2011 war ein schwieriges Wahljahr für Die Linke. Statt von Gewinn an politischem Einfluss zeugen die Ergebnisse von Stagnation, auch Rückgang der politischen Bedeutung und sozialen Reichweite. In den bundesweiten Umfragen liegt die Partei weit hinter den Werten vom Herbst 2009. Die Gründungsdynamik ist erschöpft. Vielfältige Ursachen, interne und externe Faktoren werden benannt. erne und externe Faktoren werden benannt. Organisationssoziologische und politikwissenschaftliche Betrachtungen messen das Wohlergehen einer Partei in den Einheiten »Mitglieder«, »Finanzen«, »Stimmen«, »Mandate« und »Ämter«. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange die Partei darüber nicht zum Selbstzweck wird und weiter gehende Fragen im Blickfeld bleiben: Welche Art von Partei soll es sein – Wahlpartei, Mitgliederpartei? Welche Rolle spielt die Parteiorganisation für die angestrebten Veränderungen? Wozu braucht die bundesdeutsche Gesellschaft die Partei Die Linke? Wozu braucht die gesellschaftliche und politische Linke eine Partei? Und wozu braucht Die Linke als Partei im parlamentarischen Politikbetrieb Mitglieder? Die Organisationsfrage ist für Die Linke nicht nur zentral, weil sie ihre Gründungsphase hinter sich hat.Die sozialen Aufbrüche wie in Spanien, die Wahlerfolge neuer Parteien wie der »Piraten« in Deutschland oder der »Bürgerbewegung« von Janusz Palikot in Polen: Das sind Brüche in den politischen Ausdrucksformen, die an den traditionellen linken Partei- und Organisationsstrukturen vorbeigehen.

Mitgliederpartei als notwendiges Gegengewicht

Gemäß Artikel 21 des Grundgesetzes »wirken« die Parteien »bei der politischen Willensbildung des Volkes mit«. Aus diesem »Parteienprivileg« resultiert die Sonderstellung der Parteien im System der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. Es macht sie als Mittler zwischen Gesellschaft und Staat zu tragenden Säulen des politischen Systems und des Politikbetriebs. Zum Parteienprivileg gehört die staatliche Parteienfinanzierung, durch die ein großer Teil der professionellen Struktur einer Partei nicht nur an Mitgliederbeiträge und regelmäßige Spenden gekoppelt ist, sondern stärker noch abhängt von ihrer Fähigkeit, Wählerstimmen zu mobilisieren. Parteien repräsentieren Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern; sie vertreten Interessen, auch Wertegemeinschaften; sie koalieren und bilden Regierungen und Opposition. Wenn es gut läuft, verschaffen sie einer parlamentarischen Demokratie Anerkennung und Zustimmung. Wenn es nicht so gut läuft, weil Parteien sich so schnell und grundlegend verändern, dass größere Teile der Anhängerschaft vor den Kopf gestoßen werden, oder weil Parteien nicht angemessen auf neue gesellschaftliche Entwicklungen reagieren, entstehen Repräsentationslücken – »günstige Gelegenheiten« für erfolgreiche Parteigründungen. Die Linke ist eine solche Gründung. Ihr Gelegenheitsfenster war die »Agenda 2010« und ihre erste Funktion bestand darin, die Defekte im demokratischen System zu benennen, die die etablierten Parteien hervorgerufen hatten (Missachtung, ja Gegnerschaft zu relevanten, großen Interessengruppen in der Bevölkerung). Ihre zweite Funktion besteht darin, an der Behebung dieser Defekte beteiligt zu sein, durch Neuverteilung von Macht und Einfluss. Nur vordergründig handelt es sich dabei um Mandate und Ämter. Im Kern geht es darum, ob die vormals missachteten Interessen einen gebührenden Platz im politischen Betrieb einnehmen. Die Grünen waren einst die erfolgreiche Verstetigung der sich über Jahre entwickelnden Anti-akw- und Friedensbewegung ins Parteiensystem. Der Linken fehlt dieser