Faschistische wie liberale Antikommunisten haben versucht sein Werk auszumerzen: Die Faschisten verbrannten seine Bücher im Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz. Sie hätten ihn auch umgebracht, wäre er nicht wenige Wochen zuvor, am Tag nach dem Reichstagsbrand, geflohen – zunächst für einige Jahre ins Exil nach Dänemark und dann über Schweden, Finnland und die Sowjetunion schließlich nach Santa Monica an der US-amerikanischen Pazifikküste. In den USA zerrte man ihn wenige Jahre später, zu Beginn des „Second Red Scare“, also der zweiten Welle der Kommunistenverfolgungen in den USA (1947-1957), mit Hunderten anderen Intellektuellen vor das „House Committee of Un-American Activities“. Und nach seiner Rückkehr nach Europa belegte ihn das Bürgertum in der postfaschistischen Bundesrepublik und in Österreich zunächst mit Aufführungsboykotten oder versuchte sein durch und durch politisches Werk zu entpolitisieren.
Totzukriegen war der vor 125 Jahren, am 10. Februar 1898, im bayrischen Augsburg geborene Schriftsteller Bertolt Brecht jedoch nicht: Schon in den frühen 1920er Jahren war der Dramatiker, Lyriker und Belletrist eine lebende Legende. Und bis heute kann man ihn mit Fug und Recht als den bedeutendsten deutschsprachigen Dramatiker der Welt bezeichnen.
In den westlichen Besatzungszonen hatte man Brecht die Einreise verwehrt. Auch auf die Bemühungen seiner Berliner Freunde, nicht zuletzt Wolfgang Langhoff vom Deutschen Theater, zog er 1948 nach Berlin in die Sowjetische Besatzungszone und spätere DDR. Das „Theater am Schiffbauerdamm“, das bis heute das Brecht-Theater „Berliner Ensemble“ beherbergt, wurde zu seiner neuen Heimat. Von hier ging sein globaler Einfluss aus. Sein „episches Theater“, seine theoretisch unterfütterten Überlegungen zum „Verfremdungseffekt“ und die Überwindung der „Guckkastenbühne“, der spezifische Einsatz von nichtaristotelischen Lied-Chorälen revolutionierten das moderne Theater weltweit. Es gibt ein internationales Theater vor und ein internationales Theater nach Brecht. „It’s very Brechtian“ gehört zum Arsenal heutiger Theaterkritiken ganz selbstverständlich dazu, denn Brechts Handschrift und die Übernahme seiner Techniken durch nachgeborene Stückeschreiber*innen sind unverkennbar. Ohne ihn gäbe es heute weder Tony Kushner noch Osvaldo Dragún.
Als Marxist liebte Brecht das Historische, das materialistische Denken und die Dialektik. Sein philosophisch-aphoristisches Hauptwerk „Me-ti: Buch der Wendungen“ war in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren neben den Marx’schen „Grundrissen der politischen Ökonomie“ und den Schriften des italienischen Marxisten Antonio Gramsci eine wesentliche Lektüre für die Wiederentdeckung eines unverknöcherten, lebendigen Marxismus. Der Philosoph Wolfgang Fritz Haug erhob Brecht später zusammen mit Gramsci zurecht in den Stand eines marxistischen Philosophen erster Güte. Für Brecht, der seinen Marxismus in der Mitte der 1920er Jahre im Umfeld der KPD – Mitglied wurde er indes nie – und von Intellektuellen wie Karl Korsch, Ernst Bloch, Fritz Sternberg und seinem engen Freund Walter Benjamin lernte, waren alle scheinbaren Dinge in Wirklichkeit Verhältnisse und (Entwicklungs-)Prozesse. Und so sah er auch sich selbst, als Intellektueller in einem Netz von Beziehungen, im Kollektiv, im Bund mit den revolutionären Teilen der organisierten Arbeiter*innenbewegung. Für die ich-fixierten Intellektuellen hatte er nur Spott übrig.
Mithilfe der Dialektik lässt sich auch der Schriftsteller selbst entschlüsseln: Brecht war Sohn eines Prokuristen und späteren Direktors einer Papierfabrik, also Sohn bürgerlicher Funktionseliten. Aber er liebte Arbeiter*innen, Gosse, Kleinkriminelle und den Boxkampf. Und er beging konsequenten Verrat an seiner Herkunftsklasse, indem er sein Denken und Schreiben in den Dienst der sozialistischen, revolutionären Arbeiter:innenbewegung stellte.
