Spätestens am Wochenende vor der Bundestagswahl wurde klar, dass in Berlin Lichtenberg gerade etwas Großes passiert. Im Veranstaltungssaal der Wohnungsbaugenossenschaft Vorwärts im Ortsteil Friedrichsfelde versammelten sich bereits am Freitagnachmittag Hunderte Menschen – Mitglieder und Nichtmitglieder, Studierende und Arbeitnehmer*innen, zwischen 18 und 80 Jahren – zum gemeinsamen Wahlkampfendspurt der Linkspartei mit ihrer Direktkandidatin, der frischgebackenen Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner. Am folgenden Samstag und Sonntag wurden es immer mehr. Ausgestattet mit Flyern, Klinkenputzern und Stiften und ausstaffiert mit einer roten Weste machten sie sich in kleinen Gruppen auf den Weg in die Wohngebiete. Wie Ameisen wanderten sie kilometerlang durch die Straßen der Plattenbaugebiete und stiegen in den riesigen Wohnblocks unermüdlich Treppen hoch und runter, klopften an die Türen um einerseits mit den Menschen über ihre Probleme und Sorgen zu sprechen, und andererseits sie zu ermutigen, ihre Stimme für die Linke abzugeben.
»Für mich war der Haustürwahlkampf eine schöne Erfahrung« erzählt Marcel, der viel Zeit in die Kampagne gesteckt hat und immer wieder an die Haustüren gegangen ist. »Es war wichtig für mich etwas Konkretes gegen den Rechtsruck tun zu können. Die Stimmung war überraschend positiv, zwar knallten ein paar Mal die Türen, aber nur einmal wurde ich beleidigt«, erklärt der 33-jährige, der selbst in Lichtenberg wohnt und in einer Beratungsstelle arbeitet. Marcel war bisher zwar schon in der Mieterbewegung politisch aktiv, ist aber erst während des Wahlkampfes selbst in die Partei eingetreten. So wie viele andere. Allein in Lichtenberg traten seit Jahresbeginn 500 Menschen in die Partei ein. »Es hat großen Spaß gemacht, den Menschen Unterstützung anbieten zu können wie durch den Hinweis auf den Heizkostenrechner oder Termine der Sozialsprechstunde.«
Bei den drei Aktionswochenenden im Januar und Februar sowie in vielen Einzelaktionen an Nachmittagen haben die Rotwesten in den Wochen vor den Wahlen in Lichtenberg an insgesamt 68 078 Türen geklopft, bilanziert Regina Brückner vom Organisationsteam: »Das ist bei 152 100 Haushalten also an fast jeder zweiten Tür«, rechnet sie. Nach ihrer Statistik, die durch die Datenerhebung der Wahlkämpfer*innen in der Wahlkampf App Zetkin gespeist wurde, öffneten sich 24 312 Türen, es wurden 11 891 freundliche Gespräche geführt und 6 461 Menschen erteilten auf die Abschlussfrage der Wahlkämpfer*innen eine Wahlzusage.
»Wir haben auf diese Weise etwa 35 000 Menschen erreicht, weil sich die Gespräche im Familien- und Freundeskreis weitererzählen«, erklärt Regina Brückner zufrieden. Und sie bestätigt die Beobachtung von Marcel. »Es gab eine sehr hohe Zustimmungsquote.« Aber nicht nur die Stimmung an den Haustüren war überraschend gut. Niemand hatte mit so vielen Freiwilligen gerechnet, die an die Haustüren ziehen würden, erinnert sie sich. »Im Dezember haben wir im Organisationsteam die Zielmarke von 30 000 Haustüren diskutiert. Das haben wir doppelt übertroffen.«
Das Wahlergebnis vom 23. Februar ist denn auch nicht weniger beeindruckend. DIE LINKE erreichte in Lichtenberg 23,5 Prozent der Zweitstimmen, 5,2 Prozent mehr als in 2021, und wurde damit stärkste Kraft knapp vor der mit 22,4 Prozent zweitplatzierten AfD. Besondere Aufmerksamkeit verdient aber das Erststimmenergebnis. Ines Schwerdtner liegt hier mit 34 Prozent noch über zehn Prozent über dem Zweitstimmenergebnis und dem Erststimmenergebnis ihrer Vorgängerin, Gesine Lötzsch, bei der letzten Bundestagswahl. Die Kandidatin der AfD, Beatrix von Storch, erreichte dagegen nur 21,9 Prozent, also weniger als das Zweitstimmenergebnis ihrer Partei.
