War das Jahr 2015 ein politisches »Wendejahr« oder brachte es gar eine gesellschaftspolitische »Epochenwende«? Seit der deutschen Vereinigung beschäftigte und veränderte kaum ein Thema wie »die neuen Flüchtlinge und der Islam« das Alltagsbewusstsein. Seit der Brandt’schen Ostpolitik hat keine politische Auseinandersetzung die Öffentlichkeit in Deutschland so spürbar gespalten, so viel Verbitterung und Hass erzeugt wie die heute um den Zuzug von Flüchtlingen. Die Linie verläuft quer zu Milieuzugehörigkeiten und Parteibindungen, Weltanschauungen und Lebensgefühlen, trennt Familien, Freunde, Nachbarschaften und Vereine. Gerungen wird um das vorherrschende Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft und eine gesellschaftspolitische Richtungsentscheidung. Auch soziale Fragen werden im Gewand eines Kulturkampfes ausgetragen. Der weitere Verlauf kann mit einer weitgehenden Neuordnung der politischen Kräfte verbunden sein.
Zwei unversöhnliche Sichtweisen der Welt treffen aufeinander. Hier: Universalismus und Aufklärung, wozu die Überlegung zählt, »daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Welt an allen gefühlt wird« (Kant). Dazu gehörten außerdem das Recht auf Bewegungsfreiheit, das Streben nach irdischem Glück als Menschenrecht, offene Grenzen in einer globalisierten Welt sowie die entschiedene Ablehnung jeglicher Zurückweisung Schutzsuchender aus ethischen Prinzipien. Dort: Kommunitarismus und Gemeinschaftsdenken, die strikte Ablehnung der Vermischung mit »fremden« Kulturkreisen und das Beharren auf nationalstaatlicher Souveränität, die gewaltbereite Verteidigung von Etabliertenvorrechten bis hin zum Schießbefehl gegen unbewaffnete Flüchtlinge an den Landesgrenzen. In dieser Entschiedenheit sind beide Positionen minoritär.
Das politische Momentum des Protests jedoch liegt bei den Migrationsgegnern, da alle Parteien von der CSU bis zur Linkspartei der Auffassung sind, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei und sein müsse. Daher lässt sich die Mobilisierung gegen den »Ausverkauf des deutschen Wohlstandes«, gegen »die Überfremdung« und den »Untergang des Abendlandes« mit der bereits länger schwelenden populistischen Ablehnung von »Eliten« und »etablierten Parteien« verbinden. Vom erneuten Umfragehoch der AfD geht ein enormer Druck auf die Bundestagsparteien aus. Das zeigt sich etwa im Agieren der um die absolute Mehrheit fürchtenden CSU oder bei der modernisierten urbanen CDU an der Sorge über die endgültige Abwanderung traditioneller konservativer Milieus. Vor allem aber machen das Erstarken der AfD und ihre mögliche Etablierung als rechte, populistische Parlamentspartei österreichische Verhältnisse wahrscheinlicher: eine Epoche mehr oder weniger großer Regierungskoalitionen aus CDU und SPD. Das Kennzeichen solcher ist, dass sie keine gesellschaftspolitischen Richtungsentscheidungen mehr herbeiführen können. Von der in großen Koalitionen gefangenen Sozialdemokratie ist nicht mehr zu erwarten, als eine humanitär orientierte Abwägung zu treffen zwischen der Not der Flüchtlinge und Migranten einerseits und einem gereizt, nervös und hysterisch reagierenden Teil der Bevölkerung andererseits, um so ein Bündnis der Union mit diesem Teil zu verhindern. Denn eigene Mehrheiten sind für die SPD gegenwärtig nicht zu erwarten. Unter diesen Bedingungen wird die real existierende Sozialdemokratie keine Idee entwickeln können und wollen, wie eine politische Konstellation links von der Union zusammenzuführen wäre.
Ohne strategisches Leitbild – Kontrollverlust und Radikalisierung
Eine gesellschaftspolitische Mehrheitsmeinung, wie das Einwanderungsland Deutschland in Zukunft aussehen soll, konnte sich bislang weder auf einem der beiden Pole noch zwischen ihnen formieren. Eine Verständigung über das Verhältnis von Asyl, verschiedenen Formen der Migration und dauerhafter Einwanderung steht seit Langem aus. Die jahrelange Austeritätspolitik blockierte nicht nur den Aufbau einer auf Einwanderung ausgerichteten sozialen und öffentlichen Infrastruktur. Sie trug auch maßgeblich dazu bei, dass jede Ausgabe für die soziale Infrastruktur im Zusammenhang mit Flüchtlingen und ihrer Integration von vielen der bereits Ansässigen misstrauisch beäugt und hinterfragt wird: »Warum nicht schon für uns?« Statt das Nötige zu tun, waren Parlament und Regierung bis zum August 2015 vor allem mit Spekulationen dahingehend beschäftigt, wann der Innenminister realistische Prognosen über die Zahl der zu erwartenden Flüchtlinge vorlegen würde.
