Gute Strategiepapiere der Linken beginnen in der Regel mit Grundwerten und Zielen, der Weltlage, Lösungsansätzen und kommen über diesen Weg zu praktisch-politischen Vorschlägen. Wir können uns nur mit einem kleinen Ausschnitt dieser Themen beschäftigen, gehen von der Wahlniederlage 2021 aus und fragen danach, wie wieder Wahlen gewonnen werden können. Zu diesem Zweck haben wir Ausschnitte der innerparteilichen Diskussion rezipiert und versucht, die Meinungsvielfalt zu erfassen, zu systematisieren und zu kommentieren.

Das Vorhaben gestaltete sich auch für uns langjährige Linke aus Frankfurt am Main und München nicht leicht, denn die Meinungs- und Strömungsvielfalt in Arbeitsgruppen, Zusammenschlüssen, Parteigliederungen und der Fraktion ist für Außenstehende kaum überschaubar. Die Beiträge zur innerparteilichen Debatte finden sich verstreut über viele Zeitschriften, Plattformen, Tageszeitungen und Nachrichtendienste. Hinzu kommen zuletzt die Leit- und Änderungsanträge sowie die Aufrufe zum Parteitag. Wenn man nicht schon jahrelang dabei und im inneren Zirkel ist, wird die Sache zum Teilzeitjob. Wir konnten nur Ausschnitte dieser Debatten erfassen, versuchen einen Überblick zu geben und eine eigene Position zu bestimmen.

Wir gehen davon aus, dass die Grundwerte und Ziele der Partei stimmig sind und dass wir 2021 ein gutes Wahlprogramm hatten. Deshalb führen wir im ersten Teil des Papiers keine Grundsatzdebatten, sondern erläutern unsere Prämissen. Anschließend fragen wir danach, welche der politischen Optionen die LINKE wieder aus dem Tal der Tränen führen kann. Was kann die Partei tun, um im Rahmen ihrer Grundwerte und Programme wieder Wahlen zu gewinnen. Im dritten Teil sortieren und kommentieren wir politische Vorschläge für kurz-, mittel- und langfristige Perspektiven. 

Die Relevanz der LINKEN als Partei

Der Aufbau der Partei Die LINKE ist eine besondere historische Leistung der ost- und westdeutschen Linken. Während in vielen anderen europäischen Ländern linke Splitterparteien und temporäre soziale Bewegungen das Bild ausmachen, konnte sich in Deutschland eine relativ stabile Partei mit einer Vielzahl an politischen Strömungen als Sammelbecken linker Politik entwickeln. 

Die LINKE stabilisiert soziale Initiativen und Bewegungen, stützt Gegenöffentlichkeiten und übernimmt die wichtige Rolle eines Korrektivs in der Opposition. Für diese Aufgaben ist die Präsenz in den Parlamenten außerordentlich wichtig: Sie erleichtert die Kommunikation über die Medien und sie schafft über finanzierte Stellen Personalkapazität und Kontinuität unabhängig von den Konjunkturen sozialer Bewegungen (in München sind von der großen Fridays-Organisation gerade mal drei Personen übriggeblieben). In der Vergangenheit konnten über die Partei direkt oder indirekt deutlich mehr als tausend Stellen geschaffen werden: über Parlamentssitze und Wahlämter in Regierungen, über die daran gebundene Rosa Luxemburg Stiftung, über feste Stellen in den Staatsapparaten einiger Bundesländer mit Regierungsbeteiligung der LINKEN sowie über finanzierte externe Projekte und Forschung. Ohne eine solche materielle Basis kann linke Politik nicht aus der Randexistenz herauskommen.

Defensive der Linken im globalen Norden

Bei vielen Kommentaren zur Wahlniederlage entsteht der Eindruck, dass wir kurz vor dem ökonomischen und ökologischen Zusammenbruch und einer revolutionären Situation ständen und dass Erfolg oder Misserfolg unmittelbar von der richtigen Strategie der LINKEN abhingen. Dies ist leider nicht der Fall. Wir gehen davon aus, dass die Linke insgesamt wie auch die Partei DIE LINKE in Deutschland und Nordeuropa auf absehbare Zeit in der Defensive bleibt. Daraus ergibt sich, dass wir in der Funktion als Opposition, Koalitionspartnerin oder Koalitionsdulderin nicht mehr und nicht weniger als die Rolle eines Korrektivs spielen können. Weitreichende Ziele sind politisch wichtig, aber gegenwärtig nicht durchsetzbar.

Der globale Kapitalismus steht trotz ökonomischer, ökologischer und politischer Krisen nicht vor einer großen Strukturkrise. Die ökonomischen Krisen der letzten zwanzig Jahre haben den Wachstumspfad der Weltwirtschaft nicht nachhaltig gefährdet. In den politischen Krisen zwischen den großen Machtblöcken und der Nord-Süd-Achse geht es im Kern um die Verteilung des globalen „Kuchens“ und nicht um eine prinzipielle Abkehr von der kapitalistisch getriebenen Globalisierung. Ökologische Krisen treffen den Norden weniger stark und werden mit technologischen Mitteln und mit möglichst geringen Einkommenseinbußen für das Volk bearbeitet (Detje/Sauer 2022), sie können sogar in den Exportnationen neue Wachstumsimpulse setzen. 

Die Finanzmarktkrisen, die Pandemiekrisen und die neuen Energiekrisen in der Folge des Ukraine-Krieges zeigen, dass die Reichen profitieren, die Mittelschichten staatsinterventionistisch geschützt werden und die Unterschichten leiden. Solange in Deutschland und Nordeuropa der Lebensstandard der Mittelschichten geschützt werden kann, bleibt die Linke in der Defensivposition, weil große Mehrheiten ihre Lebensweise nicht gefährden wollen. 

Hinzu kommt, dass der Kapital-Arbeit-Konflikt zunehmend durch Verteilungskonflikte innerhalb und zwischen den subalternen Klassen überlagert wird. Altdeutsche Männer verlieren gegen Frauen und Migranten. Postmoderne Lebensstile setzen sich gegen traditionelle Lebensweisen durch. Globale Verteilungskonflikte und Migrationsbewegungen führen zu einer Renaissance nationaler und nationalistischer Orientierungen. Kurz gesagt: horizontale überlagern vertikale Konfliktlinien. 

Damit soll nicht ein politischer Fatalismus bedient werden. Hinter horizontalen Konflikten und Spaltungen stehen Klassen- und Ausbeutungsverhältnisse, die immer auch die Möglichkeiten von Solidarität und Bündnissen eröffnen. Die multiplen Spaltungen erschweren aber den Aufbau und die Durchsetzung linker Alternativen in der Politik. Die These lautet: Solange die nordeuropäischen Mehrheitsgesellschaften wirtschaftlich und sozialpolitisch geschützt werden können, bleibt die LINKE in der Defensive und kann im günstigen Fall in sozialen Bewegungen und im Parlament die Rolle eines Korrektivs spielen.

Politische Ausgangslagen

In dieser Situation bleiben radikale soziale Bewegungen und radikal linke Parteien kleine Minderheiten.  Dies gilt auch für die LINKE in Deutschland: sie bewegt sich bei den Bundestagswahlen als Partei in einem Korridor von 3–10 Prozent. Keiner der nordeuropäischen linken Parteien ist es bisher gelungen, diesen Rahmen zu sprengen, unabhängig von ihrer strategischen Ausrichtung. In Frankreich liegen aufgrund der politischen Traditionen, der Krise der Sozialisten und des Wahlrechts Sonderbedingungen vor (vgl. Hildebrandt u.a. 2021). 

In dieser Situation ist es sinnvoll, die Strategiedebatte zu erden und nach unserer Wählerbasis zu fragen. Sozialstrukturell sind wir eine Mini-Volkspartei, d.h. wir sind in den unteren und mittleren Einkommens- und Bildungsschichten gleich schlecht vertreten mit einer kleinen Beule bei niedrigen Einkommen und Arbeitslosen (Glauch u.a. 2022; Candeias 2022). Das spiegelt sich auch in den Stimmenanteilen am Wahlergebnis wider. Wir sprechen gegenwärtig auch in den neoproletarischen Schichten (Industrie- und Dienstleistungsproletariat) nur Milieus an, bei denen Interessen an Umverteilung mit egalitären und solidarischen Grundorientierungen zusammentreffen. 