Ganz offensichtlich ist also aufgegangen, was das Wahlkampfteam in den letzten Tagen vor der Wahl forciert hat: Mit der Zuspitzung auf einen Zweikampf Schwerdtner gegen Storch konnten viele SPD, BSW und Grünen Wähler*innen überzeugt werden, mit der Erststimme die Parteivorsitzende von DIE LINKE zu wählen, um die Rechtsextremistin von Storch zu verhindern. Doch auch bundesweit hat sich die Strategie offenbar ausgezahlt: Mit 8,8 Prozent der Zweitstimmen und stolzen sechs Direktmandaten erlebte die Partei einen Sieg wie sie seit vielen Jahren nicht.
Was lange währt, wird endlich gut
Für den fulminanten Wahlerfolg der Partei DIE LINKE auf Bundesebene gibt es viele Faktoren, die synergetisch zusammenspielten. Dazu zählte neben der Zuspitzung auf soziale Themen die erfolgreiche Social Media Strategie und die Zusammenarbeit mit Influencer*innen. Die feurige Rede von Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek gegen die Zusammenarbeit der CDU/CSU mit der AfD bei der Abstimmung über eine Verschärfung der Migrationspolitik im Bundestag am 29. Januar erreichte über 25 Millionen Views im Netz. Gleichzeitig beruhte die erfolgreiche Mobilisierung von Parteibasis und Wähler*innen eben auch auf dem langfristig geplanten Haustürwahlkampf. Insbesondere beim Kampf um die Direktmandate und die Erststimmen der Wahlkreiskandidat*innen scheint dieser sogar zentral gewesen zu sein.
Auch wenn die Dynamik des Wahlkampfes alle überrascht hat, es wurde dabei nichts dem Zufall überlassen, wie Martin Neise aus der Parteizentrale im Karl-Liebknecht-Haus deutlich macht. »Wir haben unmittelbar nach der Ausrufung der Neuwahlen im November begonnen in einigen ausgewählten Wahlkreisen einen groß angelegten Haustürwahlkampf vorzubereiten«, sagt Neise, der dabei für Lichtenberg zuständig war. »Zunächst wurde vor Ort ein Team aus engagierten Menschen mit unterschiedlichen Kampagnenerfahrungen zusammengestellt«, erzählt er. Die Parteizentrale stellte zusätzliches Personal und Finanzen zur Verfügung. Termine für drei Aktionswochenenden wurden festgelegt. Im angemieteten Veranstaltungssaal der Wohnungsbaugenossenschaft Vorwärts wurden regelmäßig Einführungsveranstaltungen für neue Wahlkämpfer*innen organisiert. Eine zentral gesteuerte interne Kommunikationsstruktur mit einem Telegram-Kanal und einer Mailinglist wurden aufgesetzt, um die wachsende Gruppe der Freiwilligen über den gesamten Kampagnenzeitraum regelmäßig über alle Aktionen, Termine und Erfolge zu informieren und zu mobilisieren. Bis zum Ende des Wahlkampfes hatten sich über tausend Menschen in den Telegram-Kanal für Lichtenberg eingetragen.
