Was ist an einer Positionierung zu China aus linker Perspektive denn so dringend?

INGAR: Dafür gibt es aus meiner Sicht vor allem drei Gründe: Erstens steht China zunehmend im Fokus westlicher Aggressio­nen. Tatsächlich wird der Kon­flikt zwischen den USA und China das 21. Jahrhundert konfigurieren und tut es schon jetzt. Zweitens zielen die Angriffe im Besonderen darauf, eine bestimmte Form des Staatsinterventionismus zurück­zudrängen. Chinas Wirtschafts­politik wird von den USA und der EU als »illegaler Staatssubventionismus« eines »systemi­schen Rivalen« gebrandmarkt. Und drittens: Während man in der EU beim Kampf gegen die drohende Klimakatastrophe bis hinein ins linke Bürgertum vornehmlich auf einen »technologischen Optimismus« und neolibera­le Marktlösungen setzt, ist China dem Westen in vielerlei Hinsicht überlegen. Die Voraus­setzung für Chinas Führungsrolle im Bereich Hochgeschwindigkeitszüge, E-Mobilität (ins­besondere im öffentlichen Nahverkehr) oder erneuerbare Energien, für seinen durchaus widersprüchlichen Weg in Richtung ›Öko-Zivilisation‹, ist die Nutzung seiner enormen Staatsressourcen. Der Westen steht also vor dem Scheideweg. Er muss sich überlegen, ob er Chinas Weg bekämpfen oder nachahmen will. Die Ausein­andersetzung mit China als Macht im interna­tionalen System ist nicht zuletzt für die Suche der Linken nach Auswegen aus der allgegen­wärtigen Demokratie-, Gesellschafts- und Klimakrise von ent­scheidender strategischer Bedeutung.  

JAN: Ich stimme voll zu: Die Linke muss ihr Verhältnis zu China unbedingt klären. Das Land ist in den letzten Jahrzehnten ins Zentrum der Weltwirtschaft gerückt. Von daher befinden wir uns gegenwärtig in einer historischen Umbruchsituation. Räumliche Hierarchisierungen und Abhängigkeitsbezie­hungen zwischen den einzelnen Zonen des kapitalistischen Weltsystems und folglich Machtressourcen werden grundlegend neu geordnet. Natürlich ist dies hochgradig konfliktär und umkämpft, wird doch zum ersten Mal seit Generationen die globale ökonomische, militärische und politische Dominanz des Westens ernsthaft herausge­fordert. Da ist es nicht hilfreich, das Verhältnis zu China primär über einen linken Moralismus zu bestimmen. Natürlich gibt es in dem Land eine Vielzahl von Krisen und sozialen Unge­rechtigkeiten, Ausbeutung, ökologische Zerstörung etc. Die Linke aber muss ihr Verhältnis zu China analytisch bestimmen und Widersprüche vor dem Hintergrund der Weltgeschichte und den Machtverhältnissen ihrer Zeit verstehen. Es geht um die Frage, welche Entwicklungsoptionen sozialistische Staaten in einem kapitalistischen Weltmarkt haben. Die Selbsteinbettung Chinas in die kapitalistische Globalisierung ermöglichte es dem Land einerseits, bestimmte Moder­nisierungsstufen zu überspringen, da es technologische und soziale Innovationen nicht selbst hervorbringen musste. 1,3 Milliarden Menschen wurden aus extremer Armut in Lebensverhältnisse gehoben, die zumindest für mehrere Hundert Millionen von ihnen Bedingungen schufen, die denen im Westen ziemlich nahekommen. Andererseits erzeugte die globalkapitalistische Entwicklungslogik neue Widersprüche, die die des isolierten Aufbaus des Sozialismus ersetzten. 

Ist also ein »linker Moralismus« das Haupt­problem in der Diskussion?