Rückhalt einer sozialen Bewegung, die sich über »alternative« Lebensentwürfe, Lebensstile und auch alternative Betriebe eigene soziale Strukturen schafft und dauerhafte Milieus bildet. Das »soziale Kapital« (Geiling/Vester 2007) Der Linken speiste sich 2005 und 2009 bei der Wahlbevölkerung zudem zum geringeren Teil aus der sozialen Verankerung von Mitgliedschaft und Parteiorganisation im gesellschaftlichen Alltag.Zum größeren Teil entstand es über die Spitzenvertreter der Partei und ihre mediale Präsenz. Trotz des in Ostdeutschland mancherorts bestehenden Images der Kümmererpartei und des in Westdeutschland in manchen Städten gelungenen Anschlusses an gewerkschaftliche, prekarisierte und akademische Milieus: Das Gesicht der Partei, ihr Vertrauenskapital und ihre glaubwürdige Botschaft hängen im hohen Maße von der Medienwirkung ihrer Vertreter ab. Wie andere Parteien auch ist Die Linke doppelt abhängig von Personen und Medien. Die Mitgliedschaft wird strukturell mehr und mehr in eine Zuschauerrolle gedrängt. Die »Gesetze der Marktlogik« verleiten dazu, »Politik zu dramatisieren und zu skandalisieren.« (Wiesendahl 2009, 41f) Vertrauenskapital hängt stark von einer glaubwürdigen Botschaft der medialen Inszenierung einer kleinen Gruppe von Berufspolitikern ab. Das macht Parteien von öffentlichen Stimmungsumschwüngen abhängig: »Die Konzentration der elektoralen Medienaufmerksamkeit auf wenige bundespolitische Spitzenakteure hat dazu noch den fatalen Effekt, dass mittlerweile bei Regional- und Kommunalwahlen untere Parteigliederungen in Verantwortungshaft genommen werden und ihr elektorales Wohl und Wehe von der bundespolitischen Großwetterlage bestimmt wird.Die Linke zeigt nach der Bundestagswahl 2009 deutliche Spuren dieser Abhängigkeit (vgl. Diehl 2011). Die Notwendigkeit, politische Inhalte über Personen und Medien zu vermitteln, zu personalisieren und zu medialisieren, damit eine hohe Abhängigkeit von den Gesetzen der medialen Aufmerksamkeits- ökonomie und des »Politainment« (Dörner 2001), lässt sich weder leugnen noch hintergehen. Sie gehören zur Politik als Kampf um Macht und stärken die Tendenz zu wenig demokratischen und transparenten Wegen der Entscheidungsfindung. Doch statt diese Abhängigkeit zu beklagen, muss es darum gehen, die notwendigen Gegengewichte zu schaffen. Solche Gegenkräfte, die der Personalisierung und Medialisierung notwendige Grenzen setzen, erwachsen aus einer lebendigen Mitgliederpartei, die Widersprüchlichkeiten ausbalancieren kann. An diesem Punkt stagniert Die Linke. Die Organisationsfrage ist zu einer, – wenn nicht der – zentralen, strategischen Frage ihrer weiteren Entwicklung als linke, emanzipatorische Partei geworden.4

»…die wir in der Partei vorleben werden«

Der »Gründungsauftrag« für Die Linke umfasste mehr als die wirksame Repräsentation vergessener, ausgegrenzter Interessen und Schichten. Die Agenda 2010 war nur der letzte Akt einer rot-grünen Agenda, die die Übermacht des Finanzkapitals gegenüber anderen Kapitalfraktionen und der Kapitalfraktionen gegenüber den Interessen der Lohnarbeit und der nationalen Politik ratifizierte. Die Gründung von Die Linke war das Versprechen, das in der Gesellschaft bestehende Unbehagen über die Entwicklungsrichtung offen und organisiert zur Sprache zu bringen. »Es gibt keine politische Bewegung, die nicht zugleich auch eine gesellschaftliche wäre.