Gestern Nacht ist der US-amerikanische Historiker Mike Davis im Alter von 76 Jahren einem langen Krebsleiden erlegen. Seit Beginn der Corona-Pandemie litt er unheilbar an Speiseröhrenkrebs. Er starb in der Stadt, mit der seine Geschichte – nein, deren Geschichte untrennbar mit Mike Davis verbunden ist. In einem seiner letzten Interviews in der Los Angeles Times vom Juli dieses Jahres sagte Davis: “Wenn ich irgendetwas bedauere, dann ist es, dass ich nicht im Kampf sterbe oder auf einer Barrikade, wie ich es mir immer romantisch erträumte. Kämpfend, wissen Sie?” 

Davis’ Tod wurde mit einer phänomenalen Anteilnahme rund um den Globus aufgenommen. So wie er sich selbst als internationaler Sozialist begriff, zollten die Sozialist*innen international Tribut. „Der Rastloseste unter den Sozialisten und der Unerschütterlichste in seinem Engagement für die Politik der Arbeiterklasse und in seinem Hass auf den Kapitalismus“, so nannte ihn Greg Albo, der Herausgeber des zweifellos wichtigsten Jahrbuches im internationalen Marxismus, dem Socialist Register im kanadischen Toronto. Doug Henwood, marxistischer Politökonom und Radiomoderator in New York City, verabschiedete ihn als „großartigen Schriftsteller, Denker und Revolutionär.“ Viele würdigten ihn dafür, dass er mit dem 1990 erschienenen „City of Quartz“ über seine geliebt-gehasste Heimatstadt Los Angeles quasi im Alleingang die gesamte kritische Stadtsoziologie begründet habe. Dieses Buch, so rezensierte es damals der wenige Jahre ältere, marxistische Politikwissenschaftler und Urbanist Marshall Berman in der US-linken Zeitschrift The Nation, verkörpere eine Kombination aus dem „an die Wurzeln des Übels gehenden Bürger, der die Totalität des Stadtlebens erfassen wolle, und einer Stadtguerilla, die das Ganze in die Luft sprengen“ wolle. Und der dennoch Einladungen vom Papst in Rom und dem argentinischen Präsidenten erhielt, die er ausschlug, weil er Besseres zu tun hatte.

Ich erinnere mich noch lebhaft an meine erste Begegnung mit Davis' Werk, als ich sein Erstlingswerk "Prisoners of the American Dream: Politics and the Economy in the History of the U.S. Working Class" (1986) zum ersten Mal las. Ich werde nie vergessen, wie es mich von den Socken gehauen hat: wie ein Buch aus jeder Seite – und es war ein echter Pageturner – marxistisches Denken auszuströmen vermochte, ohne ihn zu nennen, ein Marxismus aus Fleisch und Blut ohne den schalen akademischen Jargon einer weiteren repetitiven Poulantzas'schen Fingerübung in Sachen "die Internationalisierung des Staates". Ein Marxismus, der den Kopf ergriff, weil er aus der realen Welt der sozialen Ungerechtigkeiten und der Brutalität des Realen entsprang und nicht aus ahistorischen intellektuellen Bestrebungen in prestigeträchtigen Positionen. Ein Marxismus, den man in den Knochen spürt, weil man die Ermüdung durch routinierte, entfremdende, harte körperliche Arbeit in sich spürt. Ein Marxismus, der das Herz berührt, weil er einerseits die Angst vor Arbeitsplatzverlust und gesundheitsschädlichen Arbeitsplätzen, andererseits aber auch die verschütteten Erinnerungen an die Lebensziele der Kindheit und an die rohen und sehnsüchtigen Träume von einem besseren Leben enthält. 

Davis konnte auf diese Weise schreiben, weil er wusste, worüber er schrieb: Er kam aus der Arbeiterklasse. Sein Vater, ein Konservativer, arbeitete in Schlachthäusern, und auch Davis selbst verdingte sich eine Weile dort und fuhr Lkw. Auch deshalb hatte Davis „die alte Linke niemals für erledigt erklärt“, wie Jon Wiener, mit dem er zuletzt zusammengearbeitet hatte, in The Nation schrieb, „im Gegensatz zum Rest der Neuen Linken“, zu der Davis ja generationell gehörte. 