DANIEL: Es ist zu einfach, die linke Kritik am chinesischen Entwicklungsmodell und den Macht- und Herrschaftsverhältnissen als Mora­lismus zu diskreditieren. Allein in Deutschland gibt es zahlreiche Wis­sen­schaftler*innen und aktivistische Zusammenhänge, die Chinas Ent­wicklung aus einer historisch-materialistischen Perspektive betrachten. Diese anno 2020 als autoritäre Form des Staatskapitalismus zu begreifen, hat nichts mit Moralismus zu tun, sondern bedeutet, die historischen Vorausset­zungen, das institutionelle und ideologische Erbe der Mao-Ära und die durch den kapita­listischen Weltmarkt vermittelten Zwänge in die Analyse miteinzubeziehen. Die Diskussion zur Frage »Ist China sozialistisch oder kapita­listisch oder irgendetwas dazwischen?« muss historisch und empirisch geführt werden. An­sonsten sagen derartige Debatten erfahrungs­gemäß mehr über die politische Sozialisation der Beteiligten aus als über den eigentlichen Untersuchungsgegenstand. 

Mir scheinen zwei Aufgaben wesentlich: Erstens ist eine historische Analyse der Transformation der Produktions- und Klassen­verhältnisse sowie ihrer Einschreibung in die Politik des ja keineswegs monolithischen chi­nesischen Parteistaats vonnöten. Wie artiku­lieren sich transnationale Kapitalinteressen mit denen unterschiedlicher Kapitalfraktionen und Teilen der Bürokratie? Wie haben sich Macht­verhältnisse und Herrschaftstechniken unter Xi verändert? Wir müssen über das »pro Staa­tsinterventionismus« oder »pro strategische, gesteuerte Entwicklung« hinausgehen und uns fragen: Welche konkrete Rolle nehmen Interventionen angesichts weitreichender Pri­vatisierung von Industrie, Gesundheitswesen, Wohnungsmarkt in den 1990ern ein? Mit wel­chen Zielsetzungen agieren unterschiedliche Ebenen und Fraktionen innerhalb von Staat und Partei in den einzelnen Politikbereichen, welche Interessen werden berücksichtigt und welche nicht? 

Zweitens müssen wir stärker an die viel­fältigen sozialen Kämpfe in China anknüpfen. Es bedarf hierfür Räume des internationalen Austausches. Sie würden auch zeigen, dass die Repression unter Xi massiv zugenommen hat und auch kritische Forschung enorm eingeschränkt wurde – allein in den letzten zwei Jahren wurden Hunderte Arbeiter*innen, Aktivist*innen und Studierende in Polizeige­wahrsam genommen. Nur über den Aus­tausch mit kritischen Kräften dort können wir eine solidarische Haltung entwickeln, die sich nicht zwischen den Machtblöcken China, USA und EU aufreiben lässt. 

JAN: Mir geht es nicht darum, alle kritischen Einschätzungen zu China mit einem pauscha­len Moralismusvorwurf abzutun. Die linke De­batte ist aber oft zu stark von einem Richtig-falsch-Raster geprägt, das eine strategische Positionsbestimmung in einem vermachteten Weltsystem voller Widersprüche erschwert. 

Die Diskussion »Ist China sozialistisch oder kapitalistisch oder irgendetwas da­zwischen?« endet tatsächlich oft in einer Sackgasse. Chinas Entwicklungsmodell steht nämlich in vielerlei Hinsicht quer zu gängigen Vorstellungen. Es ist richtig, dass Partei und Parteienstaat nicht monolithisch sind, unterschiedliche Interessen auf diversen Ebenen um Macht ringen, nationale und internationale Kapitalfraktionen versuchen, sich Ressourcen zu sichern, und vielfältige soziale Kämpfe ausgefochten werden. Die ökonomische Entwicklung Chinas seit der »Reform- und Öffnungspolitik« ist ja deshalb keine gerade Linie vom »Staat zu immer mehr Markt«, sondern ein Zickzackkurs mit unter­schiedlichen Phasen von Experimenten und Korrekturen, ein Vor und Zurück, weil immer unterschiedliche Interessen und Gruppen über die Richtung gestritten haben. Hatte die Demontage der alten Kommandowirtschaft und die Aufgabe des »Danwei«-Sozialsystems in den 1990er Jahren1 unter Staatspräsident Jiang Zemin eine klare neoliberale Ausrich­tung, ging es bereits in den 2000er Jahren unter der Führung von Hu Jintao darum, die extremen Auswüchse der Privatisierung und Liberalisierung über den Ausbau nationaler Sozialsysteme und Arbeitsmarktregulierungen wieder einzufangen. Auch heute streiten Fraktionen für mehr Privatisierung, während andere staatseigene Betriebe und kommu­nale Kollektive stärken wollen. Es gibt sogar Inte­ressengruppen in der Partei, denen der aktuelle Handelskrieg nicht ungelegen kommt, weil so eine Öffnung und Liber­alisierung des Finanzsystems möglich erscheinen, etwas, was sie allein politisch nie hätten durchsetzen können. Kurzum: In Chinas Entwicklungsmo­dell finden wir kapitalistische und sozialisti­sche Elemente und Interessen und ob sich China mehr in Richtung Sozialismus oder Kapitalismus entwickeln wird, ist noch offen.