Wahlergebnisse und die Wahlforschung belegen, dass wir in den letzten 15 Jahren in Westdeutschland einen Sockel von nur 3–5 Prozent Stammwähler*innen haben. Darüber hinaus gibt es ein Potenzial von rund 20 Prozent (je nach Studie, zuletzt RLS 2022), von dem je nach politischer Konjunktur ein kleiner oder größerer Ausschnitt die LINKE wählt. Die Stammwählerschaft ist durch ihre Unzufriedenheit mit den Mainstream-Parteien und mit teilweise neo-sozialistische Grundüberzeugen an die Partei gebunden. Die Wechselwähler*innen suchen nach dem „Gebrauchswert“ linker Politik und wählen je nach politischer Großkonjunktur sowie der politischen Praxis der LINKEN zwischen Rot, Rot und Grün. Der Austausch mit der SPD nimmt ab, der mit den Grünen zu. Diese Gruppe der linksaffinen Wechselwähler*innen gilt es zu gewinnen, bevor an eine politische Expansion zu denken ist.

Wahlniederlage: Diagnosen und Strategieempfehlungen

Es soll in diesem Abschnitt nicht um die Grundsatzdebatten über Systemalternativen und langfristige Ziele der Partei gehen. Die große Mehrheit der Parteimitglieder strebt eine sozial-ökologische Transformationen an und vertritt neo-sozialistische Visionen (Glauch u.a. 2022). Dies schlägt sich auch im alten Erfurter Programm sowie in den Leitanträgen zum Parteitag im Juni 2022 wieder.

Hier soll es aber vor allem um Vorschläge für die praktische Politik gehen. Welche Rolle sollen Themenschwerpunkte und Transformationsperspektiven in der (außer-) parlamentarischen Arbeit und in Wahlkämpfen spielen? 

Mittlerweile gibt es aus dem Dunstkreis der LINKEN unzählige Analysen zur Wahlniederlage. Liest man sie quer, so besteht in einer Reihe von Punkten Einigkeit:

  • Strukturelle Faktoren: Die Gründungslegenden verlieren an Kraft: im Westen die Agenda 2010 und „Hartz IV“ und im Osten die „Wiedervereinigung“. 
  • Konjunkturelle Faktoren: Der Wunsch nach Ablösung der CDU bestärkte viele Linken-Sympathisant*innen in der Wahl von Grünen oder SPD.

Die Diskussionen beginnen, wenn über endogene Partei-Faktoren gesprochen wird: Lag es am mangelnden reformpolitischen Profil, an der fehlenden Fokussierung auf die soziale Frage, an den Streitereien, an der Außenpolitik (Afghanistan/Russland), an den Verlautbarungen zur Koalitionsoption, am mangelnden sozialistischen Profil? 

Eine Möglichkeit, die Debatte zu systematisieren besteht darin, die jeweiligen Strategie-Empfehlungen näher zu betrachten, denn sie spitzen die in der Analyse gewonnenen Ergebnisse zu. Die Lektüre zeigt eine Vielzahl an impliziten oder expliziten Kontroversen. Dahinter stehen aber zwei übergreifende Konfliktlinien, die schon seit Langem (Rehberg 2022) und wieder vor und während des Wahlkampfs zur Bundestagswahl eine Rolle gespielt haben. Zum einen ging und geht es um die Wahl der politischen Zielgruppen und Schwerpunkte, zum anderen um die Kompromiss-, Bündnis- und Koalitionsbereitschaft. 

Im Hinblick auf die thematischen Schwerpunkte findet sich eine Säule, die die soziale Frage als Markenkern in den Vordergrund stellen möchte (teilweise auch als Klassenfrage formuliert). Prominente Vertreter*innen dieser Position sind Sarah Wagenknecht und Klaus Ernst. Die zweite – auch in sich vielfältige – Säule will klassenpolitische (Umverteilung, Eigentum), identitätspolitische (Gleichstellung, Anti-Diskriminierung) und gattungspolitische Themen (Umwelt, Frieden) verbinden. Hierfür liegen unterschiedliche Konzepte vor, so etwa die Idee der Mosaiklinken von H.J. Urban (2019). In der Partei hat sich die Idee einer „verbindenden Klassenpolitik“ durchgesetzt, was in der Praxis die Verbindung aller Themen mit der sozialen Frage bedeutet. Dahinter steht ein komplexer Klassenbegriff (vgl. Kaindl/Riexinger 2022). Das Konzept wurde im Leitantrag 01 des Vorstands zum Parteitag noch einmal politisch zugespitzt (Vorstand DIE LINKE, 2022). Die sozial-ökologische Transformationsperspektive soll im Zentrum stehen und klassen-, identitäts- und gattungspolitische Themen integrieren. 

Im Hinblick auf die zweite Dimension der Systematisierung geht es um die Kompromiss-, Bündnis- und Regierungsbereitschaft. Hier gibt es eine Strömung, die auf unter gegenwärtigen Bedingungen mach- und durchsetzbare Lösungsansätze fokussiert und Koalitionsbereitschaft signalisiert. Die Gegenpositionen betonen z.B. mit dem Transformationsbegriff und der Abrüstungspolitik die roten Linien von Bündnispolitiken. Am deutlichsten wurde dies an der Frage der NATO-Auflösung und an den Stellungsnahmen zum Krieg in der Ukraine. Diese Positionen bündeln sich in der Bewertung von Koalitionsaussagen, und hier sind dann deutliche Unterschiede zu erkennen: Eine Betonung von roten Linien und Skepsis einerseits, Kompromissbereitschaft und Signale zur Unterstützung oder Mitarbeit andererseits. 

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Selbstverständlich handelt es sich bei diesem Sortierungsvorschlag und der Personalisierung um Zuspitzungen. Wir gehen allerding davon aus, dass die meisten Vorschläge zur Neuausrichtung der LINKEN sich nach dem Schwerpunkt ihrer Argumentation einem der Felder zuordnen lassen. Allerdings kommen fließende Übergänge und Inkonsistenzen vor, wie wir unten bei der Erläuterung einzelner Positionen verdeutlichen werden.. 


Feld Ia charakterisieren wir durch eine konsequente Reform- und Koalitionsorientierung. Ein prominenter Autor ist Gysi (2021 Luxemburg). Ein anderer ist Alban Werner von der LINKEN in NRW, der sich zwischen der linkssozialdemokratischen Strömung um Wagenknecht und der radikalen antikapitalistischen Linken in NRW verortet. Das Problem sieht er nicht in erster Linie in der Abgrenzung und Profilbildung der LINKEN, sondern in der Entwicklung von Programmen und Forderungen, die im doppelten Sinne umsetzbar sind. Wahlprogramme müssen erstens inhaltlich im Rahmen gegebener ökonomischer Verhältnisse umsetzbar sein, zweitens eine Aussicht auf Regierungsbeteiligung ermöglichen. Nur so können ihm zufolge linke Wechselwähler*innen überzeugt werden (vgl. auch Kahrs/Lederer 2022). Dies widerspricht nicht langfristigen Transformationskonzepten, diese können aber nicht Kernbestandteil von Wahlkämpfen unter gegenwärtigen Bedingungen sein.

Gysi (2021) geht in seinem Kommentar zur Wahlniederlage gar nicht auf die Grundsatzdebatten in der Partei ein. Er schlägt vor, die Partei thematisch breit um mehrere Kernthemen aufzustellen (gegen Ernst/Wagenknecht) und für den Osten eine neue wirtschaftliche und politische Perspektive zu entwickeln (einen zweiten Transformationsprozess). Die Erklärung der Parteivorsitzenden direkt nach der Wahl (2022) hat trotz der bekannten politischen Differenzen eine ähnliche Stoßrichtung: Endogene Ursache der Wahlniederlage sind die mangelnde Fokussierung auf ausgewählte Themenfelder sowie die internen Streitereien. Im Ergebnis schlugen die Vorsitzenden direkt nach der Wahl einen kritischen Diskussionsprozess vor, in dem sich die Partei auf Schwerpunkte für die nächsten Jahre einigen sollte und machten dazu Vorschläge (Gesundheit, Mieten, Mobilität und Arbeit).


Feld IIa steht für eine sozialökologische Perspektive und starke rote Linien in der Bündnis- und Koalitionspolitik. Die einschlägigen Texte schlagen die Verbindung von konkreten Programmen mit mittel und langfristigen Transformationsperspektiven vor. Einige Autor*innen  (z.B. Riexinger, Harald Wolf) sehen in den ökologischen und ökonomischen Krisen des Kapitalismus die entscheidenden Konfliktfelder der Politik und schlagen vor, eine Konzeption der sozial-ökologischen Transformation in den Mittelpunt der Politik zu stellen. An diese können dann sowohl pragmatische Reformansätze zu einer Vielzahl von Themen angedockt werden als auch mit der Eigentums- und Staatsfrage Übergänge in alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle deutlich werden (so auch der Leitantrag 01 des Vorstands zum Parteitag).

