Die Kämpfe um den Erhalt der Arbeitsplätze blieben auf einzelne Betriebe beschränkt, die Demonstrationen im Frühjahr 2009 setzten sich nicht fort. Der Bundestagswahlkampf mobilisierte und politisierte sogar weniger als früher. Diese Mischung von Gesellschaftskritik und Pragmatismus lässt sich an einigen Umfrageergebnissen verdeutlichen: Fast zwei Drittel der Befragten gingen auch im Januar 2010 noch davon aus, dass der schlimmste Teil der Krise noch bevorsteht, sehen sich aber nach wie vor (noch) nicht von der Krise betroffen (ARD-DeutschlandTrend Januar 2010). Ebenso viele forderten Anfang 2009 staatliche Hilfen für Unternehmen und eine stärkere Kontrolle der Banken und Großunternehmen; konkrete Maßnahmen z.B. für Opel und Arcandor wurden aber abgelehnt (Allensbach-Umfragen, FAZ vom 25.2.2009). Unmittelbar vor der Bundestagswahl hielten knapp 60 Prozent nach wie vor die soziale Situation im Land für ungerecht; von einem CDU/CSU-Sieg erwarteten 65 Prozent, dass die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergehen und die Interessen der ArbeitnehmerInnen weiterhin vernachlässigt würden; gleichzeitig billigten die Wahlberechtigten CDU/CSU und FDP bei den für sie wichtigsten Feldern »Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum« die größte Kompetenz zu (Infratest-dimap-Befragung zur Bundestagswahl 2009). Keine der möglichen Regierungskoalitionen weckte bei der Bevölkerungsmehrheit große Hoffnungen oder Ängste; nur noch ein Viertel der Befragten glaubt, dass bei Politikern Überzeugungen und Werte im Vordergrund stehen, fast zwei Drittel unterstellen ihnen pragmatische Lösungsabsichten und billigen das (Allensbach-Umfrage FAZ vom 23.9.2009). Diese und andere Befragungsergebnisse spiegeln die dem Alltagsbewusstsein eigenen Ambivalenzen wider: Hoffnungen und Erwartungen werden sowohl mit realen Machtverhältnissen und Möglichkeiten als auch mit mehrfach enttäuschten Erwartungen in ein labiles Gleichgewicht gebracht, Diskrepanzen dadurch aushaltbar gemacht. Die Uneindeutigkeit, das Changierende zwischen moralischer Empörung über »die da oben« und Anpassung im Alltäglichen sind konstitutiv fürs Alltagsbewusstsein. Es lohnt sich deshalb, deren verschiedene Schichten gerade in Krisenzeiten zu untersuchen. Woher kommt die Diskrepanz zwischen pessimistischen Zukunftserwartungen und geringerer eigener Betroffenheit? Im Gegensatz zu Ländern wie USA oder Großbritannien hat die Krise in Deutschland die Privateinkommen und die private Absicherung (u.a. über Hausbesitz oder private Altersvorsorge) bisher nur selektiv getroffen. Sie hat überwiegend die Arbeitsplätze und die Einkommen der in der Exportindustrie Beschäftigten getroffen: Die negativen Folgen wurden auf »Randbelegschaften« abgewälzt und durch Maßnahmen wie Kurzarbeit und Abwrackprämie zunächst abgefedert. Die Realeinkommen der nicht von Arbeitslosigkeit Bedrohten sind durch viele Einzelmaßnahmen (Steuerzuschüsse zur Sozialversicherung, kleine Steuererleichterungen, gesunkene Inflationsrate) stabilisiert worden. Dies hat zum Gefühl geführt, dass »es hätte schlimmer kommen können«. Die eigene Lage wird meist durch einen Vergleich von Erwartungen und Realität bewertet; Krisenszenarien, die so nicht eintreffen, lassen die Realität relativ positiv erscheinen. Der Pragmatismus des Alltagsbewusstseins schützt gleichzeitig vor überhöhten Erwartungen. So wurden die Maßnahmen zur Stützung der Binnennachfrage mit der Sorge begleitet, wer das am Schluss bezahlen muss. Die Aktivitäten zur Unterstützung von Schlüsselbranchen und Betrieben (Abwrackprämie, die geforderten Bürgschaften für Opel, Arcandor und andere) stießen auf wachsende Kritik, da sie als selektive Hilfen nur für Großbetriebe zu Lasten der Steuerzahler und ohne Zukunftsperspektive erlebt wurden. Die betrieblichen Auseinandersetzungen hatten wenig Verallgemeinerungspotenzial, weil sie sich auf die Rettung traditioneller exportorientierter Großbetriebsstrukturen konzentrierten und damit für die nachfordistischen Wirtschaftsstrukturen (in denen inzwischen die Mehrheit arbeitet) wenig Beispiel geben konnten. Die relative Ruhe ist labil und gepaart mit dem Misstrauen, dass die Probleme nur aufgeschoben sind, die Rechnung für die Krisenmaßnahmen noch kommt und das Problem der sozialen Ungerechtigkeit sich weiter verschärft.