Was ist heute in China von einer sozialisti­schen Wirtschaftsordnung noch übrig?

INGAR: Mir scheint, dass die wichtigsten Bollwerke einer sozialistischen Wirtschaftsord­nung in China erstens der kollektive Land­besitz und zweitens der Umstand ist, dass das Finanzsystem nicht liberalisiert wurde, Chinas Staat also die Kontrolle über Geld- und Zinspolitik behalten hat. Es stimmt, dass Deng Xiaopings »Öffnungspolitik« kapitalistische Klassenverhältnisse geschaffen hat, die durch den Ausbau von Sozialstaatlichkeit abgemildert werden, in denen aber trotzdem Ausbeutung stattfindet und deren Effekt der Anstieg von Vermögensungleichheit über einen längeren Zeitraum gewesen ist. Deng Xiaoping formulierte damals, dass es doch kein Problem sei, »wenn manche Menschen früher reich werden als andere«. Dies schafft Klasseninteressen, die sowohl in den dem Weltmarkt gegenüber offenen Provinzen als auch in der Kommunistischen Partei Chinas wirksam werden. Ob die Korruptionsbekämp­fung unter Xi Jinping und die Verhaftungswel­le in der KP Chinas dieses Widerspruchs Herr werden können oder diesen noch verschärfen werden, vermag ich nicht zu beurteilen. 

Gibt es nicht auch Ähnlichkeiten zu den staats­kapitalistischen Modellen, wie wir sie aus Singapur, Korea, Taiwan oder Japan kennen? 

JAN: Es ist unbestritten, dass China in bestimmten Phasen eine große Ähn­lichkeit zu diesen Entwicklungsmodellen aufwies. Das chinesische Modell aber deshalb unter »Staatskapitalismus« abzuheften, ist zu einfach, weil es die besonderen Eigenschaften und sehr spezifischen Transformationspotenziale dieses Modells übersieht. Kapitalismus zeichnet sich durch eine profitorientierte Warenproduktion aus, die auf privatem Besitz an Produktionsmit­teln und spon­tanen Marktbeziehungen basiert. Es ist allein die Profitrate, die den nächsten In­vestitionszyklus bestimmt und perio disch Wirt­schaftskrisen erzeugt. In Chinas Wirtschafts­modell hingegen sind weiterhin öffentliches Eigentum an Produktions­mitteln und Grund und Boden sowie staatliche Planung dominant. Staatsbetriebe kon trollieren die ›Kommando­brücken‹ der Wirtschaft und private Profite und Märkte sind in eine übergeordnete staatliche Pla­nung eingebettet. Natürlich ist die soziale Ungleichheit gewachsen, wobei sie seit zehn Jahren auch wieder rückläufig ist.