Klaus Dörre (2021,2022) unterstützt mit seiner Großtheorie der ökologisch-ökonomischen Zangenkrise diesen Ansatz, geht aber noch ein Stück weiter. Linke Politik darf sich nicht im Kampf gegen Krisen und Depravierung erschöpfen, sie müsse vielmehr sozialistische Utopien entwickeln und in die Politik einbringen. Als Kompass kann die „Nachhaltigkeitsrevolution“ dienen mit dem Ziel einer sozial-ökologischen Transformation. In der praktischen Politik sei jeder Schritt in diese Richtung zu unterstützen. Arbeiterinteressen an sozial-ökologischen Transformationsprozessen müssen aber anders und stärker berücksichtigt werden. 

Entscheidend für die Zuordnung zum Feld IIa ist aber die Position gegenüber Regierungsbeteiligungen/Duldung (vor allem auf Bundesebene). Während das Netzwerk Marx21 sowohl in der Grundsatzerklärung als auch in der Wahlanalyse Regierungsbeteiligungen an strenge und unter heutigen Bedingungen nicht realisierbare Bedingungen knüpft, scheinen Autor*innen der Bewegungslinken (Grundsatzerklärung, 2021) offener an diese Frage heranzugehen. Auch die Ausführungen von Harald Wolf zur Regierungsbeteiligung/Duldung und Klaus Dörre zur Bündnispolitik verstehen wir in diesem Sinne. 


Feld Ib charakterisieren wir durch den Fokus auf „Arbeitnehmerinteressen“, die soziale Frage als Markenkern der LINKEN und eine klare Reform- und Bündnisorientierung. Diese Position wurde von der Mehrheit des sog. Reformflügels vertreten, der im Zusammenschluss „Forum Demokratischer Sozialismus“ organisiert war und ist. Andere Autor*innen kommen aus dem Kreis der Initiative Aufstehen. Die Linke orientiere sich zu wenig an Arbeitnehmerinteressen und erarbeite sich keine Machtoptionen. Andreas Nölke (2021) geht noch einen Schritt weiter und schlägt vor, eine zweite linke Partei zu gründen, die sich auf die soziale Frage konzentriert. Zwei linke Parteien könnten sich ihm zufolge durchaus ergänzen und das Potenzial für linke Mehrheiten erweitern, weil beide unterschiedliche Milieus und Wählergruppen ansprechen.


Auch in Feld IIb steht die soziale Frage (als Klassenpolitik adressiert) im Vordergrund. Das sog. Wagenknecht-Lager steht mit einem Fuß hier und mit dem anderen im vorangestellten Feld. Einerseits gibt es eine deutlich national orientierte und pragmatische Reformorientierung. Andererseits überwiegen mit der starken abrüstungspolitischen Orientierung und der Stellung zu Sanktionen und Waffenlieferungen heute die roten Linien in der Bündnis- und Koalitionspolitik.

Auch die Kommunistischen Plattform (2022) und dem Ältestenrat der LINKEN gehören in Feld IIb. Hier werden in der Tradition der kommunistischen Arbeiterbewegung sozialistische Alternativen und der Internationalismus hervorgehoben. In seinem offenen Abschiedsbrief an die LINKE konstatiert Modrow (2022), dass die LINKE sich mit ihrer Orientierung auf Reformen und die Regierungsbeteiligung von den Idealen und Traditionen einer sozialistischen Partei verabschiedet habe. Die Erklärung der Kommunistischen Plattform (2022) geht in dieselbe Richtung und sieht die Partei auf dem Weg der Sozialdemokratisierung. Konkrete Politikvorschläge werden in den rezipierten Texten nicht ausformuliert. Klar ist aber, dass (soziale) Klassenfragen im Zentrum der Politik stehen, sozialistische Ziele deutlich und Regierungsbeteiligungen kritisch gesehen werden.

Der in der Presse dem Wagenknecht-Lager zugeordnete Aufruf für eine populäre Linke (populaere-linke.de) wurde Ende Mai einige Wochen vor dem Parteitag veröffentlicht. Er macht ein Kompromissangebot an die sozial-ökologisch motivierten LINKEN, die wir den Feldern Ia und IIa zugeordnet haben. An erster Stelle der Priorisierung steht zwar der Abbau der Ungleichheit von Einkommen, Vermögen und Macht, direkt danach wird aber eine „gerechte Umwelt- und Klimapolitik“ adressiert. Zugleich erfolgen deutliche Abgrenzungen (Bewegungs- und Koalitionsopportunismus). 

Wer hat Recht?

»Traditionalisten« und »Reformer«

Eine Fokussierung auf materielle Interessen von einheimischen Lohnabhängigen, wie sie im Feld IIa angelegt ist, halten wir für falsch, egal ob dies als soziale Frage, Klassenpolitik oder linker Markenkern tituliert wird (vgl. hierzu Kahrs/Lederer 2022). 

  • Erstens neigt die „Arbeitnehmermitte“ gegenwärtig ganz überwiegend zu Mitte-Parteien, die Stabilität versprechen. Das lohn- oder sozialtransferabhängige Prekariat ist ohne starke linke Kräfte aus der Mitte der Gesellschaft nur schwer für linke Politik und entsprechende Wahlentscheidungen zu mobilisieren. 
  • Zweitens schließt ein solcher Ansatz wesentliche Lebensbereiche der Menschen außerhalb der bezahlten Erwerbsarbeit in Familie, Politik, Kultur und Natur und damit Mobilisierungspotenzial aus. So wird z.B. der Klimawandel auch für den globalen Norden direkte und indirekte Folgen haben, die die Gesellschaften zu Reaktionen zwingen. 
  • Drittens würde die Partei bei einer solchen Politik einen großen Teil ihrer Wählerschaft verlieren. Dies sind nicht nur die urbanen linksalternativen Milieus, sondern auch und gerade Haushalte mit niedrigen Einkommen, wie die neue Studie der RLS zum Wähler*innenpotenzial der LINKEN belegt (Candeias 2022). 
  • Viertens gilt dies auch für die Aktivist*innen in der Partei. Der sozialkonservative Kurs wird nur von einer Minderheit getragen (Glauch u.a. 2022).
  • Fünftens widerspricht dies Grundwerten linker Politik, die von einer substanziellen und universellen Gleichheit der Menschen im Sinne der Menschenrechtskonvention ausgeht.


Auch die im Feld IIb situierte orthodoxe Klassenpolitik setzt mit dem Konzept von Haupt- und Nebenwidersprüchen an Interessen von Lohnabhängigen an, ist aber internationalistisch ausgerichtet. Diese Strategie ist in den 1970er und 1980er Jahren krachend gescheitert. Wir sehen keinen Grund dafür, hier eine Neuauflage zu versuchen.

Im Grunde genommen haben wir es heute mit einer neuen Variante der Diskussion zwischen Traditionalisten und Antiautoritären aus dem SDS in den 1960er Jahren zu tun. Traditionalisten um die Marburger Linken u.a. aus dem SDS gingen davon aus, dass die Arbeiterklasse aufgrund von Ausbeutung und Krisen zum führenden „revolutionären Subjekt“ werden kann. Nach den Niederlagen der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre hat sich diese Linie in verschiedenen Formen durchgesetzt in der DKP/SDAJ, in den sog. K-Gruppen und in moderater Form auch im sozialistischen Büro als Organisationsform der undogmatischen linken Gewerkschafter*innen. 

Nachdem sich zeigt, dass die Arbeiterklasse nicht zum revolutionären Subjekt mobilisiert werden konnte, gab es eine seit Mitte der 1980er Jahre eine zweite Diskussionswelle um den Arbeitertraditionalismus: Zwischen den letzten Resten der K-Gruppen und der DKP einerseits und den Grünen andererseits, aber auch innerhalb der DKP zwischen den Traditionalisten und Reformern.

Seit den 2000er Jahren gibt es eine dritte Diskussionswelle zum selben Thema, dieses Mal innerhalb der LINKEN als Sammlungsbewegung (vgl. Rehberg 2022). Hier taucht der Traditionalismus überwiegend auf in Form linkssozialdemokratischer und linksgewerkschaftlicher Strömungen (z.B. Wagenknecht, Ernst) mit unterschiedlichen Nuancen in Ost und West. Seit einigen Jahren gibt es innerhalb der Partei mit der Bewegungslinken eine Gegenbewegung, die teilweise Mehrheiten mobilisieren kann. Die Angst vor dem parlamentarischen und politischen Bedeutungsverlust hält die Strömungen noch zusammen. Innerparteilich zeichnet sich eine Mehrheit gegen die Traditionalisten ab. Eine Spaltung der Partei würde vermutlich für beide Teile zum parlamentarischen Bedeutungsverlust führen. 

