Ein wichtiger Bündnispartner Eisners – neben den Münchener Arbeitern, die sich von Tag zu Tag radikalisieren – ist der Bayerische Bauernbund um die Brüder Gandorfer. Karl Gandorfer sitzt seit 1912 für den Bund im bayerischen Landtag, sein Bruder, der blinde Ludwig Gandorfer – enger Freund Karl Liebknechts – führt den Bauernbund an. Doch trotz der Unterstützung, die Eisner von einigen Betriebsräten, manchen Mehrheitssozialdemokraten und vielen Linken erfährt, ist es Eisners Auftreten bei Massenversammlungen zu verdanken, dass es letztendlich zu einer bayerischen Revolution kommt, die breite Kreise bis hinein ins Bürgertum fesselt. Kurt Eisner hat eine Fähigkeit mit Rosa Luxemburg gemeinsam: Anders als für heutige Protagonisten der Massenkultur sind für sie die Massen nicht »die da unten, für die es Massenkultur gibt, die wir zu kritisieren gelernt haben als Verdummungsmachwerk und der wir uns nur selbst mit schlechtem Gewissen [...] hingeben« (Haug 2007, 34). Sie sind begeistert für die Masse und begeisterungsfähig, wenn sie in der Masse sprechen. Was Eisner befähigt – wie wir heute sagen würden –, gut anzukommen, ist seine Haltung den Einzelnen und den Vielen gegenüber. Er spricht zu ihnen nicht aus der Position des Lehrers, des Führers bzw. des Gurus, der sich über sie erhebt, weil er meint, besser zu sein oder mehr zu wissen; er spricht ihre Sprache, kennt ihr Alltagsleben, ihr Alltagswerkeln und ihr Alltagslieben und baut ihre Sprache ein und um zu einer Redeweise, die alle ergreift. Seine »Worte sind wie Schneebälle, fest und doch jederzeit schmelzbar, in Bewegung, um fallen gelassen zu werden, formbar, um benutzbar zu sein« (Brecht, zit.n. ebd., 35).