INGAR: Ich würde den Blick auf Chinas innere Verhältnisse gern mit einem stär­keren Fokus auf die gegenwärtige Welt-ordnung verbinden, weil es hier um Fragen des Überlebens der menschlichen Zivilisation insgesamt geht – und zwar in doppelter Hinsicht. Die erste ist die Friedens­frage. Historisch endete der Aufstieg einer neuen ökonomischen Macht – Deutschland –, die die Hegemonie von Angloamerika herausforderte, in zwei Weltkriegen mit etwa 100 Millionen Toten. Die USA haben dann nach 1945 die westlichen Besatzungszonen, Japan und Südkorea in ihr »Empire« integriert. Diese Integration gelang den USA auf dem Höhepunkt ihrer militärischen, ökonomischen, finanziellen und politischen Macht. Die Frage heute ist: Kann sich der Aufstieg Chinas auf friedlichem Wege vollziehen? Wie werden die USA reagieren? China verfügt über gi­gan­tische Währungsreserven und kann so nicht auf dem üblichen Weg über IWF- oder Weltbank-Strukturanpassungsprogramme den Spielregeln der westlich dominierten Weltwirtschaftsordnung unterworfen werden. China ist im Gegensatz zu Japan, Südkorea oder der BRD ein großes Land. Es ist zudem ein souveräner Staat, der sich als »Reich der Mitte« versteht, das vom westlichen Kolonialismus für 250 Jahre an den Rand gedrängt wurde. Ihre militärische Dominanz ist damit die letzte oder wenigstens wichtigs­te Machtressource der USA, um China in einer untergeordneten Stellung in der Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung zu halten. Und sie setzen mit ihrem militärischen Bilateralismus im Westpazifik, der Moderni­sierung der Atomwaffenarsenale und ihrer Stationierung im Südchinesischen Meer als Drohkulisse diese Ressource auch längst ein. US-Generäle wie Ben Hodges gehen davon aus, dass die USA in den nächsten 15 Jahren einen großen Krieg gegen China führen werden. Es gibt also eine reale Kriegsgefahr.

Die zweite große Herausforderung ist die drohende Klimakatastrophe. Im Rahmen des Kapitalismus wird sie nicht abzuwenden sein. Grünes Wachstum ist eine Schimäre. Schon die Vergangenheit zeigt, dass alles, was an Emissionsreduktion durch technolo­gische Innovation erzielt wurde, durch den systemischen Wachstumszwang nicht nur neutralisiert, sondern potenziert wurde. Mit David Harvey gesprochen: Das Problem ist nicht nur die Wachstumsrate, sondern die Wachstumsmasse. Sie verdoppelt sich etwa jedes Vierteljahr hundert. Auf einem endlichen Planeten bedeutet endloses Wachstum Selbstmord. Das Problem ist aber auch, dass wir gesellschaftliche Steuerung dem Markt überlassen. In der globalen Autoindustrie gibt es eine strukturelle Überproduktion von etwa 30 Prozent. 2007 kam es zur globalen Finanzkrise, die Autoindustrien des Westens wurden mit Abwrackprämien gerettet. Die Lösung des Problems wurde in die Zukunft verschoben. Geht es nach der deutschen Autoindustrie, muss man expandieren, und zwar vor allem ins Land mit der größten Mittel­klasse, das heißt nach China. Ginge es nach den westlichen Autoindustrien, würden sie dort den »American Way of Life« verkaufen. Ich denke, wir sind uns einig, dass das bedeuten würde, dass wir schnell einen bewohnbaren Exoplaneten finden und hoffen müssten, dass uns Elon Musk dorthin mitnimmt, wenn die Raumfahrt von Milliardä­ren beherrscht wird. 

Die marktliberalen Gesellschaften sind für die Zukunft denkbar schlecht aufgestellt. China hat dagegen dem Westen beim Kampf gegen den Klimawandel manches voraus. Der Punkt ist: Unabhängig davon, ob man selbst gern in China leben wollte oder nicht, der dortige Staatsinterventionismus ermöglicht Verkehrswendeprojekte, die im Westen derzeit aufgrund der Marktsituation nicht realisiert werden können. In China gibt es auch zu viel Individualverkehr, aber zugleich ist es mit den neuen Maglev-Zügen, die 650 Stundenkilome­ter fahren, demnächst zeiteffizienter, zwischen Peking und Shanghai den Zug zu nehmen, als zu fliegen, während hier von Berlin nach Stuttgart weiterhin viele Menschen per Flug­zeug reisen. Ähnliches gilt für Investitionen in die Windkraft- und Solarenergie oder die Umstellung auf einen elektrisch angetriebenen öffentlichen Personennahverkehr. 421 000 von weltweit 425 000 E-Bussen sind in China im Einsatz, nur 300 davon in den USA. 