»Die Haustür war das Zentrum unseres Wahlkampfes, um das sich alles drehte«, erklärt Neise. »Wir haben dabei zuerst die Wohnblöcke angesteuert, in denen wir bei vergangenen Wahlen viel Unterstützung hatten. Wir gingen also von unseren eigenen Bastionen aus.« Erst später wurden andere Viertel angesteuert, um dort vor allem um die Erststimme zu werben. Dazu zählten zuerst die Gebiete, in denen DIE LINKE durch die Abspaltung des BSW zuletzt Unterstützung verloren hatte oder die SPD gewachsen war und danach die grünen Mittelschichtsgebiete mit Einfamilienhäusern. Für Neise war außerdem zentral, dass alle anderen Aktivitäten wie die Roten Tafeln, bei denen es kostenlose Würstchen und Tee gibt, Sozialsprechstunden und verschiedene Veranstaltungen so geplant wurden, dass sie durch die Haustürgespräche bekannt gemacht werden konnten. »Wir konnten den Menschen an den Türen damit ein Folgeangebot machen und zeigen, dass die Partei für ihre konkreten Probleme ansprechbar und nützlich ist. «
Die Haustürgespräche wirkten so in zwei Richtungen. Einerseits waren sie eine Möglichkeit für Wahlkämpfer*innen einen konkreten Beitrag zu leisten, sich einzubringen und von den Gesprächen mit den Nachbar*innen zu lernen. Andererseits fühlten sich viele Menschen an den Haustüren angesprochen, mit ihren Sorgen und Hoffnungen ernst genommen. Die Kommunikation ermunterte Außenstehende, mitzumachen und der Partei ihr Vertrauen zu schenken, während sie den bereits Aktiven Bestätigung und Motivation verlieh. Martin Neise verweist auch auf die Wirkung der großen Zahl an Rotwesten. »Die Wahlkämpfer*innen waren überall zu sehen. Wir waren Gesprächsstoff unter Nachbarn.«
Im sehr kurzen Bundestagswahlkampf kam so zur Geltung was über Jahre an Wissen und Erfahrung in der Parteizentrale und bei den lokalen Haustürwahlkämpfen der vergangenen Jahre gesammelt wurde. Martin Neise erinnert sich daran, wie im Karl-Liebknecht-Haus bereits vor zehn Jahren erste Gespräche mit Aktivist*innen aus den USA und Großbritannien geführt wurden, wo das »Canvassing« – also die Haustürgespräche – eine lange Tradition haben. Es wurden Leitfäden zur Gesprächsführung und Texte mit den Grundregeln studiert. Seit 2018 wurden dann erste kleinere Haustürkampagnen gestartet. Im Bundestagswahlkampf 2021 wurden die Experimente ausgeweitet.
Erfolge zeigten sich unter anderem bei den Bürgermeister*innenwahlen in Rostock und Boizenburg in Mecklenburg-Vorpommern im Herbst 2022. Ein Durchbruch war die erfolgreiche Haustürkampagne von Nam Duy Nguyen, der bei den Landtagswahlen in Sachsen im vergangenen Oktober gegen alle Trends in Leipzig das Direktmandat gewinnen konnte. Zu einem massiven roll out der neuen Haustürstrategie kam es nun aber erst bei den Bundestagswahlen. Bundesweit wurde bis zum Wahltag an 638 123 Haustüren geklopft, darunter in allen sechs Wahlkreisen, in denen DIE LINKE das Direktmandat gewinnen konnte. Vorbereitet wurde die Kampagne durch eine groß angelegte Umfrage, in der im vergangenen Jahr vor allem nach den Hauptproblemen der Menschen gefragt wurde. Diese wurden dann zu den zentralen Forderungen des Wahlkampfs gemacht: Der Kampf gegen zu hohe Mieten und die Preissteigerung.
Lichtenberg bleibt rot
Die Haustürkampagnen in den verschiedenen Wahlkreisen folgten unterschiedlichen Dynamiken, je nachdem wie sich die lokalen Verhältnisse, Problemlagen und Parteistrukturen darstellten. Jede müsste einzeln analysiert werden, um Vergleiche herzustellen. Berlin Lichtenberg war dabei ein ganz besonderes Terrain. Der Bezirk, in dem auch der Sozialistenfriedhof liegt, auf dem das Mahnmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht steht, war seit der Wende 1989/1990 aufgrund seiner Bevölkerungsstruktur eine Hochburg zuerst für die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und anschließend für DIE LINKE. In den 1990er Jahren gewann die hoch geachtete Wirtschaftswissenschaftlerin Christa Luft den Wahlkreis für die PDS. Seit 2002 wurde Gesine Lötzsch bei sechs aufeinanderfolgenden Wahlen jedes Mal direkt gewählt. Das beste Ergebnis erzielte sie 2009 mit 47,5 Prozent der Erststimmen. Während die ehemalige Parteivorsitzende Gesine Lötzsch als Person im Bezirk immer populär blieb und über Wertschätzung über alle Parteigrenzen hinweg verfügt, erodierte die Zustimmung für DIE LINKE – ein anhaltender, bundesweiter Trend, der durch die Beliebtheit einer einzelnen Person offenbar nicht umzukehren war. 2021 – das Jahr, in dem die Partei beinah aus dem Bundestag flog, erhielt Lötzsch nur noch 25 Prozent der Erststimmen im Wahlkreis.
