Dank der medialen Katastrophendiskurse hat im Alltagsverstand der meisten Menschen die Frage an Bedeutung gewonnen, in welcher Weise die eigene Form der Existenzsicherung mit dem Zusammenfallen globaler Kreditsysteme verknüpft ist. An welchem Punkt der ökonomischen Entwicklung wird mein Auftrag- oder Arbeitgeber kein Geld mehr haben, Löhne oder Honorare zu zahlen? Wo gilt dies auch für bisher als sicher verstandene Arbeitsplätze? Wie verändern sich die ohnehin repressiven Praxen der zuständigen Arbeitsagentur, wenn Haushalte der Kommunen vollständig zusammenbrechen? Da selbst Fachleute das Ausmaß vor uns liegender ökonomischer Zusammenbrüche und daraus folgender Kettenreaktionen nicht für einschätzbar halten, sind dies keine rein diskursiven Inszenierungen, sondern Ausdruck einer tatsächlich ungewissen Zukunft.
Das hegemonial gewordene Krisengefühl sorgt also nicht zuletzt für einen breiteren Bedarf nach Wissen über die eigene sozioökonomische Verortung in Gesellschaft. An sich wäre eine verallgemeinerte Aneignung von solchem Wissen (und seine damit verbundene Weiterentwicklung) ein genuin linkes Anliegen. Eine solidarische Welt, in der jeder über seine Lebensbedingungen selbst verfügt, und auch die Kämpfe dafür setzen voraus, dass sich jeder Einzelne entsprechende Kompetenzen eigenständig und kollektiv mit anderen aneignet und entwickelt.
Allerdings scheint es, als wäre linke Theorieproduktion einem solchen Bedarf (noch) nicht gewachsen, denn gerade die Vermittlung zwischen neoliberaler Regulierung, Alltagserfahrungen und ihrer subjektiven Verarbeitung kommt in den aktuellen Krisendiskussionen oft zu kurz. Zwar wird häufig auf das Ausmaß hingewiesen, in dem herrschende Kräfte in den letzten Jahrzehnten (trotz steigender Profite) Lohn-, Arbeits- und Lebensstandards absenkten, Arbeit verdichteten u.ä. Allerdings wird damit noch wenig über die Form der Durchsetzung neoliberaler Herrschaft gesagt.
Neoliberalismus konnte sich als hegemoniales Projekt auch deshalb in Gesellschaft verankern, weil es mit marktorientierten Regulierungsweisen gelang, individuelle und kollektive Emanzipationsbestrebungen zu einer entscheidenden Triebkraft kapitalistischen Wirtschaftens zu machen. Man kann dies an Forderungen sozialer Bewegungen der 1970er Jahre verfolgen, in denen Forderungen und Versuche, eine größere persönliche Autonomie zu entwickeln, in grundlegende Gesellschaftskritik eingebettet waren. Wenn etwa in der Frauenbewegung neue Lebensweisen fern von Familie ausprobiert wurden, selbstbestimmte Sexualpraxen eingefordert und gelebt wurden und bessere, gut bezahlte und Lohnarbeit gefordert wurde, so waren diese Diskussionen oft (wenn auch z.T. nur lose) eingebunden in eine Suche nach gesamtgesellschaftlich solidarischen Strukturen. Den heute auch für Frauen bestehenden Zwang, sich erfolgreich zu vermarkten, das Familienleben hieran flexibel auszurichten und auf staatliche Unterstützung zu verzichten, hatten die damaligen Akteurinnen sicher nicht vor Augen.
Ihre Forderungen wurden in neoliberale Regulierungsweisen aufgenommen und dabei zugleich überformt. Mit alternativen Gesellschaftsprojekten hat dies nicht mehr viel gemein. Wohl aber bietet die Anforderung, die eigene Lebensweise marktkompatibel zu gestalten, eine ganze Reihe von (meist individuellen) Gestaltungsmöglichkeiten.
Auf dieser Grundlage haben sich unter neoliberalen Bedingungen Arbeits- und Lebensweisen herausgebildet, in denen es normal geworden ist, dass das individuelle Leben als einer Art Dauerkrise gemeistert werden muss. Wenn etwas als normal wahrgenommen wird, gilt es als unveränderbar; darüber wird Herrschaft ausgeübt. Die neue Normalität ist einerseits erzwungen, erhielt andererseits Anerkennung, weil in ihr eine Vielzahl von Entwicklungsmöglichkeiten aufscheint.