Im Ergebnis war es dieser humanistische Marxismus, angereichert und überbordend mit geschichtlichem Wissen und empirischen Details, von dem man im Gegensatz zum französischen strukturalistischen Abstraktionismus nie hätte sagen können, er befände sich in einer Krise, einer, der sich nie in sein erkenntnistheoretisches Gegenteil verwandeln mochte (etwa in den neuen staatstheoretischen Idealismus von Chantal Mouffe und anderen Postmarxisten), denn er schlug seine Wurzeln tief in den Boden der realen Welt, in der wir leben. Es ist diese Art von humanistischem Marxismus, der niemals bloß als eine kurzlebige Mode unter selbstverliebten Denker*innen im Hochschulbetrieb enden mochte, verlegt von auf solche Kurzlebigkeit und Modeerscheinungen orientierten Verlagen, die den neuesten radical chic verkauften. Oder die dann später blind dem neoliberal-konterrevolutionären Zeitgeist oder den mageren Früchten eines neoliberalisierten Hochschulsystems folgten. Und in diesem Sinne waren Mike Davis' Schriften auch am weitesten entfernt von den heute gängigen Praxen, die weniger intellektueller Tiefgang und aufklärerischer Charakter eines Buches umtreibt, als die gut zu verkaufende biografische Geschichte des Autors oder der Autorin. 

Davis ging es hiergegen nicht um die Form, sondern um den Inhalt, auch wenn er als brillanter Stilist in der Form zu glänzen verstand. Seine Bücher brauchten keine Verkaufsargumente. So wie Brieftauben die Botschaften zu ihren am weitesten entfernten Leser*innen bringen, mussten sie zwangsläufig ihren Weg zu einem aufmerksamen Publikum finden. Sie vermochten dies mithilfe ihres Trüffelnasen-Gespürs für die noch ungeschriebene oder verschüttete Geschichte ("Late Victorian Holocausts", 2001), für die größeren welthistorischen Linien, die sich beispielsweise aus der durch den Freihandel verursachten Massenproletarisierung von Subsistenz- und Kleinbäuer*innen rund um den Globus ergeben ("Planet of Slums", 2006). Sie zeigen die Art und Weise auf, wie der Kapitalismus Räume  ̶ städtische, vorstädtische und ländliche  ̶ strukturiert, organisiert und desorganisiert und sich nicht nur darauf auswirkt, wie wir arbeiten, sondern eben auch wie wir leben und wo (Davis' städtische Sozialgeschichtsschreibung seiner Heimatstadt Los Angeles in „City of Quartz“ [1990], „Ecology of Fear“ [1998], „Set the Night on Fire: L.A. in the Sixties“ [2020]). 

Mike Davis hatte das großartige Talent und die Gabe zu zeigen, wie selbst die kleinste Einheit und der Mikrokosmos die größere Gesamtheit des Universums enthalten. Niemand konnte die städtischen Unruhen in London oder die Waldbrände in Südkalifornien („The Case for Letting Malibu Burn“) so gut studieren wie er und auf die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zerstörungen des Kapitalismus hinweisen und es uns dabei ermöglichen, zu sehen und zu spüren, dass das, was uns natürlich erscheint und als Naturkatastrophen schicksalshaft entgegenzutreten scheint, in Wirklichkeit sehr unnatürliche, von Menschen gemachte Katastrophen sind, das Ergebnis eines bestimmten wirtschaftlichen und sozialen Systems, in dem ganz bestimmte Regeln und Logiken gelten, von denen ganz konkrete Menschen mit ganz konkreten Adressen Tag für Tag profitieren, die in der Regel auch diejenigen sind, die das Sagen haben. Und das ohne Antworten auf die auch und gerade ökologischen und klimatischen Herausforderungen der Gegenwart, denn diese “kleine Gruppe von Menschen“, so Davis, habe „heute mehr konzentrierte Macht über die Zukunft der Menschheit und sie haben keine Vision, keine Strategie, keinen Plan.“

Die deutschen Theorie- und Politikzeitschriften, in denen ich über die Jahre mitgearbeitet habe – vom Argument bis zur LuXemburg  – haben selbstverständlich fast jedes Mal, wenn Davis wieder einen seiner ergreifenden und Begreifen möglich machenden, neuen Texte für die Los Angeles Review of Books, die New Left Review oder andere Zeitschriften geschrieben hatte, geprüft und häufig ins Deutsche übersetzt. Die Bilder, die er in seinen – oft die Grenze zwischen Sozialwissenschaft und Literatur einreißenden – Texten geschaffen hat, vergisst man so schnell nicht. Immer und immer wieder muss man ihn zitieren. Mike Davis spielte in der obersten Liga eines Marxismus des 21. Jahrhunderts, der, um Marx selbst zu zitieren, die „versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen“ zwingt, indem er „ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!", und der, mehr noch, eine neue Melodie dafür kreiert, wie die Dinge völlig umgekrempelt werden können, sollten, ja sogar müssen, wenn wir eine Zukunft auf diesem Planeten haben wollen.