Brecht kritisierte nun nicht die Gier einzelner kapitalistischer Gauner, sondern wollte den Kapitalismus als System abschaffen und durch die klassenlose Gesellschaft, durch den Kommunismus ersetzen. Aber er beharrte darauf, dass die „Kapital-Verbrecher“, die „Charaktermasken“ des Kapitals auch „Name und Anschrift“ haben. Gegen sie schrieb er Texte wie „Das Lied vom Klassenfeind“.
Brecht war ein weitläufig gebildeter, sich ständig weiterbildender Großintellektueller. Aber er misstraute seiner Zunft grundsätzlich, nannte sie ziel- und erkenntnislose „Tuis“ (Tellekt-Uell-Ins“), die ihren Intellekt vermieten, „Bemäntler“, „Weißwäscher“, „Kopflanger“ der Bourgeoisie. Sei es, weil sie sich unmittelbar und bewusst in den Dienst der Verteidigung der bestehenden Eigentumsordnung und Machtverhältnisse stellten oder durch apolitische Haltungen und Eskapismus aus dem Streit der Welt herauszuhalten trachteten. Hiergegen forderte Brecht ein „simples Denken“, das gesellschaftliche Zusammenhänge erhelle statt sie zu verrätseln, das in Zustände des Unrechts eingreife und sich ins Handgemenge mische statt schöngeistig nur sich selbst zu gehören.
Brecht war mithin ein großer Kritiker des Formalismus, spottete über die Formalisten, die aus einem Lorbeer eine Kugel zu formen trachten, bis vom Lorbeer, also dem Inhalt, nichts mehr übrig ist. Dennoch verteidigte er im „Expressionismusstreit“ mit Georg Lukacs auch die modernen Literaturtechniken: den Gedankenassoziationen im Kopf wiedergebenden „Bewusstseinsstrom“, den inneren Monolog, die Montage, also das Zusammenfügen verschiedener Textgattungen, oder das filmisch beschreibende „camera eye“, so wie sich diese Erzählformen in der Literatur der Zeit finden ließen, bei John Dos Passos, James Joyce, Virginia Woolf, William Faulkner oder Franz Kafka. Die Vorstellung, dass sozialistische Literatur sich ausschließlich am bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts zu orientieren und, darauf aufbauend, einen „sozialistischen Realismus“ zu entwickeln habe, lehnte Brecht ab.
Brecht kritisierte aufs Schärfste und verspottete mit beißender Ironie die bürgerliche Moral, rechts- wie linksliberal. Sicherlich wäre er, um die jüngste Frage der FAZ zu beantworten, heute nicht im wohlfeil-moralinsauren Sinne des Wortes „woke“. Aber er fühlte zutiefst egalitär, solidarisch, sozialistisch, internationalistisch und lebte seine Ideale, pflegte tiefe Freundschaften.
Brecht war ein „zoon politikon“, ein durch und durch politischer Mensch und Kämpfer. Aber er mahnte, dass der Kampf auch die Züge verzerre und betonte nicht zuletzt in seinen Gedichten, in der „Hauspostille“ und andernorts, das Sinnliche, nah am Herzen Stehende, Achtsame so sehr wie er es auch selbst lebte.
Er scharte eine Reihe der avantgardistischsten Komponisten seiner Zeit um sich, vor allem den Arnold Schönberg-Schüler Hanns Eisler, aber auch Paul Dessau und Kurt Weill. Letzterer wiederum machte ihn in den USA und der Welt berühmt. Zugleich pflegte er die Nähe zu Arbeiterschriftstellern wie Willi Bredel aus dem kommunistischen „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ und Arbeiterschauspielern wie Ernst Busch oder Erwin Geschonneck, die die von Eisler, Dessau und Weill vertonten Brecht-Stücke und Lieder zur Aufführung brachten und als Massengesang in der Arbeiter*innenklasse verankerten, nicht zuletzt durch Brechts Arbeit am Film „Kuhle Wampe“.