« (MEW 4, 182) Diese Fähigkeit, die kleinen und großen Fragen nach dem Funktionieren des Bestehenden so zu stellen, dass daraus aus der Gesellschaft selbst die Kraft zur Veränderung in Richtung Emanzipation und Gleichheit erwächst, festigt die dauerhafte Existenz einer Partei links von sozialdemokratischer Verteilungspolitik. Ist die Partei jedoch als Organisation in der Lage, die Veränderungen im Alltagsbewusstsein und die Alltagserfahrungen der unterschiedlichen sozialen Schichten und Milieus in ihrer Anhängerschaft und darüber hinaus wahrzunehmen, zu respektieren und politisch zu verarbeiten? Am Willen und entsprechender Beschlusslage mangelt es nicht: »Unsere Mitglieder tragen unsere Forderungen und Angebote in Schulen, Universitäten, auf die Straße, in die Betriebe, Verbände, Vereine und Institutionen. Ihre Kritiken und Ideen müssen Gehör finden. […] Ziel ist, ein Parteileben aufzubauen, in dem Frauen, junge Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund gleichberechtigte und aktive Mitglieder sind, die politischen Einfluss nehmen und Unterstützung finden und deren politische Interessen, Zugänge, Ansprüche und Bedürfnisse die Inhalte und die Kultur der Partei gleichberechtigt prägen. Alle Menschen müssen, unabhängig von ihrer Lebenssituation, ihre Talente und Fähigkeiten einbringen können und ihre Rechte auf Gleichstellung, Mitbestimmung und Würde auch tatsächlich realisieren können. Das sind Schritte zu einer modernen, emanzipatorischen, inklusiven und solidarischen Gesellschaft, die wir in der Partei vorleben werden.« (Beschluss des Rostocker Parteitages 2011) In diesem Verständnis von Mitgliederpartei ist die Erkenntnis enthalten, dass es darauf ankommen müsse, die Parteiorganisation zu konsolidieren und zu stabilisieren, die Kommunikation der Partei mit der Gesellschaft stärker über die Mitgliedschaft statt über Medien zu organisieren, kurz: aus der Sammlungsbewegung eine Mitgliederpartei aufzubauen. Mitgliederparteien unterscheiden sich von Wahlparteien und Medienparteien vor allem dadurch, dass der Daseinszweck von Mitgliedern über Beitragszahlung, Kandidatenkür, Kampagnen und Wahlkämpfe hinausreicht. Wer Machtverhältnisse erfolgreich in Frage stellen will, braucht eine aktive, verändernde, emanzipatorische Prozesse eröffnende und tragende Mitgliedschaft, kurz ein organisatorisches Eigengewicht. Bestand und Wirksamkeit als systemkritische transformatorische Kraft gründen zuvorderst nicht auf der Professionalität der Partei als parlamentarischer Akteur oder ihres Spitzenpersonals. Eine linke Partei ist nur vorstellbar als Mitgliederpartei, die zugleich aktiv mit der Gesellschaft verbunden ist, einer Mitgliedschaft, die die Veränderbarkeit der bestehenden Verhältnisse verkörpert. Eine solche Parteiorganisation braucht gleichwohl mediale Repräsentation und Präsenz, verfügt aber über größtmögliche Souveränität gegenüber der »medialen Achterbahn« (Wiesendahl). Es gibt drei wesentliche Gründe, in einer Mitgliederpartei Mitglied zu sein: gemeinsame Werte, exklusive Informationen und Beteiligung (vgl. Detterbeck 2009). Parteimitgliedschaften gründeten sich nie allein auf gemeinsame materielle, soziale oder ökonomische, und ideelle Interessen, sondern auch auf gemeinsame Wertorientierungen. Die Mitgliedschaft muss zudem Vorteile gegen- über der Nichtmitgliedschaft bieten. Hierbei handelt es sich um Vorteile bei der »Information« und bei der »Beteiligung«. So verfügen Parteimitglieder über exklusive Informationen über politische Prozesse und Angelegenheiten der Partei und können so mediale Vorgänge erklären und erläutern; in Medienparteien kommunizieren die Parteiführungen mit den Mitgliedern wie mit den Wählerinnen und Wählern. »Beteiligung« ist in linken Parteien nie instrumentell, sondern Ausdruck der Erkenntnis, dass nachhaltige Veränderungen nie von großen Männern und Frauen allein bewerkstelligt wurden.