All das ist nicht widerspruchsfrei. Auch China setzt weiterhin auf Atom- und Kohle­kraft, aber wer es mit dem Kampf gegen den Klimawandel ernst meint, muss diese Fähigkeit der langfristigen Gesellschaftsplanung auch im Westen erlangen. Das heißt nicht, das chinesi­sche System zu übernehmen. Worum es geht, ist, die werdende Großmacht China als einen Akteur im Kampf gegen den Klimawandel an­zuerkennen und gegen den vorherrschenden Trend in Richtung eines neuen Kalten Krieges einen neuen Multilateralismus anzustreben, der zur »friedlichen Koexistenz« zurückkehrt und von der grundsätzlichen Annahme ausgeht, dass es unterschiedliche Wege zur Bearbeitung von gemeinsamen Problemen und Herausforderungen wie Klimakrise, gesell­schaftliche Teilhabe usw. gibt. 

Wer China hingegen leichtfertig dem La­ger des »globalen Autoritarismus« zuschlägt, der sagt implizit, dass der chinesische Staat kein Verhandlungspartner sein sollte. Darin steckt die Haltung einer westlichen mora­lischen Überlegenheit: hier die Demokratie, dort der Autoritarismus, hier die Guten, dort die Bösen. 

JAN: Der Staatsinterventionismus ist Teil einer viel größer angelegten strategischen Entwicklung, die sich langfristige Ziele ­setzt, über eine Makroplanung Anreiz­systeme schafft und Mechanismen politischen und gesellschaftlichen Lernens und Experimentie­rens entwickelt hat. Trotz aller Spannungen gibt es in China einen Grundkonsens in Bezug auf die Notwendigkeit einer gesteuerten ökonomischen Entwicklung. Er ist auch die zentrale Voraussetzung für eine sozialistisch-ökologische Transformation. Auch der Wes­ten braucht einen solchen basalen Konsens. Doch spätestens seit der neoliberalen Wende ist ein solcher zerbrochen und Entwicklung ist das Resultat widerstreitender Interessen. Daran scheitert seit den 1970er und 1980er Jahren fortwährend der öko­lo­gische Umbau.

DANIEL: Ihr suggeriert, dass das Niveau an staatlicher Intervention und Steuerung in China einen qualitativen Unterschied zu Formen (staats-)kapitalistischer Ent­wicklung markiert. Dies halte ich für falsch und irreführend. Es gilt anzuerkennen, dass sich spätestens seit den 1990er Jahren kapitalisti­sche Produktions- und Klassenverhältnisse in China durchgesetzt und auch den Charakter von Partei und Staat entscheidend verändert haben. Sicher, die Entwicklung in Richtung eines autoritären Staatskapitalismus war keineswegs schon Ende der 1970er Jahre abzusehen. Der Prozess der »Reform und Öffnung« verlief nicht gradlinig und blieb innerhalb der Partei umkämpft. Aber die strukturelle kapitalistische Transformation ist nicht zu leugnen. China hat in den vergange­nen 40 Jahren einen massiven Prozess der Kommodifizierung von Arbeits­kraft durchlau­fen, Privatunternehmen erwirtschaften den größten Teil des Bruttoinlandsprodukts und haben den größten Anteil an Beschäftigten. Es stimmt, dass es in China – im globalen Vergleich – einen noch immer relativ hohen Anteil an staatlichen Unternehmen gibt, aber auch diese wurden ab Mitte der 1990er Jahre in Kapitalgesellschaften umgewandelt, deren Ziel die Aneignung von Mehrwert unter profit­getriebenen Konkurrenzbedingungen in China und auf dem Weltmarkt ist. Die Reformierung des staatlichen Sektors hat eine nationale Kapitalistenklasse hervorgebracht und für die Einschreibung von Kapitalinteressen in Staat und Partei gesorgt. 