Brecht war klug und gebildet und als „Enfant terrible“ des jungen Weimarer Theaters erfolgreich. Schon mit Anfang 20 sagte er über sich, er sei auf dem Weg zum „Weltstar“. Aber er war bescheiden genug, seine Grenzen anzuerkennen, und begab sich wieder in die Rolle des Schülers, des Lernenden, des Lesenden und studierte zum Verständnis der Funktionsweise der Weizenbörsen „Das Kapital“, wurde Marxist.
Brecht lehrte Generationen von Schüler*innen, von Manfred Wekwerth bis zu Carl „Charly“ Weber. Aber er lernte auch ständig selbst und war in diesem Sinne unserem heutigen Verständnis der dialogischen Pädagogik von Antonio Gramsci weit voraus, ein lebendes Beispiel. „Alle Menschen sind Intellektuelle, aber nicht jeder Mensch erfüllt die Funktion eines Intellektuellen“ – Brecht lebte diesen Gramscianischen Satz.
Später wurde ihm unter anderem von Johen Fuegi der Vorwurf gemacht, dass er in seinen vielen Liebschaften auch intellektuelle Vorteilsnahme betrieben habe. Der Vorwurf: Seine Stücke wären nicht ohne die Frauen in seinem Umfeld – Elisabeth Hauptmann, Ruth Berlau, Margarete Steffin – möglich gewesen. Die Brechtforscherin Sabine Kebir hat hiergegen eingewandt, dass Brecht durch und durch Feminist war. Er habe nicht nur die emotionale und finanzielle Unabhängigkeit der Liebenden als Voraussetzung für Liebesfähigkeit gesehen, sondern auch als Ghostwriter unentgeltlich für die Frauen in seinem Umfeld gewirkt, als ihre Karrieren nicht vom Fleck kamen. Auch hätten Helene Weigel und er die Frauen – für Weigel ja eigentlich Nebenbuhlerinnen – immer uneigennützig unterstützt, wo dies nötig war. So oder so: In jedem Fall entsprach dies Brechts Vorstellung von kollektivem, kooperativem Arbeiten und Verantwortungsübernahme über die Kleinfamilie hinaus. Für Brecht war dabei Liebe ganz allgemein eine „Produktion“, die „Freundschaft“ voraussetze, weil nur durch sie sich Liebe immer wieder neu herstellen könne.
Und schließlich: Der 16jährige Gymnasiast Brecht war auch einmal kriegsbegeistert und sah im Ersten Weltkrieg die Pflicht zur Verteidigung des Vaterlands, als die russische Armee in Ostpreußen einmarschierte und man im Westen gegen den französischen Erzfeind kämpfte. Aber er erkannte, wie so viele Schriftsteller seiner Zeit, bald seinen fürchterlichen Irrtum und schrieb alsbald Antikriegsgedichte wie „Die Legende vom toten Soldaten“. Und später sein berühmtes Drama „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Schwejk im Zweiten Weltkrieg“ und die „Kriegsfibel“.
Begraben liegt Bertolt Brecht heute auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte, wo sie – fast – alle liegen, die ihn inspirierten, die mit ihm lebten, liebten und kämpften: Der große Dialektiker Hegel, Helene Weigel, Ruth Berlau und Elisabeth Hauptmann, die Brecht-Komponisten Hanns Eisler und Paul Dessau, die Zeitgenossinnen aus dem Umfeld des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Anna Seghers, Elfriede Brüning und Wieland Herzfelde, die Regisseure Wolfgang Langhoff, Slatan Dudow und Peter Palitzsch, die Brecht-Schauspieler Erwin Geschonneck, Ekkehard Schall und Gisela May, Peter Palitzsch, seine Tochter Barbara Brecht-Schall, der Brecht-Herausgeber Werner Hecht und der ohne Brecht undenkbare Heiner Müller.
Brecht ruht so direkt neben dem Haus, in dem er in Ostberlin zusammen mit Helene Weigel lebte, und in dem heute das Literaturforum im Brecht-Haus sein Zuhause hat. Der Mensch, dessen grundsätzlicher Antikapitalismus für das Bürgertum so unbequem war, dass man ihn und sein Werk auszulöschen versuchte, bleibt lebendig und aktuell. Denn die Aufgabe, das Privateigentum an den Produktionsmitteln abzuschaffen, die Klassengesellschaft zu überwinden und eine neue Welt, in der der Mensch dem Menschen kein Wolf mehr, sondern ein Helfer ist, ist nach wie vor unverwirklicht.