Im Umgang mit den Flüchtlingen wurde die mangelnde Fähigkeit der Regierenden zur sinnstiftenden Reduktion von Unübersichtlichkeit und globaler Komplexität in aller Deutlichkeit sichtbar. Bereits seit der Finanzkrise zeitigt der vorherrschende Politikmodus, der komplexe globale Zusammenhänge in eine medial entsprechend begleitete Abfolge von Einzelkrisen und entsprechende Narrative zerlegt, die jeweils für sich abgehandelt werden, immer mehr kontraproduktive Wirkungen, zuletzt 2015: Gegenüber der griechischen Regierung nutzte die Bundesregierung ihre politökonomische Vormacht, um die Einhaltung verabredeter Regeln und EU-Verträge durchzusetzen – dabei den Gedanken des Wettbewerbs von Volkswirtschaften innerhalb eines gemeinsamen Währungsraumes absolutierend. Der Primat der Austerität entwertete jegliches nicht ökonomische Fundament für eine »europäische Solidarität«. Angesichts der humanitären Katastrophe, die die ungarische Flüchtlingspolitik kurz darauf heraufbeschwor, entschied die Bundesregierung weitgehend im Alleingang, europäische Regelwerke wie das Dublin-II-Abkommen außer Kraft zu setzen. Damit wurde in Rechnung gestellt, dass die Menschen ohnehin schon unterwegs waren. Die Entscheidung hatte aber auch innenpolitische Gründe wie die mediale Dominanz der »Willkommenskultur« nach »Heidenau«. Ferner sollte durch eine deutsche Vorleistung die Tür für eine neue europäische Lösung offengehalten werden, deren notwendige moralische Basis man in der Griechenlandkrise zuvor allerdings verspielt hatte. Nach dem dschihadistischen Blutbad in Paris solidarisierte sich die deutsche mit der französischen Regierung, zog in den Syrienkrieg und beteiligt sich an der Produktion neuer Fluchtursachen durch Bombardements von Dörfern und Städten, obwohl gerade die »Bekämpfung der Fluchtursachen« ein zentrales Argument gegen die populistische Fremdenabwehr war.
Eine Orientierung der Regierungspolitik an strategischen Zielen und konsistentes Handeln kann eine deutliche Umfragemehrheit nicht mehr erkennen. Sie bescheinigt der Regierung, »die Lage nicht im Griff« zu haben. In einem Feld komplexer Dynamiken erscheint das Regierungshandeln eher situativ und affektiv bestimmt. Andere als rein wirtschaftliche Fragen treiben die Bürgerinnen und Bürger um: Fragen der Lebensweise und der Kultur des Zusammenlebens. Die gängigen Interpretationsrahmen und Instrumente, mit denen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft gedeutet und vermittelt wurden, mit denen der Raum der sozialen (Handlungs-)Möglichkeiten vorgegeben wurde, funktionieren nicht mehr wie erwartet. So wandelte sich etwa die »Leistungsgesellschaft« zur »Erfolgsgesellschaft«, bei aller »Freiheit der Märkte« blieb das versprochene Durchsickern der Wohlstandsgewinne nach unten aus. Zu beobachten sind entsprechende Brüche seit der globalen Finanzkrise 2008 in vielen Formen und mit vielfältigen Inhalten, auch hierzulande. Immer geht es auch um die Neujustierung des Verhältnisses von Politik, Staat und Gesellschaft und der Stellung des Bürgers in ihr.