DIE AMBIVALENZ DES GERECHTIGKEITSPOSTULATES

Fast jede politische Auseinandersetzung wird mit der Forderung nach Gerechtigkeit aufgeladen. Gerechtigkeit appelliert an einen gemeinsamen Wertekanon, hinter dem Egoismen zurückzustehen haben. Dahinter verbirgt sich einerseits der Wunsch nach Gemeinschaft und Ausgleich zwischen Klassen und Interessen, andererseits das Bedürfnis, sich in einer Gesellschaft mit seiner Leistung, seinem Wert gegenüber anderen zu verorten und das zu bekommen, »was einem zusteht«. Dieser Wunsch ist mit der Gefahr verbunden, sich abzugrenzen und andere Gruppen abzuwerten. So fanden es Gewerkschaften lange Zeit gerecht, dass Männer höhere Löhne bekamen als Frauen, weil das ihrem Wertgefühl entsprach. Die Bedrohung des eigenen Status durch »Neue« wird dann als ungerecht empfunden, wenn Besitzstandssicherung und Senioritätsprinzip wichtige Normen sind. Gerechtigkeitsnormen unterscheiden sich nach kulturellen und nationalen Traditionen. In Deutschland entstand eine eher meritokratische Tradition, die auch von der Arbeiterbewegung mit ihrem Produzentenstolz getragen wurde (»wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«) und die vor allem in der Nachkriegszeit durch korporatistische und Besitzstand sichernde Elemente ergänzt wurde. Diese Norm geriet ab den 1970er Jahren von zwei Seiten unter Druck: Im Versuch, den ›alten Wohlfahrtsstaat‹ zurückzudrängen, sollten Verteilungsgerechtigkeit und Statussicherung durch individuelle Chancengerechtigkeit und marktförmig definierte Leistungsgerechtigkeit zurückgedrängt werden. Vor allem in der jüngeren Bevölkerung gewannen diese ›neuen‹ Gerechtigkeitspostulate in dem Maße an Unterstützung, wie Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten sich differenzierten, ein Aufstieg aus den bisherigen Milieus und damit pluralere Erwerbs- und Lebenschancen außerhalb fordistischer Strukturen möglich wurden. Verschiedene Untersuchungen haben kontinuierliche Verschiebungen in den Wertvorstellungen auch auf der horizontalen Achse (also schichtübergreifend) festgestellt: von eher konservativ, autoritär, status- und sicherheitsorientiert geprägten Vorstellungen (die in der traditionellen Oberschicht ebenso wie in bedrohten mittleren und unteren Milieus anzutreffen sind) hin zu individualisierten, pluraleren Werten, die sowohl leistungsorientiert als auch hedonistisch oder alternativ geprägt sein können (Vester u.a. 2001). Individuelle Entwicklungsmöglichkeiten, Eigenverantwortung und Leistungsgerechtigkeit steigen im Wert; daran konnten neoliberale Versprechen und die Agenda 2010 anknüpfen.