EISNER UND DER ALLTAG

Das Leben, Lieben und Leiden der Menschen in kapitalistischen Verhältnissen ist für Eisner als »organischen Intellektuellen« – wie ihn Antonio Gramsci bezeichnen würde – gleichzeitig Ansatzpunkt für einen Bruch mit der Zustimmung zu solchen Verhältnissen. Egal ob Eisner für einige Tage auf Sylt weilt und dort die Sylter Sozialgeschichte mit dem Titel Eine Gletscherwanderung 40 m überm Meer für die Leser und Leserinnen von Reiseberichten ausgräbt, um zu zeigen, dass wir Menschen die Geschichte machen; ob er die Kinderund Heimarbeit beobachtet, die der Produktion von Sonneberger Spielwaren zugrunde liegt (»Heimverwüstungsarbeit sollte man diesen Bezirk des Grauens nennen, [...] wo schon die Gesichter der Kinder zu alten, ernsten Larven erstarrt sind, die nie ein Lachen erhellt«); ob er über einen Vorsitzenden des Vereins zur Hebung der Badekultur berichten kann oder über eine »aufgebrezelte« Bildungsbürgerin den Satz fallen lässt: »Ich hatte den Eindruck, als ob sie jeden Morgen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch höchst kompliziert Toilette machte« – Eisner beobachtet, schildert, erzählt, beschreibt und vergisst an keinem Punkt, dass alles menschliche Leben und Arbeiten mit kaum erträglichen Klassenverhältnissen und letztlich mit der kapitalistischen Produktionsweise zusammenhängt. In sieben Abschiedsbriefen an eine Freundin (in Knauf 1929, 45ff) offenbart er die Zerstörung einer Liebesbeziehung, die nicht gelingen kann, weil er Kommunist ist und sie eine Frau aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Einfühlsam beschreibt er die kleinen Risse und Sprünge in der Beziehung, die sich schließlich zu einem tiefen Graben verbreitern. Zu Beginn wird ein Spaziergang in den Bergen aus frühen Zeiten erzählt: »Wir stiegen aus den Bergen hinunter. Das Leben auf einer Einöde, in die wir eingekehrt waren, hatte uns sonderbar berührt. Da spielte sich nun weitab von allem Menschengewimmel ein Lebensschicksal ab im steten Kampf mit den Launen der Natur, und nur aus unendlicher Ferne drang das Brausen des großen Daseins herüber. Nur die Marktpreise des Viehs verknüpften die kleine Familie, die dort oben hauste, mit dem Getriebe der Welt« (ebd., 47). Er, der Kommunist, beginnt nach einer langen Zeit des Schweigens auf dem Nachhauseweg von der Welt der Industrie zu schwärmen, vom lärmenden Treiben der Stadt, nach dem es ihn drängt, von der Möglichkeit der Bindung und Bildung der Menschen im modernen Industrieproletariat, wo nicht mehr die Natur über den Menschen herrscht, sondern er selbst die Möglichkeit hat, sein eigenes Leben zu gestalten: »Nur wo die Menschen in ihrer Fülle schaffen und wirken, begehren und opfern, ringen und rütteln; wo die Konflikte [...] erbarmungslos aneinanderprallen; wo das Leben in tausendfältiger Qual, in ungeheurem Chor des Schreckens aufschreit; wo niemand den anderen kennt, und wo doch gerade deshalb erst das Bewusstsein der Menschen erwacht – nur dort ist das Leben wert, gelebt zu werden.« (ebd., 48) Sie dagegen, die ganz sehnsüchtig nach den Bergen und der Idylle dort oben schaut, versteht nichts von seinen schwärmerischen Worten. »Was du Leben nennst, ist mir Widerwille und Qual. Ich hasse die zusammengedrängten Menschen, die sind niedrig, voll schmutziger Begierden und entarteter Instinkte – in tausend Abhängigkeiten eingeschnürt. [...] Lass mich zurückkehren zu der Einöd und dort bleiben. Dort kann ich frei und unabhängig sein. Wenn ich den Hühnern ihr Futter streue, wenn ich die Saat sprießen, die Rosen blühen sehe und das Hausgetier friedsam die paar Begriffe seines Daseins austönen höre – dann wird mir warm, und ich fürchte mich nicht mehr vor dem Leben, das mich ängstigt« (ebd.). Der Geliebte, dessen Liebe zur Menschheit und ihren Errungenschaften keinen Widerhall bei ihr findet, kann noch so sehr über den Widerspruch zwischen Kultur und Natur aufklären, kann sie darauf hinweisen, dass die Glühbirne ihren Schein in die ganze weite Welt hinausstrahlt und damit die Enge des Dörflichen endlich überschreitbar erscheint: »Deine Einöde ist nicht still, sondern stumm; nicht friedlich, sondern verschlafen; nicht beharrlich, sondern erstarrt. Die große Unruhe aber des heutigen Daseins ist die Wiege unserer Erlösung« (ebd., 51), argumentiert er. Ein späterer Abschiedsbrief schildert die Ergebnisse der sozialpsychologischen Studien, die er in der beschriebenen Einöde unternommen hat. Er hat herausgefunden, dass die Idylle nur eine an der Oberfläche ist: »Nur das Gehöft ist alt, der Bauer haust aber erst seit einiger Zeit dort oben. Er ist zugewandert, er hat das Gut übernommen, von dem der verschuldete Bauer vertrieben ward. [...] Er schimpft unflätig auf seine Knechte [...]. Sie lesen keine Zeitung, sie kennen kein Kunstwerk, sie wissen nichts von den großen Kämpfen der Menschheit und all den gewaltigen Bewegungen ihrer Zeit. Und eine verreckende Kuh ist ihnen Schicksal« (ebd., 56). Ein Zusammenkommen ist nicht mehr möglich und zum Schluss ist sie ihm fremd geworden. »Und fast will es mir scheinen, als ob es auf der ganzen Welt keinen Menschen gibt, den ich so wenig kenne wie dich« (ebd., 71).