Vorherrschend scheint in der deutschen Gesellschaft das zumindest »gefühlte« Wissen, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann und wird. Im Bundestagswahlkampf 2013 erschien vielen das Land als eine Insel des Wohlstands und manchen sogar als »bedrohtes Paradies«, umgeben von Krisen und Verarmung in anderen Ländern. Mit der Massenmigration nach Deutschland erhält die Bedrohung eine reale Gestalt. Dort wo der ökonomische Wohlstand des Landes als der verdiente Erfolg deutscher Maschinenund Autobauer gilt, wo also das Leitbild vom erfolgreichen Wettbewerbsstaat seine Anhänger hat, wächst die Bereitschaft, dieses mit allen Mitteln gegen »Fremde«, die auf der Suche nach einem besseren Leben gleich aus welchen Gründen hier ankommen, zu verteidigen. Dieses Leitbild radikalisiert sich gegenwärtig zu einem neuen sozial-populistischen Nationalismus und findet Verbündete in Europa bis hin zu Trump in den USA. Die Sprache, in der die »Festung Europa« verteidigt wird, militarisiert sich: Wurden die Migrierenden noch im Herbst zu »Wellen«, »Fluten« oder »Lawinen« naturalisiert, so wurden sie im Winter schon mehr und mehr zu »Angreifern«, gegen die nach dem Versagen des europäischen Grenzregimes in Griechenland neue »Verteidigungslinien« etwa in Mazedonien errichtet werden müssten. In Deutschland kulminiert diese Radikalisierung vorerst im Aufschwung der AfD, in selbsternannten »Bürgerwehren« und terroristischen Anschlägen auf Unterkünfte und »Fremde«.
Im Februar 2016 gaben in Umfragen 10 Prozent der Beteiligten an, die eigene Situation habe sich durch die Ankunft der Flüchtlinge verschlechtert, und 30 Prozent erwarteten eine nicht näher bestimmte »Verschlechterung« ihrer zukünftigen Situation. Das ist bei Weitem keine Mehrheit, aber ein erheblicher Resonanzboden für weitere fremden- und menschenfeindliche Radikalisierungen. Dass es den überhaupt zum jetzigen Zeitpunkt gibt, passt nicht in die gängigen Deutungsmuster, wonach Phasen ökonomischer Depression und sozialer Deprivation gesellschaftliche Polarisierungen vorantreiben, im Unterschied zu Phasen sinkender Erwerbslosigkeit und wirtschaftlichen Aufschwungs, in denen eine übergroße Mehrheit der allgemeinen wie der persönlichen wirtschaftlichen Zukunft optimistisch entgegensieht. Eine kommunikationsstarke Minderheit geht derzeit zur handfesten Verteidigung des »bedrohten Paradieses« über.
Globale Komplexität und politische Orientierung
Eine andere Deutung bot nicht zuletzt Angela Merkel an: Globalisierung hätten »wir« bisher nur als Export und Exportweltmeistergekannt, nun erlebten wir ihre Kehrseite in Gestalt der Flüchtlinge. In dieser Deutung haben sowohl christlich-humanitäre wie kapitalismuskritische Sichtweisen Platz. Die Globalisierung kehrt sich um, der andere ärmere Teil der Welt kommt nun zum reicheren Teil; im Gepäck die Fragen, warum die einen so reich und die anderen so arm sind, ob die anderen überhaupt jemals so reich werden können, wie »wir« es sind, und ob »unsere« Art zu leben, universell sein kann. Seit einigen Jahren konfrontieren die Migrationsbewegungen Europa vor der eigenen Haustür mit dem eigentlichen Wesen seines Reichtums. Die Flüchtlingsfrage, so die radikale Gestalt dieser Deutung, lässt die Gerechtigkeitsfrage nur noch als eine globale soziale Frage zu. Der politische Kampf ginge dann um die gesellschaftspolitische Antwort auf die globale Gerechtigkeitsfrage für die kommende Epoche und um die Rolle der deutschen Politik in der Welt.
Ob sich eine solche weltoffene Deutung gegenüber einer Wagenburgmentalität, unabhängig von der konkreten Gestalt der politischen Antworten, überhaupt durchsetzen kann, ist nicht gewiss, auch wenn sie wichtige Fraktionen des deutschen Kapitals als Verbündete hat und seit ein paar Jahren eine Umfragemehrheit die Notwendigkeit von Einwanderung zum Zweck des Wohlstandserhalts behauptet. Ein entscheidendes Hindernis ist die Verunsicherung über das Ausmaß, in dem die deutsche Gesellschaft für populistische Ressentiments anfällig sein könnte, und die damit verbundene Scheu zu sagen, was ist: Nicht alle Ankommenden sind schutzsuchende Kriegsflüchtlinge. Viele kamen und werden zukünftig kommen aufgrund sozialer Hoffnungslosigkeit und auf der Suche nach einem besseren Leben nicht erst im Himmelreich. Sie weichen der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit, den Folgen des Klimawandels. Ihre Motive sind nicht schäbig. Längst leben Hundertausende als Angehörige einer globalen Unterschicht illegal im Land, die sich, weil selbst rechtlos, hiesigen Regelwerken nicht verpflichtet fühlen.
