatlich vorauszahlen, mit der Aussicht, es an einem späteren Zeitpunkt von Invitalia, der italienischen Betriebsansiedlungsagentur, rückwirkend zurück zu bekommen. „Borgomeos Plan hier E-Motoren letzter Generation herzustellen ist zu schwammig, sodass die staatlichen Institutionen selbst an seiner Standhaftigkeit zweifeln und ihm das Transformationskurzarbeitergeld deswegen nicht langfristig bewilligen“, erklärt Giuseppe. Er hat hier 20 Jahre in der Montage von Achswellen gearbeitet und sitzt im Empfangshäuschen des Fabrikkollektivs am Werkseingang. Neben ihm steht eine von den Arbeitern selbst aus Produktionsabfall hergestellte Krippe. Eine Figur, die Borgomeo symbolisiert, baumelt über der heiligen Familie: »Klar ist er der Engel. Er wollte uns ja allen wieder Arbeit bringen«, kommentiert Giuseppe hämisch. Ein weiterer sarkastischer Hinweis darauf, dass das Kollektiv keinerlei Vertrauen in seine Konversionsstrategie hat.
Seitens der gewerkschaftlichen Dachverbände wird die Arbeit von QF ebenfalls bemängelt: „In den vergangenen Monaten haben wir vermehrt um Rückmeldung zu den Handelsabkommen, dem Produktionsvolumen, der Finanzierbarkeit und der Nachhaltigkeit gebeten. Nie haben wir eine Antwort erhalten. Das Projekt von QF ist weiterhin sehr nebulös“ (Fatto Quotidiano 2022), betonten zwei Hauptamtliche der Fiom-Cgil nach Fristende am 1. September 2022. Seinerseits klagte Borgomeo wiederum darüber, dass er unter den Arbeiter*innen nicht das vollste Vertrauen genieße, unter ihnen »eine politische Bewegung« entstünde, die aus dem Werk ein soziales Zentrum gemacht habe (vgl. Gramigni 2022). Darüber hinaus äußerte Borgomeo die Notwendigkeit, »mit den Institutionen und den Gewerkschaften dafür zu sorgen, dass die Normalität wiederhergestellt wird.« (ebd.)
Nachdem sich die Institutionen und QF monatelang den Schwarzen Peter hin und her schoben, lies Borgomeo die Frist des 31. August auslaufen, ohne einen Zeitplan für die Konversion noch einen Finanzierungsplan vorzulegen (vgl. Pieraccini 2022). Am 4. November kündigte er per Mail an, das Werk am darauf folgenden Montag leeren zu wollen. Dies gelang jedoch nicht, weil sich hunderte von Menschen ab der Morgendämmerung vor den Fabriktoren versammelten (vgl. Firenze Today 2022a). Als ein paar Tage später das Transformationskurzarbeitergeld fällig wurde, blieb die Überweisung der Gehälter jedoch aus. Auch im Dezember wurde kein Geld ausgezahlt, sodass die ca. 330 Arbeiter*innen bei seit zwei Monaten bei 11,8 Prozent liegender Inflation ohne die Gehälter auskommen und oftmals von Ersparnissen leben müssen: »Das bringt natürlich sehr viele Problem mit sich, weil manche die Hypothek nicht mehr zahlen oder sich den Wocheneinkauf nicht mehr leisten können. Man spürt die Sorge überall, in der Stimmung und den Blicken der Menschen. Und das ist die neue Strategie des Unternehmers: nach dem ganzen Hin-und-Her sollen wir Arbeiter jetzt hungern, oder den Anforderungen nachgeben. Das haben wir bis heute nicht getan. Und wir werden hier weiter kämpfen«, erklärt ex-Abteilungsleiter Giovanni.