DIE VERLETZUNG ›ALTER‹ UND ›NEUER‹ GERECHTIGKEITSNORMEN

Die Agenda 2010 versprach mehr individuelle Chancen- und Leistungsgerechtigkeit anstelle von Umverteilung und kollektiver sozialer Absicherung, wenn Beschäftigte mehr Eigenverantwortung – Qualifizierung, Entwicklung von Beschäftigungsfähigkeit, Leistungsbereitschaft – entwickelten. Der Staat würde dies u.a. durch Bildungsinvestitionen fördern, der Markt durch Aufstieg und Einkommen entsprechend der eingebrachten Leistung belohnen. Diese Versprechungen knüpften an leistungsorientierte Gerechtigkeitsnormen an und modernisierten sie. Aber damit wurden Geister geweckt: In dem Maße, wie die Versprechungen in der Realität nicht eingehalten wurden, wuchs die Enttäuschung: Der traditionelle Lohn-Leistungskompromiss (Beschäftigte erhalten für hohe Produktivität und Betriebstreue vom Arbeitgeber Arbeitsplatzsicherheit und Teilhabe am Unternehmenserfolg), wurde auch in seiner modernisierten Form des Wettbewerbskorporatismus verletzt, als Unternehmen trotz hoher Gewinne Beschäftigte entließen und Löhne kürzten und als sich Lohn- und Gewinneinkommen auch zu Lasten der »Mittelschicht-Leistungsträger« auseinanderentwickelten. Das Versprechen nach Chancengerechtigkeit gerade für die jüngere Generation kollidierte mit sich verschlechternden Bildungsmöglichkeiten, der Rückkehr von überwunden geglaubter Exklusion im Bildungssystem, der Kinderarmut und schwierigen Berufsstartchancen. Die junge, besser ausgebildete Generation hatte z.T. schlechtere Zukunftsperspektiven als die Eltern, so dass der verbreitete Aufstiegswunsch zumindest über Generationen hinweg einem wachsenden Zukunftspessimismus wich. Das Versprechen der Leistungsgerechtigkeit (»wer arbeiten will, findet auch etwas, von dem er/sie sich eigenständig ernähren kann«) wurde durch die Ausweitung von Niedriglöhnen verletzt. Die wachsende Unsicherheit von Arbeitsplätzen unabhängig von der Leistung der dort Beschäftigten ließ den Zusammenhang zwischen individueller Leistung und wirtschaftlichem Erfolg brüchiger und unberechenbarer werden, so dass das Versprechen, individuelle Leistung führe zu individuellem Erfolg und mache kollektive Absicherungen überflüssig, nicht eingehalten wurde. Die Verletzungen trafen nicht nur die »Modernisierungsverlierer«, sondern auch potenzielle »Modernisierungsgewinner«. Die Krise hat diese Verletzung alter und neuer Gerechtigkeitsnormen bestätigt und verschärft. Nur eine Minderheit von 16 Prozent (»Leistungsindividualisten« und »etablierte Leistungsträger«) hält die ökonomischen Machtverhältnisse für gerecht und lehnt staatliche Eingriffe weitgehend ab. Selbst in der Ober- und oberen Mittelschicht repräsentieren sie nur knapp mehr als die Hälfte (Neubauer 2007). Aber wie viele Gemeinsamkeiten stehen hinter den Ähnlichkeiten? Da Gerechtigkeitsnormen unterschiedliche Werte umfassen, besteht die Gefahr, die eigene Sichtweise, den eigenen Wertmaßstab zu verallgemeinern und auf andere übertragen zu wollen. Besonders in Phasen ökonomischer und sozialer Unsicherheit neigen bedrohte und eher statusorientierte Milieus dazu, sich abzuschließen, ihren Status gegen andere zu verteidigen (ebd.). Das Alltagsbewusstsein, das die Diskrepanz zwischen Erwartungen und Realität verarbeiten muss, versucht auch hier, diese Enttäuschungen abzufedern – ob in Form von Individualisierung, Pragmatismus oder Fatalismus. Dies gelingt umso besser, wenn die Politik gelernt hat, auf Druck mit Einzelmaßnahmen zu reagieren, Zuspitzungen zu vermeiden und Empörung durch Symbolpolitik aufzufangen. Verstärkt wird diese Tendenz noch durch einen Trend zur »Entideologisierung«: Nicht nur die Bindung an politische Grundüberzeugungen, Parteien, Verbände, Kirchen nimmt ab; auch das Misstrauen gegen die großen politischen Gegenentwürfe scheint zu wachsen. Dahinter scheinen sich nicht nur Entpolitisierung und Anpassung an Machtverhältnisse zu verbergen, sondern auch Enttäuschungen bei der Umsetzung alternativer politischer Konzepte – nicht nur die Erfahrung mit dem »real existierenden Sozialismus«, sondern auch in kapitalistischen Ländern mit staatlicher Interventionspolitik, staatlichen Unternehmen, Genossenschaftsbewegung usw., die nicht immer die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt haben.