REVOLUTION UND REVOLUTIONSFEIER

Bis zum Umsturz sind es nur noch wenige Tage. Die Vorgeschichte ist schnell erzählt: Am 3. November 1918 hält Kurt Eisner eine Rede auf der Theresienwiese in München, die Tausende von Teilnehmern so begeistert, dass sie anschließend zum Gefängnis nach Stadelheim ziehen, um inhaftierte Mitkämpfer zu befreien – was ihnen auch gelingt. Am 7. November 1918 kommt es zu einer groß angelegten Friedenskundgebung auf der Theresienwiese, bei der die MSPD-Führer glauben, sie könnten Ordnung und Disziplin aufrechterhalten und die revolutionsbegeisterten Frauen und Männer an den Rand des Geschehens drängen. Doch am Rande der Theresienwiese, wo Eisner, Gandorfer und Felix Fechenbach (der spätere Leiter der Staatskanzlei unter Eisner) reden, sammeln sich unzählige Matrosen und Soldaten. Auf die Parole Fechenbachs hin: »Soldaten! Auf in die Kasernen! Befreien wir unsere Kameraden! Es lebe die Revolution!«, stürmen die Soldaten zu den Kasernen, wo ihre Kameraden bereitwillig zu den »freien Truppen« überlaufen. Am 17. November 1918 werden die Soldaten, Arbeiter und Bauern, die die Revolution erkämpft haben, in das Große Haus des Münchener Nationaltheaters eingeladen, um gemeinsam das Errungene zu feiern. »Keine festliche Auffahrt, keine rauschenden Toiletten, keine blinkenden Ordenssterne und Diademe. Die Karten sind durch das Los verteilt worden, so dass das äußerliche Bild ganz anders war als bei den Festaufführungen der Vergangenheit. [...] An Stelle der Orden und Diademe vergangener Festaufführungen sieht man diesmal als einzige Auszeichnung rote Armbinden oder rote Schleifen« (Knauf 1929, 199). Eingeleitet wird die Revolutionsfeier durch Beethovens Leonoren-Ouvertüre. Sie erklingt, bevor Kurt Eisner auf geschlossener Bühne erscheint und von Beifall umrauscht wird. Mit Bedacht wählt Eisner die Leonoren-Ouvertüre: Zwei mit Pauken verstärkte Dur-Akkorde stehen an ihrem Anfang, der zweite Akkord klingt mit einer Dissonanz aus und lässt die leiser werdenden Geigen eine ruhende Landschaft schildern. Im Herbst 1918 sind die Länder trist und leer. Der Krieg hat Landstriche voller Leichen hinterlassen; im Hinterland hungern und frieren die Menschen. Leise mischt sich in die Schilderung dieses Abgrunds das Instrument ein, das der menschlichen Stimme am nächsten ist: Eine Klarinette singt von Leiden, Furcht und Hoffnung; die Geigen übernehmen die Melodie und lassen dann eine Querflöte zu Wort kommen, die wie Vogelzwitschern klingt und in ihrem fragenden Dreiklang beharrlich auf die Antwort drängt, ob die Verhältnisse so bleiben müssen. Das kräftige Nein des Orchesters deutet den Umsturz der Verhältnisse an, das Neue, das aber keineswegs ohne Molltöne, ohne Widerspruch und Streit auszukommen vermag. Die Ouvertüre symbolisiert den Widerstand gegen die reaktionären Kräfte in Europa und Eisner sieht in Beethoven einen, der es trotz seiner Herkunft geschafft hat, die Weltgeschichte in seine Musik hineinzunehmen. »Das Ausgestoßensein Beethovens aus der menschlichen Geselligkeit, sein körperliches Leiden, [...] seine wirtschaftlichen Bedrängnisse. [...] All das wird nicht [...] Inbegriff seiner Musik. Seine Tongebilde erfüllt nicht das feindliche Verhältnis des Künstlers zu den Bedingungen seines privaten Daseins. In Beethovens Kunst rinnt das Blut der Menschheit. Die Weltgeschichte ringt und brennt in seiner Musik.« (Eisner 1919, 72) Im Schlussakt der Oper werden Florestan, dem Geliebten Leonores, vom Minister (als Vertreter der staatlichen Autorität) die Ketten abgenommen und dieser singt: »Nicht [...] länger kniet sklavisch nieder, Tyrannenstrenge sei mir fern.« Beethoven komponiert angesichts der europaweiten Bewegungen gegen die Errungenschaften der Französischen Revolution. Sechs Wochen nach der Aufführung der überarbeiteten Fassung der Leonore, am 18. Juli 1814 im Wiener Kärntnertortheater, treten in der Habsburgermetropole die »realen Herrscher Europas zusammen, um es neu zu ordnen« (ebd., 61). Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die von Beethoven in der Neunten als die Zukunft der Menschheit gefeiert werden, verkommen in der Vertragsurkunde, welche von den europäischen Großmächten im Juni 1815 unterzeichnet wurde, zu Tugenden im Dienste von Christentum, Nationalismus und Monarchismus.