Um die finanzielle Notlage einiger Arbeiter*innen durch das Aussetzen des Transformationsarbeitergeldes abzupuffern, können von nun an Anträge an die im Oktober gegründete Genossenschaft „Insorgiamo“ gestellt werden (vgl. Ferrari/Kaiser 2022 in LUX Online). Bei der Genossenschaft handelt es sich um eine sogenannte SOMS („Società Operaia di Mutuo Soccorso“), welche in Italien eine lange Tradition hat. Sie entstand im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund eines defizitären Sozialstaates als erste assoziative Schutzform im Fall von Arbeitsunfällen oder -verlust (vgl. Tommasini 1999). Das Geld der Genossenschaft stammt entweder aus dem Merchandise-Verkauf des Fabrikkollektivs oder aus Spenden. Alessandro, ehemals in der Härtungsabteilung von GKN angestellt, erklärt: »Wir als Fabrikkollektiv denken, dass man uns mit der ausbleibenden Zahlung provozieren und spalten will. Doch in diese Falle tappen wir nicht. Deswegen sammeln wir Spenden, um Gelder zu sammeln für diejenigen, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken. Doch bei 300 Familien können wir damit natürlich keinen Lohn ersetzen.“ Abgesehen von dem kollektiven Umgang mit der finanziellen Notlage soll die Genossenschaft auch die Grundlage der angestrebten wiederaufgenommenen Produktion bilden.
Eine zweigleisige Konversionsstrategie
Derzeit arbeitet das Farbikkollektiv an einer zweigleisigen Strategie. Langfristig ist weiterhin das Ziel, mithilfe staatlicher oder privater Investor*innen, den umfassenden Konversionsplan, der mit Wissenschaftler*innen der Universität Pisa entwickelt wurde, umzusetzen (vgl. Ferrari/Kaiser 2022). Darin werden für Campi Bisenzio zwei Konversionswege skizziert: Der erste würde zur Wiederaufnahme der Produktion von Achswellen führen, jedoch nicht mehr für Nutzfahrzeuge und Luxusautos, sondern für Busse (vgl. Gruppe solidarischer Wissenschaftler*innen 2022: 27). Alternativ dazu skizziert der Plan die Möglichkeit eines Branchenwechsels in Richtung erneuerbarer Energien. Diesem zweiten Szenario zufolge würden die ex-Gkn-Arbeiter*innen künftig Elektrolyseure (eine Vorrichtung zur Wasserstofferzeugung) oder Photovoltaikanlagen herstellen (ebd.: 30f.)
Da bis dato weder der Staat noch Borgomeo Interesse an dieser umfassenden Konversion zeigen, entwickelt das Fabrikkollektiv derzeit eine weniger umfassende Variante alternativer Produktion. Mit der SOMS will das Fabrikkollektiv kleinere Produktionspläne umsetzen, einen Teil der Belegschaft wieder beschäftigen und dadurch das Vertrauen der Institutionen gewinnen, um ggf. das Transformationskurzarbeitergeld zur Umsetzung des eigenen Plans selber in Anspruch zu nehmen. Der aus Arbeiter*innen und Unterstützer*innen bestehende Arbeitskreis „Konversion“ organisierte am 4. Dezember eine ganztägige Zukunftswerkstatt mit Workshops zu den Themen erneuerbare Energien, nachhaltige Mobilität und Konversionsprojekten. Daran nahmen Arbeiter*innen, Anwohner*innen der Region, Vereine und die solidarischen Wissenschaftler*innen teil. Giovanni erläutert, dass hierbei konkrete Ideen für die zukünftige Produktion entwickelt wurden: »Mit solchen kleineren Ideen könnten wir den Institutionen zeigen, dass unsere Arbeitsweise funktioniert. Über solche kleinen Schritte könnten wir uns dem Markt nähern, der für uns wirklich interessant ist, sprich jenem der erneuerbaren Energien. Nur in dieser Branche könnten wir perspektivisch 300 Menschen beschäftigen.«
Laut Giuseppe befindet sich unter diesen »kleineren Ideen« jene der Lastenfahrräder bereits im fortgeschrittenen Stadium: »Wir haben schon einen Hersteller besucht, der uns versichert hat, dass der Markt für Lastenfahrräder in Zukunft auch in Italien wachsen wird. Von den Maschinen her könnten wir das hier ohne Probleme herstellen, weil unsere Drehmaschinen sehr flexibel sind. Wir müssten nur definieren, wie viele Menschen wir damit beschäftigen könnten und sie umschulen.« Das Lastenfahrrad ist ein Paradebeispiel dafür, wie das Fabrikkollektiv arbeitet: Nachdem der Arbeitskreis »Konversion« gemeinsam mit Wissenschaftler*innen eine Idee entwickelt hat, wird diese in der Versammlung des Fabrikkollektivs vorgestellt. Bei positiver Resonanz werden dann Privatpersonen oder Unternehmen kontaktiert, die bereits Erfahrung in dem Bereich haben.