Vor diesen Überlegungen frage ich, auf welches Phänomen sich der Begriff der Krise derzeit genau bezieht. Auch wenn wir etliche Anzeichen für ein Ende (oder einen Umbau) neoliberaler staatlicher Regulierung ausmachen können, so ist die Frage offen, ob es parallel zu dieser Krise im Großen eigentlich auch eine Krise dieses (Alltags-) Bewusstseins gibt. Bauen Regulierungsweisen, die derzeit entwickelt werden, um die Krisen einzudämmen, nicht eher auf eine Alltagskultur, in der die prekäre Existenzweisen als Herausforderung gelebt werden und – wo dies nicht gelingt – Zukunfts- ängste und Depressionen vor allem als psychisches Problem individuell bearbeitet werden? Bleibt es dabei, dass die eigene Situation vor allem als bloße Bewältigung von individuellen Mikrokrisen durchlebt wird (auch wenn diese Mikrokrisen massenhaft zunehmen)? Nach linken Perspektiven in der Krise zu fragen heißt, danach zu suchen, wie sich z.B. das Wissen über die erstaunlich starke Finanzkraft des Staats in konkrete Widerstandspraxen übersetzt, wenn es um die eigenen Löhne, Arbeits- und Lebensbedingungen geht.
Fragen nach den Brüchen und Kontinuitä- ten neoliberaler Hegemonie im Alltag nehmen relativ wenig Platz in aktuellen Krisenanalysen ein – das korrespondiert mit einer Marginalisierung von feministischen Perspektiven. Christa Wichterich erinnert (2009) an die Asienkrise. Das damalige Krisenmanagement bezog sich vor allem auf die Rettung von Banken und Konzernen, verhinderte aber nicht den »›Download‹ der Risiken in die Küchen«: Materielle Armut wächst durch Währungsverfall, Entlassungen und Lohnsenkungen und wird im Allgemeinen ausgeglichen durch noch mehr unbezahlte Arbeit im Alltag, die von Frauen in Privathaushalten und lokalen Netzwerken geleistet wird. In welcher Form dies auch in den hiesigen Bewältigungsformen der aktuellen Krise zutreffen wird, lässt sich sich noch nicht sagen. Einerseits ist die vorherrschende Arbeitsteilung in Deutschland traditionell genug, um die Mehrbelastung von Frauen, die in den kommenden Jahren durch Arbeitslosigkeit und Armut wachsen wird, als wesentliches Moment der Krisenbewältigung zu untersuchen. Im aktuellen Krisenmanagement finden sich auch etliche Tendenzen, die weniger werdende (gut) bezahlte Arbeit weiterhin eher den Männern zukommen zu lassen: So verweist das »nationale Interesse« an der Zukunft von Opel und die schnelle Entscheidung über die Insolvenz von Arcandor darauf, dass der traditionell männliche Bereich der industriellen Produktion höhere Bedeutung erfährt als der Einzelhandel, in dem traditionell vor allem Frauen als Teilzeitkräfte oder Mini-Jobberinnen beschäftigt sind. Auch für den alternativen Zukunftsentwurf eines Green New Deal gilt, dass hier vor allem Arbeitsplätze für Männer entstehen werden, da Frauen in technischen Berufen – allem Gerede von Geschlechtergleichheit zum Trotz – nach wie vor stark unterrepräsentiert sind.
Andererseits müssten wir bei einer Untersuchung der unbezahlten Arbeit in Krisenzeiten berücksichtigen, dass diese Arbeitsteilung sowohl durch Verweigerung der Frauen als auch durch den Wandel kapitalistischer Regulierung ihre Form verändert hat und im Zuge der Krise möglicherweise weiter verändert. Wenn die Krise bedeutet, dass auch in bisher als relativ sicher geltenden Kernbereichen starke soziale Einbrüche, Massenentlassungen u.ä. zu erwarten sind, so bedeutet dies eine weitere Erschütterung der männlichen Position als Familienernährer. Mitte Juni stieg EU-weit die Arbeitslosenquote der Männer das erste Mal (wenn auch nur leicht) über die der Frauen. Aus solchen Angaben über Arbeitsmärkte lässt sich wenig über die Zukunft der geschlechtsspezifischen Teilung unbezahlter Arbeit ableiten. Es lässt sich lediglich erahnen, dass sie ein Feld bleibt, in dem die individuelle Verarbeitung ökonomischer Umbrüche kräftig an vergeschlechtlichten Identitäten und Autonomievorstellungen rütteln wird.
Feministische Autorinnen zeigen, dass es bei dieser Frage nach der Bedeutung privatförmiger Reproduktionsarbeit in Krisenzeiten um mehr und anderes geht als die spezifische Ausbeutung von Frauen. Es gehe vielmehr darum, dass es ein »Qualitätsmerkmal von Kapital« ist, dass mit Maßlosigkeit auf menschliche Ressourcen zurückgegriffen werde (Biesecker 2009). Die »vollzogene Abspaltung der Marktökonomie von der sozialen und natürlichen Reproduktion« (Wichterich 2009) sei ein in der Krise zum Ausdruck kommendes Grundproblem kapitalistischen Wirtschaftens. Die Wertschöpfung könne nur auf Grundlage eines Polsters von sozialer Regeneration, von Sorgearbeit und sozialen Sicherungsnetzen einerseits und regenerativen Kräften der Natur andererseits funktionieren. Für diese Grundlagen könne nicht innerhalb der kapitalistischen Logik gesorgt werden.