Emanzipatorisches Verändern: sich die eigenen Lebensräume aneignen

Mitgliederparteien charakterisiert eine (nach-) wachsende Mitgliedschaft, die sich selbst als Partei in vierfacher Weise fordert: als eine lernende Organisation (1), als Ort praktischer Solidarität (2), als sozialer Akteur (3) und als politischer Akteur (4). Im immer wieder neuen Zusammenspiel dieser vier Ebenen entsteht die Attraktivität der Mitgliedschaft gegen- über der Nichtmitgliedschaft: Parteileben als Vorgriff auf die »moderne, emanzipatorische, inklusive und solidarische Gesellschaft«.5 1  | Die politische Tradition der Linken ist angefüllt mit Parteien, deren Führungen und Mitglieder immer schon Bescheid wussten, wie die Welt richtig zu erklären und erfolgreich zu verändern ist. Innerparteilich ergebnisoffene Prozesse und demokratische Suchbewegungen zählten nicht zu ihren Stärken. Gesellschaftliche Veränderungen, neue Entwicklungen in der Arbeits- und Lebensweise wie im Alltagsbewusstsein verliefen oftmals an ihnen vorbei, wenn sie als Differenz zum »Klassenbewusstsein« ausgemessen wurden. »Lernende Organisationen«ermöglichen den Mitgliedern kollektive Prozesse der Bildung, Selbstaufklärung über die Welt und Selbstermächtigung zum solidarischen Handeln.Sie sind offen gegenüber Neuem, Problemen und Unzulänglichkeiten. Sie begreifen ihre Mitglieder als Grenzgänger zwischen Partei(leben) und Alltags(leben), die die Wirklichkeit in die Partei tragen und sich der Welt mit Neugier in verändernder Absicht nähern.8 Eine Kultur des kollektiven Lernens tut gerade dort not, wo unterschiedliche soziale Lagen ihrer Mitglieder und unterschiedliche soziale Erfahrungen aufeinander treffen. Je stärker die differenzierte Sozialstruktur der Gesellschaft sich in der Mitgliedschaft wiederfindet, desto größer sind die Möglichkeiten, in den politischen Forderungen soziale und kulturelle Unterschiede aufzunehmen und zusammenzuführen. Eine lebendige Organisationsarbeit entwickelt Mechanismen, um aus lokalen Ereignissen und Erlebnissen kollektive Erfahrungen machen zu können. Sie lobt den Widerspruch, weil nur er dazu verhilft, Irrtümer und Missgriffe zu korrigieren, unterschiedliche Erfahrungen zu deuten. Zuhören können und zum Widerspruch ermuntern zählen zu den kulturellen Grundlagen einer lernenden Organisation. 2  | Linke Organisationen sind auch soziale Orte praktischer Solidarität. Solidarität beginnt mit der wechselseitigen Anerkennung als Gleiche jenseits der individuellen Stellung in der kapitalistischen Verwertungshierarchie. Der gleiche Respekt gebührt dem Lehrer wie der Langzeiterwerbslosen, dem Rede- wie dem Plakatiertalent. Linke Organisationen haben, wenn es gut mit ihnen lief, immer mehr organisiert als materielle Interessen. Immer ging es dabei um gemeinsame Werte und Vorstellungen von einem »guten Leben«. Die frühen Organisationsformen der Arbeiterbewegung, Gewerkschaften wie Parteien, verfügten zum Beispiel über eigene Arbeitsnachweise und Unterstützungskassen, etwa für erwerbslose Mitglieder oder bedürftige Angehörige. Im Laufe der Jahrzehnte wurden diese Funktionen vom Sozialstaat übernommen. In dem Maße, in dem solche sozialstaatlichen Funktionen unter veränderten, sich ausdifferenzierenden gesellschaftlichen Bedingungen versagen oder wieder abgestoßen werden, wächst die Bedeutung der Formen praktischer Solidarität – gerade auch für linke Parteien, wenn sie sozial ausgegrenzte Bevölkerungsteile vertreten. Die Aufgaben beginnen bei der Art und Weise, wie in der Partei über Politik geredet wird, gehen über Organisationsformen, die den flexiblen und unterschiedlichen Arbeits- und Lebensrhythmen der Mitgliedschaft