Aus unserer Sicht haben die Traditionalisten Recht und Unrecht zugleich: Ohne die Mehrheit der Lohnabhängigen (mit all ihren Differenzierungen) ist weder ein links-sozialdemokratischer Kapitalismus noch eine weiter- und tiefergehende sozial-ökologische Transformation in Richtung auf neosozialistische Visionen möglich. Ob die „Arbeiterbewegung“ aber jemals die führende Kraft einer solchen Transformation sein kann, ist fraglich. Linke Bewegungen brauchen im Sinne eines Mosaiks (Urban 2019) unterschiedliche soziale Bewegungen, um – bescheiden formuliert – ein Gegengewicht gegen Neoliberalismus und Neo-Imperialismus bilden zu können. Quintessenz dieser Überlegungen ist, dass die Linke klassenpolitische, identitätspolitische und gattungspolitische Bewegungen aufgreifen muss, wie das die Strategien der Mosaiklinken und „verbindenden Klassenpolitik“ in den Feldern Ia und Ib vorsehen.

Pragmatische oder radikale Lösungsansätze? 

Strategien in Feld Ia setzen in der politischen Praxis auf eine pragmatische Reformorientierung und Regierungsbeteiligung. IIa betont weitergehende Transformationsperspektiven und ist gegenüber einer Regierungsbeteiligung skeptischer. Das Unterscheidungsmerkmal zwischen den Strömungen ist nicht die sozialistische Vision; fast alle Strömungen halten daran fest (wie oben ausgeführt). Entscheidendes Merkmal ist die praktische Politik in Bezug auf den reformpolitischen Pragmatismus und die Regierungsbeteiligung. Stark vereinfachend kann man sagen, dass Susanne Hennig-Wellsow für Ia und Janine Wissler für IIa steht (=Thüringer Linie versus westdeutsch geprägte Bewegungslinke).

Wenn die in der Einleitung formulierten Annahmen zur Defensive der LINKEN Sinn machen, spricht vieles dafür, dass ein konsequenter sozial-ökologisch gerichteter und reformpolitischer Pragmatismus (Feld Ia) unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen die besten Voraussetzungen für eine Stabilisierung von Partei und Wählerschaft bildet. 

Die Grundpositionen von Feld Ia sind gut durch die empirische Wahlforschung belegt. Vor- und Nachwahlbefragungen zur BTW 2021 zeigen, dass die thematische Breite der Programme der LINKEN von den Wähler*innen goutiert wird (Kaindl 2021; Candeias 2022). So gibt es unter den LINKEN-Sympathisant*innen starke Wählergruppen, die die Partei gerade wegen ihrer sozial-ökologischen und gleichstellungspolitischen Positionen gut finden. In Bezug auf die NATO ist das Elektorat in der Mitte gespalten. Die teilweise Ablehnung der Afghanistan-Evakuierungsaktion hat mit Sicherheit geschadet (aber da gibt es keine direkten empirischen Belege).

Auch die pragmatische Orientierung der Wechselwähler*innen auf machbare Forderungen und Regierungsbeteiligung wird in den Umfragen sichtbar (Kaindl 2021): So erhält die LINKE auch bei ihren Sympathisant*innen nur geringe Kompetenzwerte in den meisten Politikfeldern. Wir vermuten, dass es hier den Befragten nicht um sachliche Positionen, sondern auch um Durchsetzungskompetenz geht. Auch die Koalitionswünsche der Wechselwählerschaft drücken ein Interesse an Koalitionen mit der LINKEN und einem pragmatischen Kurs aus (ebd.). 

Eine Analyse der Bundestagswahlen von 2002 bis 2021 zeigt, dass die LINKE bei einer Polarisierung von Mitte-Rechts und Mitte-Links und einer Regierungsoption von Rot-Grün verliert. Das LINKEN-Potenzial will Mitte-Rechts Regierungen abwählen und wählt überwiegend taktisch Rot/Grün. Erst wenn die LINKE zu einer pragmatisch kompromissbereiten Linie in Richtung auf Rot-Rot-Grün findet, könnte sie von einer mitte-linken politischen Konjunktur profitieren, weil die linksaffinen Wechsler*innen dann einen Gebrauchswert in ihrer Wahlentscheidung sehen.

All dies spricht für eine pragmatische Reformorientierung. Transformationsperspektiven, die ja im Feld IIa stark gemacht werden, sollten aber eine Rolle spielen. Erstens können gravierende Krisen auf die EU-Länder zukommen, die dann starke linke Minderheiten oder Mehrheiten ermöglichen (wie in Griechenland und Spanien) und weiterreichende Konzepte erfordern. Zweitens braucht gerade eine linke Partei Zukunftsperspektiven, wenn sie ihr Elektorat überzeugen will. Drittens darf eine Partei sich im Sinne des o.g. strategischen Dreiecks nicht nur an die Wählerschaft richten, sondern muss auch an ihre Mitgliedschaft denken, aus der sich ja die Aktivist*innen rekrutieren, die in sozialen Bewegungen engagiert sind und die Wahlkämpfe machen. Die Partei lebt von jungen antikapitalistischen Aktivist*innen. Transformationsperspektiven und sozialistische Alternativen aus der praktischen Politik auszuschließen, würde die aktive Mitgliedschaft demotivieren und mit Sicherheit nicht mehrheitsfähig sein (DIE LINKE 2022).

Aus beiden Gründen sind wir dafür, Gedanken von Feld IIa (sozial-ökologische Transformation) zu übernehmen. Dies ergibt dann gewissermaßen ein Ia+. Dies bedeutet: Handfeste und umsetzbare Themen in den Vordergrund stellen, die Bereitschaft zur Regierungsbeteiligung konsequent signalisieren (natürlich inhaltlich spezifiziert). Aber auch an Transformationsperspektiven arbeiten, die über die kleinen Reformschritte hinausweisen und den weltweiten Finanzkapitalismus problematisieren. 

Die vorangegangenen Notizen dienen vor allem der Selbstverständigung über die grundlegende Parteistrategie. Wenn man zu einer Grundorientierung neigt, beginnt die eigentlich spannende Diskussion um inhaltliche und organisationspolitische Schwerpunkte. Wir können drei Ebenen unterscheiden:

  • kurze Reichweite: Themenschwerpunkte und pragmatische Politikvorschläge
  • mittlere Reichweite: übergreifende Konzepte, verbindende Klammern
  • große Reichweite: Alternativen im und zum kapitalistischen System

Inhaltliche Profile – kurze Reichweite 

In der Programmdiskussion gibt es zwei wichtige Fragen. Einmal geht es um kontroverse Positionen. Zum anderen um Schwerpunktsetzungen. Und dabei ist immer das strategische Dreieck zu berücksichtigen: Grundwerte, Wählerschaft, Mitgliedschaft.

Überlegungen zu Werte- und Interessenkonflikten – Kontroversen

Kontroverse Positionen innerhalb der LINKEN ergeben sich einmal aus der Radikalität von Zielen, Forderungen und Kampagnen: Sind die Ziele unter den gegebenen Bedingungen vermittelbar und ggfs. sogar durchsetzbar? Hier ist das Verhältnis Grundwerte und Wählerpräferenzen angesprochen. Dies sind aber altbekannte Fragen ohne großen Sprengstoff. Die Ziele sind Konsens, es geht vielmehr um taktische Fragen ihrer Umsetzung. Sollen wir den kostenfreien ÖPNV fordern oder das 365-Euro-Ticket?

Sprengstoff ergibt sich aber dann, wenn zwischen Zielen Widersprüche auftreten. Dies kann zwei Gründe haben. Einmal kann es Interessensgegensätze zwischen sozialen Großgruppen geben: z.B. zwischen den Geschlechtern in der Arbeitswelt, in Familie und Staat. Für die Bearbeitung von Interessensgegensätzen innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen gibt es bewährte Strategien in der Gewerkschaftsbewegung, wie die Einigung auf Tarife als Mindestbedingungen einerseits und die Umverteilung zur Vergrößerung des zu verteilenden Kuchens andererseits. Damit wurden solche Zielkonflikte abgemildert, aber nicht aufgelöst. Schwieriger wird es bei z.B. bei der Arbeitsteilung im Haushalt. Was die eine gewinnt verliert der andere. Oder bei Quoten auf dem Arbeitsmarkt. Wenn Frauen oder die zweite und dritte Generation der Migrationsbevölkerung beruflich aufsteigt, verringert dies die Chancen der Altdeutschen. 