In diesem Sinne wird in diesen feministischen Beiträgen die »Krise des ›Reproduktiven‹« (Biesecker) als Parallele zur ökologischen Krise diskutiert. In beiden Fällen gehe es um ein »Wirtschaften und Leben auf Kosten der Zukunft«, bei der ökonomische, ökologische und soziale Grenzen nicht wahrgenommen würden und für Regenerationsfähigkeit keinerlei gesellschaftliche Verantwortung übernommen werde. Stattdessen werde auf als natürlich verstandene Ressourcen wie weibliche Kompetenzen und Neigungen zur Fürsorge gesetzt. Strukturelle Gleichgültigkeit gegenüber der Reproduktion dieser Ressourcen macht es möglich, dass neue Märkte erschlossen werden, z.B. durch Hedge-Fonds im Bereich von Alten- und Pflegeheimen. Die Folge ist eine »McDonaldisierung« der Arbeitsbedingungen in öffentlichen Einrichtungen (Madörin 2008).
Als Reaktion auf die Krise braucht es daher – folgt man den feministischen Analysen – einen grundlegenden strukturellen Wandel, der mit einer Umbewertung von Produktions- und Reproduktionsarbeit, solidarischen Wirtschaftsregeln (Wichterich) und einer Einbeziehung von care-ökonomischen Fragestellungen in die wirtschaftspolitische Debatte (Madörin) einhergeht; dies wird oft als Forderungen an den Staat formuliert (z.B. Winker 2009).
Für feministische Zusammenhänge sind solche Forderungen ein alter Hut. Dass sie über entsprechende Zirkel hinaus in den gegenwärtigen Diskussionen auch der Linken kaum Gehör finden, zeigt sich in den aktuellen Diskussionen: Während die ökologische Krise neue Aufmerksamkeit von Regierungen, Kapitalbesitzern und (in Folge davon?) auch der Linken erfährt, hat die Krise des Reproduktiven marginale Bedeutung für Auseinandersetzungen über aktuelles Krisenmanagement. (Strukturell bedingt meist weibliche) Erfahrungen aus privaten Küchen und öffentlichen Einrichtungen zu einem der Ausgangspunkte linker Krisendiskussionen zu machen, würde der Privatisierung individueller Reproduktionsarbeit aller Menschen entgegenarbeiten und zugleich die Frage nach sinnvollen politischen Formen (Wer spricht wann in wessen Namen?) stellen.
Ein Problem allerdings weisen auch die von mir zitierten feministischen Analysen auf. Sie zeichnen ein Bild von neoliberalen Bedingungen, in dem diese vor allem als Verschlechterung von Arbeits- und Lebensbedingungen gesehen werden. Darüber geht die Widersprüchlichkeit verloren, die auch im Bereich des Reproduktiven die Verbreitung von Marktlogiken kennzeichnet, die aber sowohl für individuelle Erfahrungen als auch für den Verlauf sozialer Auseinandersetzungen um reproduktive Arbeit bedeutsam sind. Exemplarisch erläutert sei dies an der Frage öffentlicher Kinderbetreuung.
Die aktuellen Auseinandersetzungen im Kita-Bereich sagen insofern etwas über die Krise aus, als Erzieher/innen zweifellos zu jenen Gruppen gehören, die aus Geldern finanziert werden, die aufgrund der Krise knapper sein werden als zuvor. Gleichzeitig erlangen care-ökonomische Fragestellungen auch für kapitalistische Regulierung zunehmende Bedeutung: Nicht nur feministische und einige linke Kräfte kritisieren seit Jahren die unzureichende quantitative und qualitative Ausstattung mit Kinderbetreuung in Deutschland. Ursula von der Leyen hat in den letzten Jahren um deren Ausbau gerungen, weil sie hoch qualifizierte Frauen als Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft sehen will. Aus pädagogischer Sicht wachsen die Zweifel daran, ob schlecht ausgebildete und bezahlte Kita-Angestellte unter widrigen Bedingungen den Nachwuchs des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu ausreichend lern- und arbeitsfähigem Humankapital heranziehen können.
Nicht zuletzt diese zunächst diskursive Aufwertung ihrer Arbeit sorgt gegenwärtig bei Erzieherinnen für eine höhere Konfliktbereitschaft. Hinzu kommt, dass auch sie die Freiheiten des Marktes teilweise nutzen: Wo die marktförmige Regulierung von Kitas besonders weit fortgeschritten ist (z.B. Hamburg), gibt es mittlerweile Abwanderung in andere Bundesländer und damit Arbeitskräftemangel.
Weitere Kürzungen im sozialen Bereich sind also auch aus der Sicht der Stabilisierung kapitalistischer Verhältnisse keine eindeutige Angelegenheit. Andersherum ist nicht jede Form des Ausbaus des Sozialen gleichzusetzen mit einem emanzipatorischen Projekt, wenngleich kein solches Projekt ohne diesen Ausbau möglich wäre. Linke feministische Politik muss sich in diesen Widersprüchen bewegen können. Gerade für die Frage, wer welchen gesellschaftlichen Projekten zustimmt oder aber um Alternativen ringt, sind sie von hoher Bedeutung.