Rechnung tragen, und enden bei den konkreten Ausdrucksformen der Egalität, dass jede und jeder wichtig ist und gleich viel zählt. Wie sieht das moderne Parteileben aus, das sowohl den wechselseitigen Respekt als demokratische Gleiche in der Partei als auch praktische Solidarität mit erheblicher Anziehungskraft auf Nichtmitglieder enthält? Ein Weg wäre, mit Blick auf die Geschichte, die Gründung von Genossenschaften und anderen Vereinen auf Gegenseitigkeit, die auch für Nichtmitglieder offen stehen, und denen sich durch die modernen Technologien neue Perspektiven bieten. Warum sollte es nicht Mitglieder linker Organisationen, Der Linken geben, die über Energie- oder Einkaufsgenossenschaften und anderes mehr alltägliche Räume praktischer Solidarität schaffen und somit aktiv an einer Milieubildung mitwirken? 3  | Über ihre aktive Mitgliedschaft wird die Partei zum sozialen Akteur, der im sozialen und gesellschaftlichen Feld wahrnehmbar ist. Stammwählerschaften, parteinahe Milieus haben sich immer dort gebildet, wo Parteimitglieder Handlungen im politischen Feld mit denen im sozialen Feld der Betriebe, Vereine, Nachbarschaften erfolg- und sinnreich verknüpften. Im sozialen Feld aktive Mitglieder, die als solche auch bekannt sind, sind die Garanten der Glaubwürdigkeit; sie sind das alltägliche Gesicht der Partei und ihrer Ziele nach außen, aber auch des authentischen, von keiner Umfrage verfälschten Transports der Stimmungen, Erfahrungen, Sichtweisen im sozialen Handlungsfeld, kurz des Alltagsbewusstseins in die Partei hinein. Wie, wenn nicht auf diesem Wege über die Mitglieder sollen in den einzelnen lokalen und sozialen Feldern hegemoniale Sichtweisen unterhöhlt und gekippt, Gegenperspektiven entwickelt werden? Eine solche Sicht auf alltägliche gesellschaftliche Veränderung hat die historische Last des leninistischen Partei- und Kaderverständnisses gegen sich. Tatsächlich geht es darum, ob Mitglieder ermutigt und unterstützt werden, auch außerhalb der Parteiversammlung, als Betriebsräte, in öffentlichen Unternehmen, in der Verwaltung, in Vereinen, in der Nachbarschaft als Mitglieder Der Linken bekannt zu sein, sich ansprechen zu lassen, Positionen zu vertreten und das, was an Fragen und Unverständnis entsteht, in die Partei zurückzutragen. Es geht also nicht nur um eine offene, innerparteiliche Kommunikation von unten nach oben. 4  | Das Verständnis linker Parteien als Mitgliederparteien gründet auf der Annahme, dass politische Veränderungen durch gesellschaftliche Veränderungen im vorparlamentarischen Raum, jenseits des politischen Systems im engeren Sinne, vorbereitet und getragen werden. In seiner Rede »Den antikapitalistischen Übergang organisieren« auf dem Weltsozialforum 2010 hat David Harvey ausgeführt: »Gesellschaftsveränderungen entstehen aus der dialektischen Entfaltung der Beziehungen zwischen sieben Momenten, die zum politischen Körper des Kapitalismus als einem Ensemble oder einer Ansammlung von Tätigkeiten und Praktiken gehören.« Hierzu zählt Harvey Formen der Produktion, des Austauschs, der Konsumtion; die Beziehungen zur Natur; die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen; die geistigen Vorstellungen von der Welt; die Arbeitsprozesse; die institutionellen, rechtlichen und staatlichen Arrangements; die alltägliche Lebensführung. »Jeder dieser Momente ist selbst dynamisch und beinhaltet Spannungen und Widersprüche […], aber alle sind von allen wechselseitig abhängig und entwickeln sich in Beziehung zueinander. Worauf es wirklich ankommt, ist die dialektische Bewegung zwischen all diesen Momenten, auch wenn sich in ihr ungleiche Entwicklungen vollziehen.