In die Kategorie der Interessensgegensätze fallen m.E. auch die Probleme der Covid-Politik. Eine restriktive Covid-Politik schützt die besonders vulnerablen Gruppen der Alten und Kranken, gefährdet aber durch häusliche Gewalt Frauen und Kinder, führt zu verdeckter Arbeitslosigkeit und Armut und widerspricht den Interessen von jungen Menschen. Auch die generelle Impfpflicht hat eine schwierige Abwägung erforderlich gemacht. Die LINKE konnte sich nicht auf eine klare Linie einigen, weil es diese moralischen und interessenspolitischen Dilemmata gibt. 

Die zweite Kategorie betrifft Konflikte/Widersprüche zwischen universellen Grundwerten linker Politik nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einerseits und materiellen Interessen von sozialen Gruppen andererseits. Die „imperiale Lebensweise“ im globalen Norden hinterlässt Spuren von Armut, Zerstörung und Blut auf dem ganzen Erdball (Lessenich). Nach den Grundwerten unserer Politik müssten wir die Ausbeutung der Entwicklungsländer und der Natur entschieden bekämpfen. Dies würde aber materiellen Verzicht für die Mehrheitsgesellschaft und auch unsere Klientel bedeuten. Man kann dies auch als Interessenkonflikt zwischen Mehrheiten im globalen Norden und Mehrheiten im globalen Süden definieren. Wie auch immer: Eine LINKE, die für breite Teile der Bevölkerung Konsumverzicht fordert, hat keine Chance auf die Mobilisierung von politisch relevanten Minderheiten, von Mehrheiten ganz zu schweigen. Die Forderung nach Umverteilung als Voraussetzung für Verzicht ist plausibel, löst aber nicht das Problem. Die Voraussetzungen können sich allerdings ändern, wenn große Flüchtlingsbewegungen den globalen Norden erreichen, wenn kriegerische Konflikte auftreten, wenn der globale Norden selbst von Umweltkatastrophen heimgesucht wird, wenn also ein Druck von außen entsteht. 

Die LINKE muss an den Grundwerten linker Politik festhalten. Wenn sie gleichzeitig politisch relevante Minderheiten gewinnen will, muss sie bei vielen Themen Kompromisse bzw. Gemeinsamkeiten zwischen den Interessen sozialer Großgruppen finden. Außerdem sind Kompromisse und Verbindungen zwischen moralischen Grundprinzipien und materiellen Interessen von Zielgruppen zu bilden.

Dies erinnert an die Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik in der Sozialphilosophie und angewandten Ethik. Erstere bezeichnet das Festhalten an moralischen Grundprinzipien, Letztere den „Kosten/Nutzen“-Abgleich bei der Umsetzung von Prinzipien. Allerdings drückt hier schon die Sprachwahl die Herabsetzung moralischer Grundprinzipien aus: Gesinnungstäter/Gesinnungsethik. Dies erinnert auch an Warnungen vor dem „Menschenrechtsfundamentalismus“. Diese Herabsetzung von universellen Werten können wir nicht teilen, gleichwohl sind in der Unterscheidung richtige Fragen enthalten, die wir oben ausgeführt haben: Widersprüche zwischen den Interessen von sozialen Großgruppen; Widersprüche zwischen moralischen Grundprinzipien und Interessen. 

Im orthodoxen politischen Marxismus gab es diese Probleme nicht. Die Herstellung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit setzt Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen und der Ausbeutung über die Vergesellschaftung der Produktionsmittel voraus (siehe Marx zur „Judenfrage“); m.a.W. diese bildet die Voraussetzung der Emanzipation von Frauen und ethnischen Minderheiten. Die Arbeiterklasse ist das revolutionäre Subjekt aufgrund der Stellung zu den Produktionsmitteln und der Krisen des Kapitalismus. Sie kann die Vergesellschaftung der Produktionsmittel aufgrund des interessenbasierten Zusammenschlusses gegen das Kapital durchsetzen und damit die Voraussetzung für die Gleichheit aller schaffen. 

Leider hat sich diese hier etwas verballhornte Konzeption in der Praxis nicht bewährt. Materielle Interessen in und außerhalb des Produktionsprozesses führen nicht notwendigerweise zur Revolution, sie können sogar universellen Menschenrechten widersprechen, wenn sie zur Ausbeutung und Zerstörung der Weltgesellschaft beitragen. (Marx hat diese Thematik in der Analyse der englischen Arbeiterklasse im Verhältnis zur irischen angedacht). 

Außenpolitik (Ukraine) und Flucht als Beispiel für kontroverse Themen 

Das wichtigste Thema im Frühjahr 2022 ist der Krieg in der Ukraine. In der Außenpolitik gab es in der Vergangenheit eine Übereinstimmung zwischen den Lagern der LINKEN: Keine Auslandseinsätze der Bundeswehr (nur mit UN-Mandat), Auflösung der NATO, keine Waffenexporte, keine Aufrüstung. Die Mehrheit in Vorstand und Fraktion ist bei diesen Positionen geblieben, die auch im Erfurter Programm festgeschrieben sind. Starke Minderheiten haben den Konsens aufgekündigt. Schon in der „Schuldfrage“ gibt es beim Ukraine-Krieg keine Einigkeit, erst recht in der Stellung zu Sanktionen, Waffenlieferungen und Aufrüstung (siehe Taz vom 31.3.22; vgl. Herrmann 2022). 

Der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine stellt die Linke vor eine schwierige Situation (vgl. Musto/Korn 2022). Die Mehrheitslinie stellt den Schutz des Lebens an erste Stelle, der Krieg soll nicht durch Waffenlieferungen verlängert werden und noch mehr Opfer fordern. Minderheiten in der Partei, zu denen wir uns rechnen, gehen vom Völkerrecht aus, das die Selbstbestimmung von nationalen Gemeinschaften festlegt, Angriffskriege verurteilt und militärische Gegenwehr erlaubt. Aus dieser Sicht hat die Ukraine eindeutig das Recht, sich gegen die russische Aggression mit Waffengewalt zu wehren (Mason 2022). Wirtschaftliche Sanktionen allein werden die russische Armee nicht zum Rückzug zwingen. Daher ist die Forderung der Ukraine nach Waffen zur Verteidigung legitim. Sie sollten ihr u.E. auch nicht verweigert werden. (Laut Gysi und Ramelow müssen diese Waffen aber nicht aus Deutschland kommen, das im zweiten Weltkrieg die Sowjetunion in Schutt und Asche gelegt hat). 

Andererseits ist auch dieser Strömung der LINKEN die Dynamik der Gewalt bewusst, die aus solchen Konflikten zu entstehen droht. Sie kann nicht Kräfte in der Nato unterstützen, die den Konflikt zu einer weitreichenden Schwächung Russland nutzen wollen und dafür große Risiken eingehen. Daher muss die russische Aggression zurückgedrängt und der Regierung deutlich werden, dass sie für ihren Überfall einen hohen Preis zu zahlen hat. Zugleich sollte alle politische Energie darauf verwandt werden, dass es möglichst schnell zu einem Frieden kommt, der für beide Seiten ‚gesichtswahrend‘ ist. Nur ein solcher Frieden kann eine Eskalation verhindern. Langfristig beruht unsere Hoffnung auf der russischen Zivilgesellschaft und den politischen Veränderungen, die von ihr ausgehen können. Es geht bei diesem Konflikt schließlich auch um die Stärkung des Völkerrechts. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker bildet eine der Voraussetzungen für eine demokratische Entwicklung. Ziel muss es bleiben, ein kollektives internationales Sicherheitssystem zu entwickeln.    

Migration und Flucht: In der Migrationsfrage gabt es in der LINKEN heftige Grundsatzdebatten über „offene Grenzen“.  Auch wir müssten von unseren Grundwerten für offene Grenzen plädieren. Europa hat über Jahrhunderte dazu beigetragen, die ökonomische und politische Entwicklung der beherrschten Kontinente und Kolonien zu blockieren. Wenn Menschen hungern, vor Krieg flüchten oder verfolgt werden, sollten wir ihnen helfen. Wenn dies nicht ausreichend über Hilfen in den betroffenen Ländern und Flüchtlingslagern erfolgt, müssen wir den Menschen in Europa helfen und sie aufnehmen. 

Schaut man auf die Interessensdiskussion ergeben sich allerdings Einschränkungen: Bei kontinuierlichen Einwanderungsbewegungen deutlich über dem gegenwärtigen Niveau ist der Sozialstaat unter gegebenen Bedingungen (also ohne massive Umverteilung, die ja heute nicht durchsetzbar ist) überfordert. Auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt kann es gerade in den unteren Segmenten Konkurrenz geben, die dann nach oben ausstrahlt. Zuwanderungsbewegungen vergrößern aufgrund von „Integrationsproblemen“ immer auch deklassierte Unterschichten mit all den Folgeproblemen von Armut, Kriminalität und religiösem Fanatismus. Hinzu kommt ein starker Schuss Ethnozentrismus und Rassismus, der die Durchsetzung linker Positionen erschwert. 