FÜR EINEN DIFFERENZIERTEREN GERECHTIGKEITSDISKURS

Forderungen nach politischen Eingriffen zu Gunsten von mehr sozialer Gerechtigkeit können also unterschiedlichen politischen Haltungen entspringen, sich sogar widersprechen, wenn sie z.B. vom Statusdenken »gegen andere« geprägt sind (Becker/Kaindl 2009). Diese Differenzen sind nicht neu: Die SPD musste lange Zeit einen Spagat zwischen verschiedenen Wählergruppen machen, da sie sowohl von sich bedroht fühlenden Arbeitnehmergruppen als auch von leistungsorientierten Arbeitnehmermilieus und kritischen Bildungseliten gewählt wurde. Jetzt wird die Partei Die Linke überdurchschnittlich stark einerseits vom »abgehängten Prekariat« als auch von kritischen und engagierten Bildungsschichten gewählt. Das kann für linke Politik ein Problem werden, wenn man in der politischen Auseinandersetzung die schnelle Vereinheitlichung unter griffigen Slogans sucht und sich auf bestimmte Milieus und Gerechtigkeitsvorstellungen konzentriert, um sie quasi pars pro toto zu setzen. Der Zuwachs der Linken (und auch der anderen kleineren Parteien mit schärferem Profil) bei den letzten Wahlen widerspricht dem nur auf den ersten Blick. Offensichtlich wächst bei den Wähler/innen ein funktionales Verhältnis zu Parteien: Als Gegengewicht zu den »Volksparteien«, deren Einfluss als gesetzt gilt, werden die kleineren Parteien gestärkt, weil sie bestimmte Themen stark machen, die bei den »Volksparteien« drohen unterzugehen. Die Partei Die Linke hat einerseits von ihrem »Alleinstellungsmerkmal«, sich für die unteren Schichten einzusetzen, profitiert: 51 Prozent der Wahlberechtigten waren vor der Bundestagswahl der Meinung, dass ein gutes Wahlergebnis der Partei Die Linke gut sei, weil das die anderen Parteien zum Nachdenken brächte. Andererseits wird sie (vorrangig im Westen) eher als Protestpartei wahrgenommen: Nur 18 Prozent hielten eine Regierungsbeteiligung der Partei die Linke für gut (Allensbach-Umfrage, FAZ vom 23.9.2009). 79 Prozent sind der Meinung, dass sie zwar keine Probleme löst, aber die Dinge beim Namen nennt (Kahrs 2009); von den Linkspartei-Wählern haben sie nur 39 Prozent aus Überzeugung gewählt (das ist der geringste Prozentsatz aller Parteien), aus Enttäuschung 60 Prozent (Infratest-dimap, Bundestagswahl 2009). Damit hat die Partei im Westen noch keine stabile Basis über die Funktion der Protestpartei hinaus entwickelt (vgl. den Beitrag von Hildebrandt in diesem Heft). Dafür müsste sie auch die Auflösung eindeutiger politischer Lager zur Kenntnis nehmen und selber offener für Umbrüche, Veränderungen, Differenzierungen in der Gesellschaft werden. Es wäre z.B. fatal, sich in die Alternative »Chancen- und Leistungsgerechtigkeit versus Verteilungsgerechtigkeit und Besitzstandsabsicherung« drängen und zum Anwalt ›nur‹ der Verteilungsgerechtigkeit machen zu lassen, nur weil die ›modernisierte‹ SPD oder Neoliberale dies zu einer Alternative aufgebaut haben. Linke Politik muss für beides stehen: Umverteilung und soziale Absicherung unabhängig von Leistung für die, die keine Chance (mehr) auf dem Markt haben; Leistungsgerechtigkeit für die, deren Marktmacht zu deren Durchsetzung alleine nicht ausreicht; Chancengerechtigkeit, um individuelle Fähigkeiten unabhängig von Herkunft und Einkommen entwickeln zu können. Wenn Gerechtigkeitspostulate der Gefahr entgehen wollen, Partikularinteressen und bestimmte kulturelle Normen in allgemeingültige Werte umzudefinieren oder Ansprüche vor allem aus der Abgrenzung gegenüber anderen zu entwickeln, müssen sie Universalität und Pluralität miteinander verbinden; sie müssen Spielräume und Chancen für unterschiedliche