« (Harvey 2010, 12f) Veränderungen, deren Reichweite über das politische System hinausgeht, kommen nicht aus dem politischparlamentarischen System. Meistens werden Veränderungen dort nur ratifiziert, manchmal geburtshelferisch beschleunigt. Die Potenziale und Kräfte der Veränderung entstehen an ganz unterschiedlichen Stellen und in ihrem Wechselspiel. Organisationen und Parteien, die als politische Akteure nur im politischen System verankert sind, werden von der »dialektischen Entfaltung der Beziehungen« im »politischen Körper des Kapitalismus« immer wieder überrascht und an den Rand gedrängt werden. Die Veränderungsstrategien der Partei Die Linke sind demgegenüber unterkomplex entwickelt. Sie schwanken zwischen der Hoffnung, die soziale Vielfältigkeit ihrer Anhängerschaft und unterschiedliche politische Erwartungen ihrer Wählerschaft durch Alleinstellung gegenüber der »Konsenssoße« der anderen Parteien zusammenhalten zu können oder alternativ durch die Erlangung konzept- und projektbezogener Aushandlungsund Gestaltungsmacht, altdeutsch: zwischen Revolution und Reform. Beide Vorstellungen verorten die Partei zugleich vor allem als Wahl- und Medienpartei und unterschätzen die Organisationsfrage. Die Organisationsfrage ist jedoch die zentrale strategische Herausforderung für Die Linke im Übergang von der Sammlungsbewegung zur Partei. Als Partei, die auf Selbstaufklärung und Emanzipation setzt, darauf, dass Bürgerinnen und Bürger zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte werden, muss es vor allem anderen darum gehen, Beteiligung in ihrer doppelten Bedeutung – des passiven »Beteiligt werden« und des aktiven »sich beteiligen« – glaubwürdig aufzubauen, d.h. als politischer Akteur mit anderen neue Räume, Sichtweisen, Horizonte zu erschließen, in denen die praktische Erfahrung wächst, dass man etwas ändern und sich Teile der eigenen alltäglichen Lebensbedingungen aneignen kann. Damit einher geht eine erweiterte Sichtweise, die Erwerbslosen, Niedrigverdiener und andere nicht als »Opfer« herrschender Verhältnisse zu verstehen, sondern als Subjekt von gesellschafts- und Selbstveränderung. Was können Geringverdiener zur Energiewende beitragen? Welche Genossenschaft zur Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse jenseits kapitalistischer Märkte, welche Formen solidarischer Ökonomie mit Potenzial zur Transformation des gesellschaftlichen Lohnarbeitsverhältnisses oder auch welche nachbarschaftliche Aneignung eines verwahrlosten öffentlichen Geländes verbinden sich mit dem Engagement Linker?

Ein kurzes Lob der Politik im sozialen Nahraum

Möglichst weitgehende Kontrolle über die eigenen Lebensverhältnisse und möglichst weitgehende Selbstbestimmung der eigenen Lebensbedingungen in Gleichheit und Freiheit, darauf ließe sich herunterbrechen, was demokratischen Sozialismus ausmachen könnte. Wozu er taugt, zeigt sich im sozialen Nahraum, in den Lebensräumen des Alltags. Aus dem dargelegten Verständnis der Organisationsfrage folgt: Gesellschaftliche Veränderung beginnt in der »Mikropolitik« auch im Alltäglichen der Parteiorganisationen. Ihre alltägliche Präsenz, Beharrlichkeit und Phantasie eröffnen soziale und politische Räume für eigenes Handeln, für das (Wieder-)Aneignender gemeinsamen Angelegenheiten, des Öffentlichen, der Gemeingüter, eines Alltags jenseits der ökonomischen Rationalität. Auf dieser Basis entsteht soziale Verankerung, bildet sich Vertrauenskapital, entstehen »linksaffine« soziale Milieus, die eine linke Partei als eigenständige politische Kraft tragen.10 Was zeichnet demokratischen Sozialismus im praktischen Leben aus? Es ist der Anspruch, zum einen die