Wir sehen hier drei politische Ansatzpunkte, um die Widersprüche zwischen Grundwerten und Interessen zu bearbeiten:

  1. Eine liberale Asylpolitik sollte in den betroffenen Regionen Angebote für eine humanitäre Visapolitik einrichten und Geflüchteten in Deutschland schnell zu einem Arbeits- und Aufenthaltsrecht verhelfen. Dazu gehört auch der Spurwechsel von der Flucht- zur Arbeitsmigration. 
  2. Menschen auf Fluchtwegen gegen Hunger und Tod schützen. Seenotrettung und Unterbringung in den Ländern der EU. Abschaffung der Lagerhaltung von geflüchteten Menschen. 
  3. Gegen die Konkurrenz auf Märkten Mindeststandards verbessern (Mindestlohn, Mietendeckel) und gleichzeitig für mehr Wohnungen und Jobs kämpfen.


In der Vergangenheit wurde über offene Grenzen gestritten. Aber in der Kritik an der Praxis der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik und in den o.g. Forderungen war und ist die LINKE sich einig. Das Problem mit der Wagenknecht-Position bestand darin, dass sie während der politischen Krise um die Flüchtlingsbewegung 2015/16 mit ihrer Kritik an der Bundesregierung Öl ins Feuer der polarisierten Auseinandersetzung um die Fluchtmigration in der Gesellschaft gegossen hat. Wenn Flüchtlingsheime angezündet, Migrant*innen auf der Straße angegriffen und für ein reinrassiges deutsches Volk mobilisiert wird, muss die LINKE die Rechte der Minderheiten schützen.

Die Diskussion um Themenschwerpunkte 

Es ist klar, dass die LINKE zu allen wichtigen politischen Themen Stellungnahmen und Vorschläge entwickeln muss. Dies gilt z.B. in den Medien als ein Qualitätsmerkmal von Parteien. Die Positionen tauchen dann im „Wahlomat“ und in den Übersichten der Presse auf. So wurde das Programm der LINKEN zur BTW 21 von den liberalen Medien durchaus ernst genommen und teilweise sogar als konsistent und finanzierbar gelobt (z.B. von SZ und FAZ). 

Hier kann es nicht bloß um eine Ansammlung von Themen gehen, die sich aus der politischen Agenda des Parlamentarismus ergeben. Die LINKE hat ein sozialstrukturell heterogenes und politisch plurales Elektorat: ein linkes Protestmilieu (im Osten mit Überschneidungen zu Querdenkern und teilweise AfD), ein linkes Arbeitnehmermilieu (teilweise mit gewerkschaftlicher Orientierung), ein linksalternatives und akademisch geprägtes Milieu. Es gibt starke gemeinsame Grundorientierungen, aber auch Differenzen. Wenn die Partei wieder zulegen möchte, muss sie alle drei Milieus mit attraktiven Themen ansprechen. 

Das zweite Bezugsproblem für die zu diskutierende Schwerpunktsetzung ist die Profilbildung gegenüber den politischen Konkurrenten. In der parlamentarischen Arbeit, in den sozialen Bewegungen und in den Wahlkämpfen müssen eine Vielzahl an Themen behandelt werden, wo in der Regel gegenüber den politischen Konkurrenten und Gewerkschaften etwas weitergehende Forderungen gestellt werden. Sowohl vor Ort aber erst recht in der selektiven medialen Verarbeitung bleibt dann oft die Frage nach dem eigenständigen Profil der LINKEN. Sie unterscheidet sich von allen anderen Parteien durch das Ziel der substanziellen Gleichheit der Lebenschancen und dem Vorrang von gesellschaftlich/staatlichen vor kapitalistischen Steuerungsformen. Dieses Profil kann teilweise auf der Ebene der konkreten Themen und Schwerpunkte eingebracht werden (etwa bei der Enteignung von Immobilienkonzernen), muss aber auch programmatisch auf der mittleren und großen Reichweite wirksam werden (siehe unten). 

Das dritte Bezugsproblem ergibt sich aus der medialen Filterung aller Politik. Wer sichtbar werden will, muss Schwerpunkte setzen, und zwar an der richtigen Stelle. Die Mindestlohnkampagne war ein Beispiel für eine erfolgreiche Schwerpunktsetzung, ebenso das Mietenthema. 

Die Parteivorsitzenden schlugen in ihrem „Kompass“ (2021) nach der Wahl vier Schwerpunktsetzungen vor: Gesundheit, Mieten, Mobilität und Arbeit. Dazu soll es eine Mitgliederoffensive und Bündnisse in und mit sozialen Bewegungen geben. 

Das Netzwerk Marx21 (2021) fordert in seinen Thesen zur Bundestagswahl vom Oktober 21 Eigenständigkeit gegen die Konkurrenten von SPD und Grünen und nennt als zentrale Themen: Sozialabbau als Folge der Corona-Krise, die Kosten des Klimawandels, Arbeitsbedingungen in der Pflege und „anderswo“. Der alte Vorstand hat direkt nach der Wahl im „Kompass“ vier Schwerpunkte benannt: Gesundheit, Mieten, Mobilität und Arbeit. Auch die für die mittlere Reichweite beschriebenen Konzepte mit der Klammer Nachhaltigkeit oder Sozialstaat enthalten jeweils eine Reihe von konkreten Themen (vgl. Goes, Riexinger, H. Wolf). Diese werden allerdings eher formal an die Klammer angelegt. Der Aufruf für eine populäre LINKE vom 1.6.22 benennt vier Schwerpunkte (Ungleichheit, Umwelt, Frieden, Demokratie). 

Wir hoffen, dass auf dem Parteitag eine Einigung in der Schwerpunktsetzung erreicht wird, und denken, dass auf jeden Fall das Thema Arbeit und Gewerkschaften gestärkt werden muss (vgl. Detje, Sauer 2022, Dörre 2021c). Die Partei ist in ihrer Programmatik und politischen Praxis ganz nah bei den Gewerkschaften und hat im Funktionärskörper (vor allem von IGM und Verdi) viele Sympathisant*innen. Die LINKE hat aber bei der letzten Bundestagswahl bei Gewerkschaftsmitgliedern nur 7 Prozent und bei Arbeiter*innen nur 4 Prozent der Stimmen erhalten. 

Die wirtschaftlichen Umbrüche schwächen die Gewerkschaften, weil sie die Voraussetzungen für die kollektive Interessenvertretung verschlechtern. Um die anstehenden Transformationsprozesse sozial gestalten zu können, sind sie aber unersetzlich. Daher muss ihre institutionelle Macht ausgebaut werden: Dies betrifft erstens das Betriebsverfassungsgesetz (Mitbestimmungsrechte bei Verkauf, Aufspaltung, Verlagerung und Strukturveränderung). Die Informationsrechte und Arbeitsbedingungen der Betriebsräte müssen verbessert, ihre Gründung erleichtert werden. Zweitens geht es um das Tarifvertragsrecht (z.B. durch Verbindlichkeitserklärungen oder die Verpflichtung öffentlicher Auftraggeber, nur tarifvertraglich gebundene Unternehmen zu berücksichtigen). Schließlich sollte das System der Subunternehmen eingeschränkt und die arbeitsrechtliche Stellung der Beschäftigten verbessert werden (insbesondere bei Leiharbeit und befristeten Verträgen). Solo-Selbstständige sollten einbezogen werden in die Sozialversicherung, die Möglichkeiten für Kollektivverhandlungen zur Sicherung einer angemessenen Vergütung müssen erweitert werden. Eine stärkere Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften wäre auch ein entscheidendes Mittel, dem weiterverbreiteten Gefühl vieler abhängig Beschäftigter entgegenzutreten, dass der ökologische Wandel nur zu ihren Lasten geht.

Mittlere Reichweite: die verbindende Klammer

Für die mittlere Reichweite konnten wir in der parteiinternen Diskussion zwei Vorschläge identifizieren: die sozial-ökologische Transformation und der neue Sozialstaat.

Riexinger schlägt vor, auf der mittleren Reichweite die sozialökologische Transformation in den Vordergrund zu stellen und andere Programmpunkte mit dem Nachhaltigkeitsschwerpunkt zu verbinden. Das Konzept hat er in seinem Buch von 2020 ausgearbeitet. 

Harald Wolf (2021) argumentiert in dieselbe Richtung mit dem übergreifenden Schwerpunkt der sozial-ökologischen Transformation. Außerdem schlägt er vor, Regierungsoptionen nicht zu negieren, aber mit großer Vorsicht zu behandeln.  Konkret heißt dies, dass die Koalitionen dann sinnvoll sind, wenn die Reformschritte in die richtige Richtung gehen. Problematisch werden Koalitionen dann, wenn in die entgegengesetzte Richtung gearbeitet wird und die Partei diese Politik zu verantworten hat (z.B. Aufrüstung statt Abrüstung).