Lebensentwürfe, für die Entwicklung unterschiedlicher Fähigkeiten einfordern, müssen Respekt vor Pluralität und Differenz haben, müssen sich verabschieden von ›der‹ Vorstellung gerechten Lebens. Das setzt Selbstreflexion und die Bereitschaft voraus, sich über Milieugrenzen hinweg für andere Erwartungen und Problemlagen zu öffnen. Das Aufbrechen der alten Milieus, die Zunahme unterschiedlicher Lebensstile und -möglichkeiten könnten hier Chancen eröffnen. Kinderarmut, Niedriglohn z.B. wird auch in Schichten und Milieus als großes politisches Problem und Verletzung von Chancen- und Leistungsgerechtigkeit artikuliert werden, die selber davon nicht betroffen sind. Ein Selbstgänger ist das nicht; denn die Gleichen, die z.B. Kinderarmut für einen Skandal halten, halten aufgrund ihres häufig starken Leistungsethos und des latenten Misstrauens gegen Arbeitslose die Hartz-IV-Regelsätze und den Druck auf Hartz-IV-Empfänger/innen nicht für den gleichen Skandal (obwohl nur arme Eltern arme Kinder haben). Die Regierung wird deshalb weiterhin versuchen, zwischen »Leistungsträgern« und »Abgehängten« zu spalten. Dagegen ein Mitte-Unten Bündnis aufzubauen, wird mit die wichtigste, aber auch schwierigste Aufgabe sein. Ohne Respekt vor Unterschieden wird das nicht gelingen.

CHANCEN FÜR EINE »MOSAIK-LINKE«

Der Begriff spiegelt zu recht wider, dass es keine einheitliche, quasi von ›einem Kern der Arbeiterklasse‹, von ›einer Avantgarde‹ angeführte Bewegung gibt; es müssen Bündnisse zwischen verschiedenen Bewegungen und Organisationen mit unterschiedlichen Traditionen und konkreten Themen entwickelt werden (Brie 2009). Aber suggeriert das Bild des Mosaiks (und die Suggestionskraft von Bildern ist groß!) nicht neben Vielfalt und Buntheit gleichzeitig die Hoffnung, dass sich die Teile zu einem harmonischen Ganzen – eben einem Mosaik – ordnen? Davon sind wir noch weit entfernt. Gemeinsame konkrete Konfliktpunkte sind nicht das Problem, sie werden eher mehr werden. Denn die Diskrepanz zwischen politischen Versprechungen wie z.B. »mehr Netto vom Brutto«, »mehr Investitionen in Bildung und Kinderbetreuung«, »mehr Arbeitsplätze, mehr Aufstiegsmöglichkeiten aus dem Niedriglohnbereich« und ihrer Realisierung wird in den nächsten Jahren nicht geringer werden. Aber wie kann man aus vielen »EinPunkt-Bündnissen« stabile Bewegungen mit weitergehenden Zielen machen? Die Chancen dazu können vergrößert werden, wenn man die unterschiedlichen Betroffenheiten und Motive der Bündnispartner wechselseitig zur Kenntnis nimmt und auch respektiert. Dazu gehört: Keine überhöhten Ansprüche an real existierende Bewegungen in dem Sinne »Vom Kampf ums Teewasser zum Kampf um den Staat«. Konkrete betriebliche, tarifliche Kämpfe können nicht vorrangig danach beurteilt werden, ob daraus die große gesellschaftspolitische Auseinandersetzung entsteht (so Kreutz/Jünke 2009). Sonst besteht die Gefahr, dass Kämpfe und die schließlich gefundenen Kompromisse nicht so sehr vom Interesse der dort Engagierten her beurteilt werden, sondern danach, inwieweit sie für darüber hinaus gehende politische Ziele genutzt werden können. Solche Maßstäbe kann kaum eine real existierende Auseinandersetzung erfüllen, und sie werden ihnen auch nicht gerecht. Die ambivalenten Reaktionen auf die Belegschaftsauseinandersetzungen um den Erhalt von Opel, Arcandor usw. zeigen, wie schwer sich die Linke mit Auseinandersetzungen tut, bei denen Belegschaften im Hier und Heute um den Erhalt ›ihres‹ Betriebes unter den Bedingungen des real existierenden Kapitalismus kämpfen. Die überhöhten Ansprüche an spektakuläre Großkonflikte führen außerdem dazu, dass die kontinuierliche Zunahme von