Es war daher alles andere als sicher, dass die 36-jährige Schwerdtner als eine neue und bislang kaum bekannte Politikerin im Bezirk das Direktmandat gewinnen könnte. Der Haustürwahlkampf hat sie allerdings in wenigen Woche bekannt gemacht. Die plötzliche mediale Präsenz der Partei und die Social Media Kampagne gaben Auftrieb. Es war aber auch die thematische Zuspitzung, die funktioniert hat. »Der Fokus auf die sozialen Themen hat den Nerv der Bevölkerung in Lichtenberg getroffen«, ist sich Martin Neise sicher. »Die Ankündigungen von Ines Schwerdtner, Jan van Aken und anderen Kandidat*innen ihre Diäten auf einen Durchschnittslohn zu deckeln und den Rest an soziale Projekte und Rechtsberatung zu spenden, hat außerdem für eine hohe Glaubwürdigkeit gesorgt. Das kam sehr gut an«, ergänzt er.
Und nicht zuletzt war es die Zuspitzung auf den Zweikampf mit der AfD-Rechtsauslegerin Beatrix von Storch, den Schwerdtner in Lichtenberg mit seiner besonderen Geschichte als Ostbezirk für sich entscheiden konnte. »Es war der Kampf von Gut gegen Böse, dem Arbeiterkind aus dem Osten gegen die reiche Adlige aus dem Westen, deren Großvater Finanzminister von Adolf Hitler war.«. Auch für die Kommunikation dieses Narratives waren die Haustürgespräche zentral.
Die Linke hat also durch eine Mischung aus beeindruckender Organisation, durchdachter Strategie und einer guten Portion Glück eine neue Chance bekommen. Aber kann sie damit etwas anfangen? In ihrem Papier über das »Comeback der Linken« entwickeln die Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken eine Reihe von Ideen und Strategien, die dafür sorgen könnten, dass die Partei sich dauerhaft stabilisiert und Bezirke wie Lichtenberg auch in Zukunft rot bleiben. Die Partei wird sich auf Bundesebene als eine klassenkämpferische soziale Opposition gegen die von Friedrich Merz geführte CDU/CSU/SPD-Bundesregierung aufstellen müssen. Durch die Fokussierung auf die linken Kernthemen der sozialen Gerechtigkeit kann Profil gewonnen werden. Es sollte eine »direkte und mobilisierende Sprache« gesprochen werden, damit die Menschen wieder verstehen, wofür die Linke steht. Mit »revolutionärer Freundlichkeit« sollte die Linke gleichzeitig wieder zu einer Partei werden, die Spaß macht und für ein solidarisches Miteinander steht. Gleichzeitig müssen auf lokaler Ebene die vielen neuen Mitglieder integriert werden und dauerhaft an die Partei gebunden werden. Hilfreich könnten dabei nicht zuletzt die Organisierung konkreter Hilfeleistung durch Rote Tafeln, Rechts- und Sozialberatung sein. Die bereits angekündigten Angriffe der kommenden Regierung unter Friedrich Merz auf soziale Errungenschaften und demokratische Rechte werden zum Lackmustest für die Linke werden. Kann die Partei zum Widerstand beitragen und eine gesellschaftliche Alternative formulieren, die einen weiteren Rechtsruck stoppen kann? Eines ist dabei sicher: »Eine linke Kraft ist immer dann stark, wenn sie im Leben der Menschen einen Unterschied macht«, wie die Parteivorsitzenden schreiben.