Klaus Dörre (2022) kommt von der These der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise des Kapitalismus und spricht von einer Nachhaltigkeitsrevolution, um die herum ein Programm zu bauen wäre (vgl. hierzu auch das bereits 2013 veröffentlichte Programm Plan B der LINKEN). Jeder Schritt in die richtige Richtung sei zu unterstützen, auch der Green New Deal der Grünen und die progressiven Kapitalfraktionen von Davos.  Allerdings braucht diese Politik einen radikalen Kompass, der sich aus dem Forderungskatalog des Weltklimarates ergeben kann. Aus meiner Sicht ist dies eine Art Volksfrontpolitik (gegenwärtig noch ohne Volk). 

Bei allen drei Autoren bildet die sozial-ökologische Transformation die verbindende Klammer. Ökosozialistische Visionen verweisen auf die große Reichweite, über direkte Anschlüsse oder begriffliche Verbindungen kommen die Autoren dann zu den konkreten Themenschwerpunkten auf der kurzen Reichweite. 

Thomas Goes (2021) schlägt dagegen für die mittlere Reichweite eine neues Sozialstaatskonzept vor, wo dann die sozialökologische Transformation eins von drei Themen bildet. Thomas Goes fordert zunächst im Anschluss an Ypsilanti eine Schärfung des linkssozialistischen Profils der Partei. Ziel der Politik ist ein Bündnis von Deklassierten, der „fortschrittlichen Arbeitnehmermitte“ und Hochqualifizierten. Diese drei Gruppen bilden auch die drei wichtigsten Milieus im Elektorat der Partei. Als „verbindendes Projekt“ schlägt er eine Neugründung des Sozialstaats vor mit drei Ergänzungen zur bisherigen Erzählung: Klimaschutz; Freiheitsgüter (Mobilität, Bildung etc.); Mitbestimmung der Arbeiter*innen. Ähnlich wie Harald Wolf (2021) will er ökologische, soziale und demokratische Themen und Forderungen miteinander verbinden, setzt allerdings auf den Sozialstaat als Klammer. In Bezug auf die Regierungsbeteiligung wendet er sich gegen zu viel Opportunismus, gleichzeitig aber auch gegen eine pauschale Ablehnung. 

Der kurz vor dem Parteitag veröffentlichte Aufruf für eine populäre Linke (populaere-linke.de) hat einen ähnlichen Tenor. Hier wird folgende „Priorisierung von Aufgaben und Botschaften“ vorgeschlagen: der Abbau von Ungleichheit; eine gerechte Umwelt- und Klimapolitik; Frieden, Abrüstung und Entspannung; Schutz von Demokratie und persönlicher Freiheit. 

Im Vorstand der LINKEN hat sich der Ansatz der sozial-ökologischen Transformation als übergreifende Klammer politischer Arbeit durchgesetzt. Dieser steht im Zentrum des Leitantrags 01 zum Parteitag. Wir halten dies für sinnvoll, weil die Inhalte und Kosten der Verarbeitung ökologischer Krisen die Politik der nächsten Jahrzehnte bestimmen werden. Ökologische Krisen treffen auch die Länder des globalen Nordens: direkt über Katastrophen wie die Überschwemmungen an der Ahr, indirekt erstens über die hohen Kosten des technologiefixierten Umstellungspfades und des Strukturwandels am Arbeitsmarkt und zweitens über die zu erwartenden Flüchtlingsbewegungen. Dies und die Umweltsensibilität des deutschen Publikums werden das Ökologie-Thema zu einem politischen Dauerbrenner machen. Durch den Ukraine-Krieg werden Fragen der Energiekosten und die Umstellung auf erneuerbare Energien noch wichtiger. Deshalb sollte die LINKE die sozial-ökologische Transformation zum übergreifenden Thema machen. 

Dieser Ansatz bildet eine gute Klammer für kommende Arbeit der Partei, ersetzt aber nicht die Auseinandersetzung zu kontroversen Themen und ersetzt auch nicht eine Schwerpunktbildung in der praktischen Politik. Denn die großen Transformationsperspektiven spielen in den Parlamenten und den sozialen Bewegungen vor Ort kaum eine Rolle: Hier geht es um die Einzelthemen öffentlicher Nahverkehr, Mieten, Kraftwerke etc. Hier sehen wir ein Defizit im Leitantrag 01 des Vorstands: Die konkreten Probleme der Partei und anstehenden Schwerpunktsetzungen werden nicht ausreichend adressiert.

Große Reichweite: Neo-Sozialismus

Die LINKE ist heute eine Sammlungsbewegung mit Aktivist*innen aus ganz verschiedenen Themenfeldern, Reform-Transformations-Konzepten und strategischen Visionen. Gemeinsam ist der überwiegenden Mehrheit der Parteimitgliedschaft die Utopie einer neo-sozialistischen Gesellschaft (Glauch u.a. 2022). Viele Autor*innen aus allen vier Parteiströmungen sind der Meinung, dass auch in der praktischen Politik neo-sozialistische Utopien wichtig sind, um Perspektiven aufzuzeigen und uns von SPD und Grünen abzugrenzen (Dörre 2022). 

Soweit wir das überblicken, gibt es in der innerparteilichen Sozialismus-Diskussion (vgl. die neueren Publikationen von Deppe, Dörre und Brie) zwei dünn besetzte Pole, zwischen denen sich dann die Musik abspielt: Auf der einen Seite die orthodoxe Konzeption der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der gesellschaftlich-staatlichen Planung (Kommunistische Plattform). Auf der anderen Seite die soziale Marktwirtschaft von Sarah Wagenknecht mit einem starken Staat. Beide Pole sind in der Partei schwach besetzt. Die Zwischenpositionen grenzen sich von den Extremen ab: Das Großkapital wird enteignet, Gemeineigentum und staatliche Steuerung sollen dominieren, es bleiben aber in diesem Rahmen Märkte erhalten. Es geht also um unterschiedliche Mischungsverhältnisse von gesellschaftlichem und privaten Eigentum und Steuerungsformen (vgl. Dörre 2022). 

Die orthodoxe Position geht auf die kommunistische Arbeiterbewegung und die Studentenbewegung der 60er und 70er Jahre zurück. Parteien und Parlamente waren hier allenfalls Mittel zum Zweck. Die angestrebte radikale Vergesellschaftung der Produktionsmittel und radikale Umwandlung/Zerstörung von Staatsapparaten war nur denkbar durch Machtergreifung in Wirtschaft und Politik, die auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen und abzusichern waren. Wahlen spielten bis zur Gründung der Grünen kaum eine Rolle. Die DKP erhielt nie mehr als 1 Prozent der Stimmen. Die K-Gruppen blieben, soweit sie sich an den Wahlen beteiligten, unterhalb dieser Schwelle. 

Auch heute haben sich eine Reihe von kommunistischen Gruppierungen inner- und außerhalb der Partei erhalten (z.B. die kommunistische Plattform, Lieberam 2021). Ihre Argumente sind plausibel. Kapitalistische Systeme setzen enge Grenzen für Reformpolitik – machtpolitisch, aber auch systemisch. Eine Brechung der wirtschaftlichen Hegemonie des Kapitals ist nicht allein über Parlamente zu erreichen, vielmehr bedarf es hierfür gesamtgesellschaftlicher Gegenmachtpotenziale in Ökonomie, Politik und Kultur. Gewarnt wird vor parlamentarisch fixierten linken politischen Parteien aufgrund der Tendenz, sich zu integrieren (nach der Logik von Michels ehernem Oligarchiegesetz). 

Konsequenterweise geht es bei politischer Arbeit darum, die Grenzen von Reformen aufzuzeigen und darüber soziale Bewegungen voranzutreiben. Forderungen müssen eine transitorische Logik haben, Regierungsbeteiligungen sind gefährlich. Für den großen Umbruch bedarf es einer geschlossenen Organisation, die in einer revolutionären Situation richtig handelt. 

Solche Auffassungen sind in der Partei in der Minderheit, sie haben weder in der LINKEN noch darüber hinaus eine Chance. Erstens sind die Ziele nach dem Scheitern des Staatssozialismus nicht mehr plausibel, zweitens ist der Weg dahin über die Mobilisierung der Arbeiterklasse nicht mehr überzeugend, drittens hat eine solche Politik in der gegenwärtigen Situation keine Erfolgschancen. 