eigenen Lebensbedingungen weitestgehend zu kontrollieren – Sicherheit – und zum anderen die persönlichen Lebensverhältnisse weitestgehend selbst gestalten zu können – Autonomie. Wachsende soziale Ungleichheit, Ausgrenzung, undemokratische Verfahren, Missachtung der Bürgerrechte vertragen sich damit nicht. Gefordert sind Verhältnisse der Verlässlichkeit und des Vertrauens, die solidarisch handlungsfähige Personen hervorbringen.11 Linke Organisationspolitik muss deshalb dem Herrschaftsbereich der ökonomischen Rationalität des Kapitalverhältnisses Grenzen setzen, um die Aneignung von »disposable time« (Marx) als der wahren Form des gesellschaftlichen Reichtums zu ermöglichen, um die Verfügung über die eigene Lebenszeit auszuweiten, um die Zeit für demokratische Beteiligung, Bildung und Information, für den Ausbau sozialer Räume, die nicht in Form von Lohnarbeit gestaltet sind, zu gewinnen. Organisationsfrage und Aneignungsfrage gehören zusammen. »Es kommt darauf an, die alten Werte der Solidarität zu bewahren und unter veränderten gesellschaftlichen Vorzeichen mit neuem Leben zu füllen. Wer das will, muss zunächst einmal die weitere Zerstörung solidarischer Lebensformen aufzuhalten versuchen, muss zunächst einmal verhindern, dass weiter lebenswichtige Bereiche nach dem Muster gewinn- und herrschaftsorientierter, abstrakter, bürokratischer und industrieller Arbeit organisiert werden.« (Lafontaine 1990, 22) Dafür wird eine linke Partei, die den Wirkungskreis sozialdemokratischer Verteilungspolitik überschreitet, tatsächlich gebraucht. »Veränderung der Kräfteverhältnisse«, »Gegenmacht«, »Transformation« und Strategien der Veränderung sind auf Sand gebaut, solange sie in der Organisationsfrage nicht mehr entdecken können, als vom Mainstream des medialisierten und personalisierten Politikbetriebs vorgegeben wird.  

Literatur

Detterbeck, Klaus, 2009: Die Relevanz der Mitglieder: Das Dilemma effektiver Partizipation, in: Uwe Jun, Oskar Niedermayer und Elmar Wiesendahl (Hg.), Zukunft der Mitgliederpartei, Opladen, 71–88 Diehl, Paula, 2011: Populismus, Antipolitik, Politainment. Eine Auseinandersetzung mit neuen Tendenzen der politischen Kommunikation, in: Berliner Debatte Initial 22, 27–39 Dörner, Andreas, 2001: Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt/M Geiling, Heiko, und Michael Vester 2005: Das soziale Kapital der politischen Parteien, in: Frank Brettschneider, Oskar Niedermayer und Bernhard Weßels (Hg.), Die Bundestagswahl 2005, Wiesbaden, 457–489 Harvey, David, 2010: Den antikapitalistischen Übergang organisieren. Supplement der Sozialismus 11/2010), Hamburg Kellermann, Philippe, 2011: Anarcho-Agnolismus. Über die misslungene Inszenierung eines libertären Marx im »Marxismus-Agnolismus«, in: Prokla 164, 487–508 Lafontaine, Oskar, 1990: Weniger Arbeit, mehr Demokratie, in: ders., Das Lied vom Teilen, München, 22ff Wiesendahl, Elmar, 2009: Die Mitgliederparteien zwischen Unmodernität und wieder entdecktem Nutzen; in: Uwe Jun, Oskar Niedermayer und Elmar Wiesendahl (Hg.), Zukunft der Mitgliederpartei, Opladen, 31–52

Anmerkungen

1 Der Beschluss der 1. Tagung des 2. Parteitages in Rostock vom 15./16. Mai 2010 »Für einen Politikwechsel – Die Linke stärken« gab dem Parteivorstand die Verantwortung für die »weitere Stabilisierung und das Zusammenwachsen der Partei und ihre Verankerung in der Gesellschaft« (www.die-linke.de/ partei/organe/parteitage/2parteitag1tagung/beschluesse/fuereinenpolitikwechseldielinkestaerken). 