EISNERS ENDE

Ein weiteres 1815 – davor hatten Kurt Eisner und seine Genossen Angst. In einem Aufsatz vom Juni 1915 beschreibt er die Wirkungen des Wiener Kongresses: »Es wurden in Wien nicht nur über den Kopf der Völker hinweg die äußeren Grenzen der Länder bestimmt, es wurde auch über ihre inneren Zustände entschieden. Die Revolution wurde ausgerottet. Die absolute Monarchie wurde, wenigstens in Mittelund Osteuropa, wieder hergestellt. Alles Freiheitsstreben der Völker wurde mit eiserner Faust niedergeschlagen. […] Man sieht, dass die Souveräne, die in Wien Europa aufteilten und den Weltfrieden stifteten, ihren Untertanen keine andere Aufgabe zuwiesen, als die Pflege religiöser Gesinnung, dynastische Treue und die Unterwerfung unter die weisen Befehle der Obrigkeit« (Eisner 1919, 120f) Die politische Tagesarbeit Eisners bis zu seiner Ermordung im Februar 1919 hat mehrere Schwerpunkte: die Stabilisierung der Ernährungslage in Bayern; Verhandlungen mit den Siegermächten unter der Prämisse einer vollständigen Anerkennung der deutschen Kriegsschuld; der Kampf um eine Föderalisierung des Reichs und die Weiterentwicklung der Rätekonzeption bei gleichzeitiger Beibehaltung der parlamentarischen Demokratie. Bei letzterem wird er vor allem von dem in sein Kabinett geholten Erhard Auer und den anderen MSPD-Leuten massiv behindert. Weitere Errungenschaften der Revolution sind heute vergessen als wären sie eine Selbstverständlichkeit: Die Frauen erhalten das passive und aktive Wahlrecht, das Wahlalter wird von 26 auf 21 Jahre herabgesetzt und zum ersten Mal in der bayerischen Geschichte ist Religion in der Schule zum Wahlfach geworden. In einem vorläufigen bayerischen Staatsgrundgesetz werden diese Errungenschaften ebenso niedergeschrieben wie die Abschaffung der Adelstitel und die vollständige Säkularisierung der Schulen. Von den bürgerlichen Kräften und der MSPD weichgeklopft und von der Linken (dem neu entstandenen Spartakusbund) kritisiert, stimmt Eisner der Abhaltung einer Landtagswahl am 12. Januar 1919 zu. SPD und Bayerische Volkspartei (BVP) erhalten jeweils über 30 Prozent der Stimmen, Eisners USPD kommt gerade auf 2,5 Prozent. Putschgerüchte gehen in München um – am 19. Februar – noch vor der Konstituierung des neuen Landtags – ist es dann so weit: Ein selbsternannter Aktionsausschuss zum Schutz des Landtags besetzt Bahnhof und verschiedene Ämter und verlangt die Verhaftung Eisners und seine Abschiebung in die Tschechoslowakei. Als neuen Mann an der Spitze Bayerns schlägt der Putschistenführer Lotter den Sozialdemokraten Auer vor. Eisner weiß um die Gefahr auf seinem Weg zum Landtag am 21. Februar 1919, wo er seine Rücktrittsrede halten will. Doch durch die Hintertür möchte er nicht ins Parlament gehen: »Man kann einem Mordanschlag auf die Dauer nicht ausweichen, und man kann mich ja nur einmal totschießen« (Eisner, zit.n. Höller 1999, 148).

SCHLUSS

Kurt Eisner, der bayerische Ministerpräsident, der gleichzeitig Sozialist war, war – wie nun zu erkennen ist – nicht nur einer, der sich auf dem politischen wie parteipolitischen Parkett gut bewegen konnte. Eisner war in seiner journalistischen Arbeit, in der Art und Weise, wie er die Menschen ansprach und nicht zuletzt als Vertreter der Räte-Idee einer, für den das politische Handeln nicht an der Haustür zum Privatbereich endete und der – egal wie groß seine Enttäuschungen gewesen sein mochten – immer auf die Menschen setzte. Nur sie konnten mit der Vergangenheit brechen und den demokratischen Neuanfang, den er sich so sehr wünschte, tätig verwirklichen. Aus diesem Grund war er für das alte System gefährlicher als die anarchistischen Literaten und die avantgardistischen Funktionäre der Kommunistischen Partei. Das mag einer der Gründe sein, wieso sein Bild bis heute nicht in der Ahnengalerie der bayerischen Ministerpräsidenten in der Münchener Staatskanzlei hängt und warum seine Schriften weder durch die Monacensia1 noch durch die Bayerische Akademie der Wissenschaften gesammelt oder gar herausgegeben werden.  

LITERATUR

Eisner, Kurt, 1919: Gesammelte Schriften, Bd.1, Berlin Grau, Bernhard, 2001: Kurt Eisner. 1867–1919. Eine Biographie, München Haug, Frigga, 2007: Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, Hamburg Höller, Ralf, 1999: Der Anfang, der ein Ende war. Die Revolution in Bayern 1918/19, Berlin Knauf, Erich (Hg.), 1929: Welt werde froh! Ein Kurt-EisnerBuch. Zum 10. Jahrestage der Ermordung Kurt Eisners, Berlin Schreiber, Ulrich, 1991: Die Kunst der Oper. Geschichte des Musiktheaters, Bd. 2, Frankfurt/M

Anmerkungen

1 Die Monacensia ist eine Abteilung der Münchener Stadtbibliothek, in der alles Gedruckte zum Thema München und Münchener Region gesammelt ist.