Wir brauchen Alternativen zum globalen Finanzmarktkapitalismus, und die Positionen zu neo-sozialistischen Mischstrukturen unter der Hegemonie staatlich-gesellschaftlicher Steuerung bieten hierfür Ausgangspunkte. Wir sehen allerdings eine Reihe von Fragen, an denen weitergearbeitet werden müsste. Wenn gesellschaftlich-staatliche Steuerungsmechanismen dominieren, müssen weitreichende Produktions- und Ressourcenentscheidungen zentralstaatlich getroffen werden; wie soll das demokratisch möglich sein? (Die Zentralisierung der Macht in den realsozialistischen Staaten war kein Zufall). Noch schwieriger ist es, sich eine gesellschaftlich gesteuerte globale Wirtschaft vorzustellen. Sozialismus in einem Land oder der EU ist nicht machbar: In einer globalen Wirtschaft würde man weltweit mit kapitalistischen Produzenten konkurrieren und den entsprechenden Akkumulationszwängen unterliegen (siehe China). Oder es gäbe eine Rückkehr zu regionalen Wirtschaftskreisläufen mit massiven Wohlstandseinbrüchen in den Nationen des globalen Nordens und in der Folge auch im globalen Süden (Enver Hodscha hat in Albanien das Extrem vorgeführt). Auf solche Fragen müssen Antworten gefunden werden. Hier sind auch die Überlegungen von Piketty zur Umverteilung und Rotation von Eigentum diskussionswürdig.

Mit diesen Fragen wollen wir die Arbeit an sozialistischen Utopien keineswegs verteufeln. Erstens gibt es gute Gründe für die Suche nach Alternativen zum kapitalistischen System. Zweitens ist dies eine der Existenzgrundlagen der LINKEN. Drittens war dies einer der Gründe für unsere eigene Politisierung, die sich ja zu einem jahrzehntelangen politischen Engagement ausgewachsen hat. Dies ist bei den jungen und alten Sozialisten heute nicht anders. 

Schlussfolgerungen

In der laufenden Strategiedebatte gibt es vier Grundpositionen zur Ausrichtung der praktischen Politik der Partei in den kommenden Jahren. Diese unterscheiden sich einerseits durch die thematische Breite und Klammer („sozial-ökologische Transformation“ versus „soziale Frage“) und andererseits durch die Kompromiss-, Bündnis- und Regierungsbereitschaft (pragmatisch versus profilierend). Wir plädieren für ein pragmatisches sozial-ökologisches Programm, mit dem der „Gebrauchswert“ linker Politik wieder deutlich werden kann, wohlwissend, dass dies gegenwärtig Minderheitenpositionen in der Partei repräsentiert. Nach den Mitgliederbefragungen (Glauch u.a. 2022) zeichnet sich z.B. in München eine Mehrheit für die in den Leitanträgen vorgegebenen Konzepte eines profilierenden sozial-ökologischen Kurses ab.

Im Leitantrag 01 des Parteivorstands der LINKEN sind viele gute Ideen zur übergreifenden Klammer eines sozial-ökologischen Programms entwickelt. Wir bezweifeln aber, dass damit auf kurze und mittlere Sicht der Bauchaufschwung aus der Krise der Partei gelingt. Es fehlt an durchdachten konkreten Schwerpunktsetzungen und politischen Positionen zu den wichtigsten aktuellen Themen. In Umverteilungsfragen besteht weitgehend Einigkeit; bei den Themen Pandemie, Ukraine und Grundeinkommen gibt es klare Mehrheiten, aber keinen Konsens. 

Eine Spaltung der Partei halten wir in der gegenwärtigen defensiven politischen Lage der LINKEN für Selbstmord. Wir haben ein linkes Potenzial von rund 20 Prozent der Wählerschaft, davon haben allerdings in der Vergangenheit nur 3–10 Prozent der LINKEN ihre Stimme gegeben. Eine Aufspaltung des Elektorats würde vermutlich für beide Teile zum parlamentarischen und politischen Bedeutungsverlust führen. Das politische Großexperiment „Aufstehen“ ist nicht ohne Grund gescheitert.

Allein aus Selbsterhaltungsinteresse wird die LINKE eine Sammlungsbewegung unterschiedlicher Strömungen bleiben. Ein Versuch, diese auf eine Mehrheitslinie zu verpflichten ist ehrenhaft aber aussichtlos. Es wird also weiterhin unterschiedliche Stellungnahmen geben. Soweit diese mit den Grundwerten der Partei kompatibel sind, sollten sie geduldet werden. Allerdings können Mehrheitsmeinungen und Minderheitenpositionen deutlich werden. Außerdem stellt sich die Frage, ob der medienpolitische Drang zur Personalisierung von Konflikten wirklich so wichtig für das LINKEN Elektorat ist. 2017 erreichte die LINKE fast 10 Prozent der Stimmen, nachdem sie sich einige Jahre öffentlich und heftig über die Fluchtmigration und das Personal gestritten hatte.  Wir hoffen, dass es dem Parteitag gelingt, Mehrheitspositionen zu identifizieren aber auch inhaltlich und personell Kompromisse für die weitere Arbeit zu finden. 

Zehn Thesen zur Strategiediskussion 

  1. Die Finanzmarktkrisen, die Pandemiekrisen und die neuen Energiekrisen in der Folge des Ukraine-Krieges zeigen, dass die Reichen profitieren, die Mittelschichten staatsinterventionistisch geschützt werden und die Unterschichten leiden. Solange in Deutschland und Nordeuropa der Lebensstandard der Mittelschichten geschützt werden kann, bleibt die Linke in der Defensivposition, weil große Mehrheiten ihre Lebensweise nicht gefährden wollen. 
  2. In dieser Situation bleiben radikale soziale Bewegungen und radikal linke Parteien kleine Minderheiten. Dies gilt auch für die LINKE in Deutschland. Deshalb kann die Partei gegenwärtig bestenfalls als politisches Korrektiv wirken.
  3. Die Existenz der Partei als linkes Sammelbecken und ihre Präsenz im Bundestag und in Länderparlamenten ist außerordentlich wichtig, um als Korrektiv von Mitte-Politiken zu wirken, um für linke Ideen zu werben und um außerparlamentarische Bewegungen zu stabilisieren.
  4. Um Wahlen zu gewinnen, reichen die kleinen radikalen linken Milieus bei weitem nicht aus. Wir brauchen Stimmen der rot-rot-grünen Wechselwähler*innen, von denen uns ein großer Teil bei den letzten Bundestagswahlen verlassen hat. 
  5. In der laufenden Strategiedebatte nach der Wahlniederlage und vor dem Parteitag gibt es vier Grundpositionen zur Ausrichtung der praktischen Politik der Partei in den kommenden Jahren. Die erste Säule will ein breites sozial-ökologisches Programm, die zweite einen sozial und klassenpolitischen Fokus. Innerhalb der Säulen gibt es jeweils eine pragmatische auf Regierungsbereitschaft setzende und eine eher profilierende und auf rote Linien setzende Linie. 
  6. Wir, die Autoren dieses Papiers, haben uns aufgrund der historisch defensiven Position der Partei zu einer pragmatischen sozial-ökologischen Linie durchgerungen. Wir müssen uns breit aufstellen und alle wichtigen Milieus im Elektorat ansprechen. Außerdem brauchen wir in der praktischen Politik eine konsequente und pragmatisch überzeugende Reform- und Regierungsorientierung. 
  7. Deshalb muss die Partei ihre thematische Breite nach dem Konzept der Mosaik-Linken aufrechterhalten. Dass die soziale Frage im Sinne einer „verbindenden Klassenpolitik“ im Zentrum steht, ist unbestritten. Damit sprechen wir alle direkt oder indirekt Erwerbstätigen und alle für uns interessanten Milieus an.
  8. Im Mosaik gibt es Werte- und Interessenkonflikte, die sich u.a. in den Diskussionen zur Identitäts-, Flucht- und Friedenspolitik widerspiegeln. Sowohl innerparteilich als auch gegenüber unserem Elektorat sind gemeinsame Nenner und Kompromisse zu finden.
  9. Zur Profilbildung und Abgrenzung zu SPD und Grünen brauchen wir aber weiterführende programmatische Klammern. Unser Alleinstellungsmerkmal ergibt sich aus dem Gleichheitspostulat (den Abbau der Ungleichheit) und gesellschaftlich-staatlichen vor privatkapitalistischen Lösungen für die Daseinsvorsorge und Schlüsselbranchen. Die sozial-ökologische Transformation sollte den Kompass bilden. 
  10. Die pragmatische Reformorientierung darf aber weitergehende Transformationsperspektiven und Systemalternativen nicht ausschließen. Hierfür liegen allerdings noch keine für uns voll überzeugenden Konzepte vor. Umso wichtiger ist die weitere Arbeit an neo-sozialistischen Utopien.

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