Je älter ich werde, desto schneller vergeht die Zeit. Im letzten Jahr dachte ich, oh, schon gleich wieder fünf Jahre um, was kommt dieses Jahr in Sachen Erinnerungskultur? Wer hat diesmal die Mauer geöffnet und den Ostdeutschen das Paradies geschenkt? Will ich mich daran beteiligen, indem ich das Ganze von der Seite kommentiere und eine andere Erzählung dagegensetze, oder setze ich mal zehn Jahre aus und sortiere meine Erinnerungen? Wobei das mit der Erinnerung immer so eine trügerische Sache ist. Man erinnert sich nach Jorge Luis Borges ja immer nur an die letzte Erinnerung der Erinnerung.

Die Gefahr besteht darin, dass sie durch häufigen Gebrauch so glatt erzählt wird, dass sie Unkundigen logisch vorkommt, mit der damals erlebten Gegenwart aber nicht mehr allzu viel zu tun hat. Diese war roher und verzweifelter, grandioser und zugleich voller unlösbarer Widersprüche und so rasant, dass ich nicht mal dazu kam, meine Träume aufzuschreiben, wie ich es vorher und danach doch immer tat – unzensierte Erzählungen meines Unterbewusstseins, in denen ich vor dem Fall der Mauer oft in den Westen ging, wo es aussah wie zu Hause, nur bunter und mit mehr Reklame, was sich im Fall von Westberlin ja dann durchaus auch in der Realität als richtig erwies. Vom Jahr 1990 blieben nur wenige Träume überliefert, einer war ganz kurz und ging so: »Ich ging mit einem Mann ins Bett, der hatte Werbung auf seinen Schwanz tätowiert. Ich schrie: ›Ich will in ein Land ohne Reklame!›« Der Traum ist inzwischen Teil einer Ost-West-Performance, »Schubladen« von She She Pop, mit der wir – drei Frauen, die im Osten und drei Frauen, die im Westen sozialisiert wurden, – seit 2012 durch die Welt touren. Wir räumen vor Publikum unsere Schubladen aus und erzählen uns unsere Geschichten, auch die traurigen, peinlichen, atemlosen und die mit doppeltem Boden. Nicht alle Missverständnisse zwischen uns werden in den zwei Stunden ausgeräumt. 

Es war diese Masse aus souveränen Individuen ohne Angst. Ein Moment, in dem alles möglich schien.

Es gab eine Zeit vor circa vier Jahren, als wir dachten, wir müssten das Stück abspielen, weil die Zeit da-rüber hinweggegangen ist. Ost-West hatte sich zugunsten von Nord-Süd erledigt. Danach ist es von Jahr zu Jahr aktueller geworden, wir spielen es immer noch vor vollen Häusern. Denn die Ost-West-Dichotomien haben sich in den letzten fünf Jahren wieder verstärkt, was einerseits mit einer stärker gewordenen Identitätspolitik zu tun hat, aber auch mit den nicht verarbeiteten Folgen des Einigungsprozesses, wobei sich schon über das Wort Einigung trefflich streiten ließe. Drei Dinge gab es nach meiner Beobachtung, die in diesem Jahr stärker in den öffentlichen Fokus der Erinnerungsfeierlichkeiten gerieten und dazu führten, dass die Geschichte nicht so eindeutig vom Ende her erzählt, sondern eher die Dynamik des Prozesses beleuchtet wurde. Zum einen geriet wieder stärker in den Fokus, dass es neben den Leipziger Montagsdemos und dem Mauerfall noch ein weiteres Ereignis gab, die von Theaterschaffenden initiierte Demonstration am 4. November 1989 in Ostberlin, als es um den »Traum von einem Land jenseits von Stalinismus und Kapitalismus ging« (Klein, 2019/2020, 57). Ich habe mich in einem Beitrag an diesen Moment als einen glücklichen, ja, als einen der glücklichsten in meinem bisherigen Leben erinnert, bei allen Widersprüchen, die eine Massenveranstaltung immer hat: 

»Man ging allein aus dem Haus, dann bildeten sich kleine Grüppchen, an der nächsten Straße war es schon eine Menge, die in eine Richtung unterwegs war, bis, in der Nähe des Alexanderplatzes angekommen, aus allen Straßen Menschen strömten – mit selbst gemalten Transparenten, Plakaten, umgearbeiteten Verkehrsschildern, umgewidmeten Kleidungsstücken und Winkelementen. Über eine halbe Million Menschen. Es waren nicht die Reden auf der Kundgebung, die in Erinnerung blieben, es war dieser Moment des Anfangs, die Souveränität der Sprache, die Individualität jeder einzelnen Forderung, der Witz und die Ironie. Es war diese Masse aus souveränen Individuen ohne Angst. Ein Moment, in dem alles möglich schien.« (Gröschner 2019).