tariflichen und betrieblichen Auseinandersetzungen außerhalb der vom Fordismus geprägten Strukturen in neuen Bereichen (z.B. im Dienstleistungsbereich), die weniger spektakulär und massenwirksam sind, kaum beachtet wird. Ein differenzierterer Umgang mit politischen Kontrahenten und potenziellen Bündnispartnern ist erforderlich: Warum müssen z.B. Mitglieder von SPD und Grünen mit einem anderen Verständnis von Markt und Eigentumsverhältnissen als »moderne Neoliberale« abgestempelt werden (Kreutz/ Jünke 2009 verweisen hier u.a. auf Gysi und Lafontaine)? Der inflationäre Gebrauch dieses Begriffs verharmlost nicht nur die realen Gefahren des Neoliberalismus. Er verwischt auch relevante Unterschiede zwischen Neoliberalismus und Wettbewerbskorporatismus (ein wichtiger Bestandteil der Agenda 2010); es ist nicht egal, ob man in tripartistischen Bündnissen Gewerkschaften einbinden oder – wie es Frau Thatcher wollte – zerstören will! Er verwischt wichtige Unterschiede und Lernprozesse innerhalb von SPD und Grünen. Und auch CDU/CSU haben gelernt, dass man mit hartem neoliberalen Kurs keine Mehrheiten gewinnt: Sie vermeiden z.B. Zuspitzungen gegenüber den Gewerkschaften (die einst geplante Zerschlagung von Tarifvertragsgesetz und Mitbestimmung ist vertagt) ebenso wie gegenüber den »Leistungsträgern« in der Mittelschicht; ›Grausamkeiten‹ werden scheibchenweise und mit Zugeständnissen garniert verabreicht. Wir sollten nicht darauf setzen, dass Regierung und Arbeitgeber durch Zuspitzung und Generalangriff auf soziale Rechte uns die Mobilisierung und Vereinheitlichung der Betroffenen erleichtern. Die Mobilisierung ist u.a. durch den wachsenden Pragmatismus der Mittelschichten und den wachsenden Fatalismus bei den »Abgehängten« erschwert. Pragmatismus und Fatalismus verringern Erwartungen und damit auch Enttäuschungen – das ist ihre Funktion. Handlungsbereitschaft kann deshalb am ehesten über das Aufzeigen real existierender Spielräume und Teilerfolge aufgebaut werden; die sind aber nur unter gegebenen Machtverhältnissen mit der ganzen Ambivalenz von Kompromissen zu haben. Wenn Linke die Rücksichtnahme der »Herrschenden« auf Stimmungen in der Bevölkerung als Vereinnahmungsversuche, als Ablenkungsmanöver vom eigentlichen Ziel entlarven, mag das bei vielen genauso auf Zustimmung stoßen wie die »die da oben, wir da unten«-Rhetorik. Stärkt das nicht eher den Fatalismus, weil die Empörung die Funktion hat, sich emotional Luft zu verschaffen, aber sie mit dem Eindruck zementierter Machtverhältnisse gleichzeitig vor Erwartungen und damit auch vor Enttäuschungen schützt? Diese Haltung macht die Bedeutung, die Die Linke, die Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen als Bedrohungsfaktoren für die Herrschenden haben und auf deren Existenz quasi prohibitiv reagiert wird, klein. Die Chancen für eine Linke sind größer geworden, aber nur wenn sie lernt, unterschiedliche Lebensentwürfe, unterschiedliche Betroffenheiten und unterschiedliche Ziele zu respektieren. Zwischentöne sind kein Krampf im Klassenkampf!  

LITERATUR

Brie, Michael, 2009: Die Krise als Chance, in: Die Linken und die Krise, rls-papers Mai 2009, 93ff Becker, Florian, und Christina Kaindl, 2009: Widersprüche der Mosaik-Linken, in Luxemburg 1, 93-9 Kahrs, Horst, 2009: Parteienlandschaft im Umbruch, Luxemburg 2, 122–7 Kreutz, Daniel, und Christoph Jünke, 2009: Falsch aufgezäumt: Entgegnung auf das Strategiepapier des IFG in Luxemburg 2, 148–53 Neugebauer, Gero, 2007: Politische Milieus in Deutschland. Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Vester, Michael, u.a., 2001: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt/M