Bei den jüngeren sozial-ökologischen Reform­bestrebungen des chinesischen Staates muss neben der Erfolge etwa bei erneuerbaren Energien und der ›Verkehrswende‹ auch berücksichtigt werden, dass sich der »Ameri­can Way of Life« bzw. die »imperiale Lebens­weise«, zumindest was die Mobilitätsfrage betrifft, in Teilen der Mittelschicht sehr wohl durch­gesetzt hat – auch mithilfe staat­licher För derung der Autoindustrie und des Aus­baus von Straßen und Autobahnen. 

Ich stimme zu: Das kollektive Landeigen­tum ist ein wichtiges Erbe der Mao-Ära und bedeutend für Chinas Kapitalismusvariante. Aber es gibt die Tendenz zu indirekter Kommodifizierung durch den Handel mit Landnutzungs­rechten, die staatlich geförderte Zunahme großer »Drachenkopf«-Agrarkon­zerne2 und die Transformation der ländlichen Klassenverhältnisse. Auch in Bezug auf das hohe Level staatlicher Intervention und Steuerung ist zu fragen, ob und inwieweit eine starke regulierende und finanzielle Rolle des Staates nicht eher Regel als Ausnahme bei erfolgreichen Prozessen nachholender kapitalistischer Modernisierung ist. Der Un­terschied Chinas zu anderen kapitalistischen Staaten ist meiner Meinung eher quantitativer als qualitativer Natur. 

Es ist richtig, die Gefahr, die mit der Bezeichnung »autoritärer Staatskapitalismus« einhergeht, zu betonen. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, dem »demokratischen Westen« einen »autoritären Osten« gegen­überzustellen. Angesichts der Forcierung und Vorherrschaft derartiger Bilder in weiten Teilen der Medien- und Presselandschaft, jüngst etwa in der Berichterstattung zu Hong­kong, ist das nicht leicht. Das darf uns aber nicht abschrecken, die zunehmend autoritäre Entwicklung in ­China zu kritisieren, die sich gegen Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und andere Teile der ­Zivilgesellschaft richtet und im Zusammenhang mit der globalen Tendenz zum autoritären Kapitalismus zu verstehen ist. 

Die allerwichtigste Aufgabe liegt darin, an die sozialen Kämpfe und bestehenden linken Kräfte in China anzuknüpfen. Nur wenn wir den Austausch mit ihnen und das gegen­seitige Verständnis vertiefen, die Kämpfe und Auseinandersetzungen hier und dort aufei­nander beziehen, ist eine Haltung möglich, die sich den autoritären und militaristischen Entwicklungen in herrschaftskritischer und solidarischer Weise entgegenstellt.

1 Das »Danwei«-System bezeichnete die Elementar­form der sozialistisch-gemeinschaftlichen Arbeits- und Lebensweise in der Volksrepublik China, z. B. in Gestalt einer Fabrik mit Werkswohnungen oder einer Fakultät an einer Hochschule. Sie diente der Gemeinschafts­stiftung und der allgemeinen Wohlfahrt. Ein »Danwei« (übersetzt als »Arbeitseinheit«) umfasste Alterssicherung, Gesundheitsversorgung, Kitas und Schulen sowie eine lebenslange Arbeitsplatzgarantie.

2 Drachenkopf-Agrarkonzerne nennt man die agrar­wirtschaftlichen Leitunternehmen in China. China sieht in diesen staatlich geförderten Unternehmen ein Mittel zur Anpassung der Landwirtschaft an neuere Lebensmittel­konsumgewohnheiten und zur Produktivitätssteigerung in der weiterhin kleinbäuerlich strukturierten chinesi­schen Agrarwirtschaft. Als solche sind sie umstritten.

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