Dieser Umstand, zusammen mit der Einführung von sogenannten sicheren Herkunftsstaaten, erschwert jetzt schon die Verteidigung des individuellen Rechts auf Asyl für politische und Kriegsflüchtlinge als eine unumstößliche humanitäre Verpflichtung(vgl. Pelzer in diesem Heft). Das Recht auf globale Bewegungsfreiheit, das Recht, sich den Wohnund Lebensort frei zu wählen, das Recht auf Glück, das allen Menschen zukommt, wird sich mittel- und langfristig nur als solches und nicht mit Bezug auf geltende Bestimmungen zum Schutz von Flüchtlingen durchsetzen lassen. Es wäre in den politischen Auseinandersetzungen schon viel gewonnen, wenn statt über Obergrenzen der Belastbarkeit über Untergrenzen der Unterstützung und über Verantwortlichkeiten debattiert würde: Wie vielen Menschen soll, wie vielen Menschen will diese Gesellschaft jährlich die Suche nach einem besseren Leben ermöglichen? Wie will sie dabei helfen – gerade auch mit Blick auf die Herkunft des eigenen Wohlstandes?
Gegenwärtig deutet alles auf eine noch schärfere politische Polarisierung und sprachliche Verrohung hin. Weder steht in Aussicht, dass eine »Bekämpfung der Fluchtursachen« einen zeitnahen Rückgang der nach Europa strebenden Migration bewirken kann, noch ist eine tatsächliche »europäische Lösung« wahrscheinlich. Eher werden nationale Maßnahmen von Einreisekontrollen bis zu militärischer Grenzbefestigung zunehmen und wächst der populistische Druck auf die Regierungen der wenigen Zielländer, insbesondere auf die deutsche, ebenfalls zu solchen Mitteln zu greifen. Die Renationalisierung der EU zu einem »Europa der Vaterländer« zeichnet sich ab. Der Rückzug auf »nationale Souveränität« und die »Nation«, deren Wohl über dem »Recht« stehe, ist ein Modus der Kritik an kapitalistischer Globalisierung, neoliberal entbetteter Freiheit des Eigentums bei zugespitzter sozialer Ungleichheit und ausbleibenden Wohlstandsgewinnen aus den an die EU (»Brüssel«) abgetretenen Souveränitätsrechten. So liegt der ungarische Durchschnittslohn immer noch etwa in Höhe der deutschen Armutsgrenze für einen Alleinstehenden. Der autoritären »marktkonformen Demokratie« der EU wird ein ebenso autoritäres Demokratieverständnis entgegengesetzt: die Wiederherstellung eines ursprünglichen Volkswillens, dessen Zustandekommen ebenso geheimnisvoll bleibt wie das Vertrauen der Märkte. Demokratie ist dann, wenn der Volkswille zum Leben erweckt und gegen die inneren und äußeren Feinde behauptet wird, wenn sie »das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß« (Carl Schmitt).
Währenddessen bleiben die globalen Ursachen der Migration: Krieg, zerfallende Staaten und Rechtlosigkeit, soziale Hoffnungslosigkeit, Suche nach irdischem Glück, einem besseren Leben. Ein politischer Wille, der globalen Realität Europas auf der Basis der »europäischen Werte«, die im Kern die Werte der säkularen Aufklärung sind, zu begegnen, zeichnet sich nicht ab. Die Front derjenigen, die die Bekämpfung der dschihadistischen Bewegung (»Terrorabwehr«), die Fremdenfeindlichkeit und den Anti-Islamismus zu einem »clash of cultures« (Huntington) entwickeln wollen, wird stärker. Dabei wäre das von Benjamin Barber in »Djihad vs. McWorld« geprägte Bild vom Zangenangriff des globalen Kapitalismus und Dschihadismus auf die plurale und soziale Demokratie weitaus treffender.