2 Mit Blick auf die SPD und Gerhard Schröder fassen Heiko Geiling und Michael Vester zusammen: »Soziales Kapital realisiert sich immer nur persönlich in glaubwürdiger Rückkopplung mit der Praxis sozialer Milieus. Je weiter sich Mandatsträger oder Parteifunktionäre von dieser Praxis entfernen, sich primär über mediale Inszenierungen darstellen und dabei den Eindruck erwecken, sich gegen das Ethos der Wählerschaft selbst ermächtigen zu wollen, desto prekärer wird ihre Legitimationsbasis. Übrig bleibt der Hasardeur, der in der Regel ad hoc entscheidet und rücksichtslos das ihm Anvertraute aufs Spiel setzt.« (dies. 2007, 486) 3 Ebd. Auch für Die Linke liegt die Mobilisierungsfähigkeit bei Landtags- und Kommunalwahlen deutlich unter derjenigen bei Bundestagswahlen, bei denen die bekannten Gesichter zur Wahl stehen. Dass diese Abhängigkeit von Personen und Medien nicht zwangsläufig ist, zeigen der jüngste Wahlerfolg der Piraten in Berlin und ihre anschließenden bundesweiten Umfragewerte. 4 Aus der Geschichte der Grünen lässt sich lernen, was unter den herrschenden Bedingungen von Politik und Macht geht und was nicht, wo Veränderungen möglich sind. Zum Beispiel hat sich das »Rotationsprinzip« in der Mitte der Legislaturperiode nicht bewährt. Warum aber nicht Pausen für Ämter und Mandate nach zwei Legislaturperioden, wie sie in vielen Verfassungen vorgesehen, möglich sind, bleibt unerfindlich. Gleiches gilt für eine wohlverstandene Trennung von Amt und Mandat. 5 Mit diesem Beschluss hat sich Die Linke organisa-tionspolitisch von den Prinzipien leninistischer Kader-parteien ebenso verabschiedet wie von der Engelsschen Auffassung zur fehlenden »Autorität und Zentralisation« der Pariser Kommune: »Nach dem Sieg können wir uns organisieren, wie wir wollen.« (MEW 33, 372). Dagegen stellte bereits in der Ersten Internationale das »Jurazirkular« eine andere Position zur Debatte: »Die künftige Gesellschaft soll nichts anderes sein, als die allgemeine Durchführung der Organisation, die die Internationale sich gegeben haben wird. Wir müssen also Sorge tragen, diese Organisation so viel als möglich unserem Ideal zu nähern. Wie könnte eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer autoritären Organisation hervorgehen? Das ist unmöglich.« (zit. n. Kellermann 2011, 492). 6 »Lernende Organisation (LO) bezeichnet eine anpassungsfähige, auf äußere und innere Reize reagierende Organisation. […] Eine lernende Organisation ist idealerweise ein System inständiger Bewegung. Ereignisse werden genutzt, um die Wissensbasis und Handlungsspielräume an die neuen Erfordernisse anzupassen. Dem zugrunde liegt eine offene und von Individualität geprägte Organisation, die ein innovatives Lösen von Problemen erlaubt und unterstützt.« (Wikipedia, http:// de.wikipedia.org/wiki/Lernende_Organisation, 18.10.2011). 7 So zählte zu den frühen Organisationsformen der modernen Arbeiterbewegung der »Arbeiterbildungsverein«, der das Bedürfnis nach intellektueller Aneignung der Lebenswelt entwickelte. 8 Ein frühes Beispiel solcher organisierenden Instrumente ist Marxens »Fragebogen für Arbeiter«, MEW 19, 230–237. 9 Zum Begriff der »Aneignung« siehe arranca!-Redaktion: »Aneignung. Anmerkungen zu einem ambivalenten Konzept.«, www.trend.infopartisan.net/trd0604/t050604.html 10 Zur Partei Die Linke als eigenständige politische Kraft und der Rolle von »Aneignungsstrategien« siehe meine Artikelserie in der Mitgliederzeitschrift »disput«, Ausgaben April, Mai und Oktober sowie das Manuskript vom Januar 2011 »Weniger Arbeit, mehr Demokratie. Oskar Lafontaine über Voraussetzungen einer tätigen Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums«, www.horstkahrs.de 11 Vgl. zum hier verwendeten Sicherheitsbegriff kurz und knapp Katrin Meyer, Sicherheit demokratisieren!; in: WOZ, 15.9.2011.