Der 4. November war ein Tag, an dem kollektiv die Vormundschaft des Staates nicht nur infrage gestellt, sondern abgeschüttelt wurde. Kaum ein Jahr später begaben wir uns in der Mehrheit freiwillig in eine andere Art von Vormundschaft, die ein Über-den-Mund-fahren war: 

»Halt die Klappe und genieße die Freiheit.« Das ist der zweite Punkt, der in diesem Jahr deutlicher beschrieben wurde, die Zeit nach dem Fall der Mauer und die Auswirkungen des Wiedervereinigungsprozesses. Der Soziologe Steffen Mau hat das auf den Punkt gebracht: »Viel zu wenig haben wir den Prozess der Wiedervereinigung in seinen problematischen Wirkungen bis heute thematisiert. Man sonnte sich im Glück der Einheit. Alles erschien als Gunst der Stunde, alternativlos und von den dramatischen Ereignissen im Herbst 1990 geradezu erzwungen.« (Mau 2019) 

Für mich bleibt nach wie vor die Frage, ob die Friedliche Revolution nicht deshalb so friedlich war, weil es nicht um irgendeine Form von Eigentum ging. Und warum die Bevölkerung fast widerspruchlos Volkseigentum hat privatisieren lassen. Ich meine das nicht nur als Aspekt der Aufarbeitung der Arbeit der Treuhand, nein, ich meine das auch in Richtung der Zeit der DDR und der, ich nenne es mal Entfremdung der Arbeiter und Bauern vom Arbeiter- und Bauernstaat. Schließlich hatte es ja am Runden Tisch Anfang 1990 ein ganz anderes Verständnis von Treuhand gegeben als das, was am Ende so genannt wurde. Am 12. Februar hatte es von einer Gruppe um den Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann einen Antrag an den Ministerpräsidenten Hans Modrow und den Runden Tisch zur »umgehenden Bildung einer Treuhandgesellschaft (Holding) zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger mit DDR-Staatsbürgerschaft am ›Volkseigentum‹ der DDR gegeben«, in dem es hieß: 

»Als erste Handlung müsste diese Holding-Gesellschaft gleichwertige Anteilsscheine im Sinne von Kapitalteilhaber-Urkunden an alle DDR-Bürger emittieren. Ausgabe-Stichtag sollte der 18.3.1990 sein, um die Legitimitäts-Kontinuität aus der Vergangenheit in die Zukunft zu gewährleisten.« (Zit. nach: DDR 1989/90). 

Dafür hätte man ja auch in Massen auf die Straße gehen können. Stattdessen fand am 18. März 1990 eine Wahl statt, bei der die Grundlage dessen gelegt wurde, was mit einem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik und dem Verlust von zwei Dritteln der Arbeitsplätze in Volkseigenen Betrieben und deren Privatisierung oder Auflösung endete – mit sozialen Auswirkungen bis heute. Eine davon ist das, was Soziolog*innen demografische Maskulinisierung nennen, einer der Gründe für die Wahlerfolge der AfD in ländlichen Gegenden Ostdeutschlands. Unter denen unter dreißig, die zwischen 1991 und 2005 den Osten Deutschlands verließen, um anderswo ihr Glück zu suchen, waren zwei Drittel Frauen. Darüber muss weiter gesprochen werden, wir haben ja das ganze nächste Jahr Zeit bis zum Wiedervereinigungsjubiläum. 

Das Dritte, das anders war in diesem Herbst der Erinnerung, ist, dass diejenigen zu Wort kamen und gehört wurden, deren Geschichten in der offiziellen Erinnerungskultur bisher weitgehend negiert wurden: People of Color, Vertragsarbeiter*innen, Transpersonen. Geschichten, die die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung noch einmal in einem anderen Licht zeigen, widersprüchlicher und dunkler1. Angelika Nguyen, in Ostdeutschland aufgewachsen, hat es kürzlich in der Zeitschrift Jalta benannt:

 »Ich teile den ostdeutschen Zorn auf die westdeutsche Invasion seit dem Mauerfall. Aber diese kam nicht über uns, sie war von der Mehrheit gewählt. Mein Ost-Gefühl hört eben da auf, wo ostdeutscher Rassismus mit dem erlittenen Trauma von Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit verteidigt wird.« (Nguyen 2019, 74).

1 Dazu gehören auch die Geschichten über Nazigewalt, die unter dem von dem Journalisten Christian Bangel angestoßenen Hashtag #baseballschlaegerjahre auf Twitter über die Wendezeit erzählt werden.

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