Deuten und Handeln
Seit der Einführung des Euro hat nichts im Alltagsleben der deutschen Gesellschaft ihre Einbettung in eine globale Komplexität so nachhaltig vor Augen geführt wie die ankommenden Flüchtlinge und Migranten. Es wird sich vieles verändern im Land. Die Pegidisten und AfDler wissen es schon länger und bekämpften zunächst Flüchtlinge und ihre Unterkünfte, dann vermehrt auch das Gegenüber in der »Willkommenskultur«. »Heidenau« und »Hauptbahnhof München« stehen stellvertretend für diese Konfrontation unterschiedlicher soziokultureller Milieus. Gegen die fortschreitende gesellschaftliche Polarisierung und Verrohung steht derzeit vor allem der umwälzende Pragmatismus derjenigen, die als Bürgerinnen und Bürger, in lokalen Initiativen und Verwaltungen, in der kommunalen Politik das tun, was getan werden muss: ankommende Fremde menschenwürdig unterbringen, möglichst rasch ihren Status klären, sie mit lokalen Gepflogenheiten vertraut machen, in soziale Lebensgemeinschaften aufnehmen, Teilhabe ermöglichen. Im Lokalen, in Gemeinden und Städten wird ein Zusammenleben auf der Basis der Menschenrechte wahr, werden Institutionen und Verwaltungshandeln verändert, insbesondere wenn den faktischen »Obergrenzen« Wohnraum, Schulen, Sprachkurse und Arbeitsplätze abgerungen werden. Dieses pragmatische Handeln, welches sich aus Humanität, Solidarität und Gerechtigkeitsidealen speist, ist derzeit der einzige gesellschaftlich verankerte Gegenpol zur populistischen Mobilisierung, überschreitet durchaus Klassen- und Schichtgrenzen, folgt womöglich einem Modell des Zusammenlebens, welches die Antipoden »deutsche Kultur« oder »Multikulturalität« pragmatisch in ein randloses Mosaik der Kommune auflöst.
Wer will, kann zudem sehen, wohin Privatisierungs- und Austeritätspolitik, Personaleinsparungen und Verwaltungsreformen geführt haben. Wer nicht mit einer Spirale ausufernder Gewalt auf Abschreckung und Vertreibung als Lösung setzen will, wird daran etwas ändern müssen. Bisher ist es den sozialstaatlich orientierten Parteien in Deutschland nur unzureichend gelungen, diese im Lokalen virulente Erkenntnis zu einem politischen Willen gegenüber dem Bundeshaushalt und der »schwarzen Null«, zu einem Bild vom demokratischen Sozialstaat in einer global vernetzten Ökonomie zu formen. Ein unverzichtbarer Bestandteil werden europäische Institutionen sein, die der tatsächlichen ökonomischen Verflechtung angemessen sind und den europäischen sozialen Ausgleich fördern, etwa eine europäische Arbeitslosenversicherung und tarifliche Standards. Ohne das Ziel eines europäischen Sozialstaates scheint der Absturz in das »Europa der Vaterländer« kaum aufzuhalten.
Die Verlockungen des Populismus und Völkischen machen allen Parteien zu schaffen, auch der Linkspartei. Lange Zeit wurde die Haltung »offene Grenzen für Menschen in Not« von etlichen Anhängern nicht geteilt, aber diese Haltung war nicht wahlentscheidend. Seit 2013 ist dies anders, seit eine politische Partei die Flüchtlingsfrage als Frage der sozialen Gerechtigkeit in Gestalt von Etabliertenvorrechten deutet. Bedenkenswert ist, was diese Abwendung verarbeitet: Seit ihrer Existenz kämpft die LINKE für andere Verteilungsverhältnisse, für eine »Umverteilung von oben nach unten«, aber in den Augen vieler ohne den versprochenen beziehungsweise erhofften Erfolg. Wer sich in seinen eigenen sozialstaatlichen Ansprüchen durch Fremde bedroht sieht, wird daher angesichts der angenommenen Machtlosigkeit der linken Kräfte nicht unbedingt darauf setzen, dass ausgerechnet jetzt die Umkehr der Verteilungsströme gelingt. In Ländern wie Polen und Ungarn hat die nationale soziale Frage inzwischen eine politische Heimat bei den Populisten und Völkischen gefunden. Sozialstaatlicher Nationalismus ist aber keine linke Perspektive.
Eine Politik der sozialen Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert zu entwickeln, hieße, mehreren Anforderungen gerecht werden zu müssen: Es sollte eine schlüssige und handlungsmächtige Deutung der sozialen Frage als Frage globaler Gerechtigkeit, des gleichen Rechts auf Glück geben. Die Trennung zwischen »sozialer« und »kultureller« Linker sollte überwunden werden, da soziale Fragen immer auch Fragen der Lebensweise sind, des gelebten Respekts vor Gleichheit und Aufklärung. Die Vorstellung eines demokratischen Sozialstaates sollte nationalstaatliche Grenzen nicht zur Existenzbedingung haben.