Die bekannten amerikanischen Historiker Schlesinger, senior und junior, haben die Theorie aufgestellt, dass die amerikanische Geschichtspolitik zyklisch verläuft: Einer Phase liberaler, fortschrittlicher Modernisierung folge eine Generation später die konservative Reaktion. Auch wenn die Linke diese Vorstellung als mechanistisch zurückgewiesen hat, so schöpft sie seit Johnson mit jedem neuen demokratischen Präsidenten, jeder mit gro- ßem Vorsprung ins Weiße Haus eingezogen, mit ganzem Herzen erneut Hoffnung, dass diesmal alles anders wird, dass diesmal eine neue progressive Ära beginnt. Und jedes Mal wurde sie aufs Neue enttäuscht. Auch wenn Carter und Clinton beide auf progressive Gesetzgebungen während ihrer Amtszeit verweisen können, so stellen doch viele Dinge, die sie erreicht haben, einen Abbau der gesellschaftlichen Errungenschaften der Roosevelt-Ära dar – sei es die Deregulierung des Verkehrswesens, Konsolidierung und Deregulierung des Finanzwesens, die Abschaffung der Sozialhilfe oder der Abschluss von Außenhandelsabkommen mit Niedriglohnländern. Anders als seine Vorgänger Clinton und Carter hat Obama die Regierungsgeschäfte zu einem Zeitpunkt übernommen, an dem der Schwung des wirtschaftlichen Laissez-Faire am Ende war. Seine Reformvorhaben waren durch und durch ehrgeizig: Krankenversicherung für alle, Regulierung des Finanzwesens, Gesetzesvorhaben zum Klimawandel und ein Keynes’sches Programm zur Ankurbelung der Wirtschaft. Doch mit dem Jahrestag des Amtsantritts wird deutlich, dass trotz der bevorstehenden, historisch einmaligen Gesundheitsreform keine progressive Reformära angebrochen ist. Wichtige Gesetzesvorhaben kommen nicht voran oder werden verwässert. Rechter Pseudo-Populismus sucht das Land heim. Die linke Basis ist demoralisiert. Die 30er und 60er Jahre sind das nicht! Gründe für die Totgeburt der neuen progressiven Ära gibt es viele und sie sind weithin diskutiert worden. Das Ableben liberaler und gemäßigter Republikanischer Strömungen. Der Widerwille seitens einiger Regierungsmitglieder und demokratischer Kongressabgeordneter, die Banken in ihre Schranken zu verweisen, die immer größere Rolle des Geldes in der Politik, die Schwäche der Gewerkschaften, die Dysfunktionalität des Senats – die Liste der Mängel ist lang und bekannt. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit der politischen Landschaft, in der sowohl Carter, Clinton als auch jetzt Obama ihrer Arbeit nachgehen: die Abwesenheit einer aktiven linken Bewegung. In der Zeit, in der Franklin D. Roosevelt Präsident war, waren Massenbewegungen von Arbeitslosen präsent und organisierte Bauern verhinderten, teils bewaffnet, Zwangsräumungen, Massenstreiks brachten ganze Städte zum Erliegen, und neue, militante Gewerkschaften brachten Fabriken unter ihre Kontrolle. Sowohl Kommunisten als auch demokratische Sozialisten waren einflussreich genug, um die entstehenden Bewegungen zu beeinflussen und in vielen Wahlkreisen genug Druck auf der Straße zu entfalten, dass die Demokraten bei der Suche nach Wegen zur Bekämpfung der Depression gezwungen waren, linke Vorschläge zu berücksichtigen. Während der Präsidentschaft Johnsons gelang es der Bürgerrechtsbewegung, unter deren Führer namhafte demokratische Sozialisten wie Martin Luther King Jr. und James Farmer waren, eine ganz neue Form des Drucks von der Straße zu entfalten, der den Präsidenten und den Kongress sowohl nötigten als auch anstifteten, weit reichende Reformen zu verabschieden. Fortschrittliche Reformen bedürfen in Amerika nicht allein einer fortschrittlichen Regierung, es bedarf autonomer, kraftvoller Massenbewegungen, an deren Spitze in der Regel Leute stehen, die sich innerhalb des progressiven Spektrums links oder noch links davon verorten. Solche Bewegungen gab es weder während der Präsidentschaft Carters noch während der Clintons. Obama hat die Wahl auf gänzlich neue Weise gewonnen, 13 Millionen Menschen unterstützten seinen Wahlkampf. Doch bisher hat Obama es abgelehnt, die Menschen auf diesen Unterstützerlisten für die Durchsetzung seiner Gesetzesvorhaben zu mobilisieren. Sie könnten Druck auf Abgeordnete der Demokratischen Partei ausüben, die den Reformprojekten ihre Zustimmung verweigern oder sie aufhalten. Die Aktivierung der Unterstützer hätte sicherlich ganz eigene Probleme verursacht: Anders als Roosevelt und Johnson, die aus der unabhängigen außerparlamentarischen Bewegung Unterstützung ziehen konnten, müsste Obama sich für jede ausgefallene Strategie seiner Unterstützer rechtfertigen. Ohne eine starke unabhängige Bewegung und ohne eine Heerschar loyaler Obama-Anhänger sieht sich der Kongress nicht unter Druck, die Vorhaben Obamas voranzubringen. Die Entstehung einer sozialen Bewegung bleibt immer etwas rätselhaft. Die Rechte in den USA war im vergangenen Jahr sehr erfolgreich damit, eine Bewegung aufzubauen, die kein positives Programm hat, aber Ängste und Empörung von Millionen von Amerikanern hinter sich versammelt. em rechtsradikalen Fernsehmoderator Glenn Beck ist dies in nur wenigen Monaten gelungen. Warum gelingt es linken TalkshowModeratoren wie Rachel Maddows oder Keith Olbermann nicht, etwas Vergleichbares zu schaffen und eine Bewegung für ein Arbeitsbeschaffungsprogramm oder gegen den Bankensektor organisieren? Vielleicht ist es dafür schon zu spät, aber ohne Druck von der Straße, ohne Unterstützung einer breiten sozialen Basis wird die Regierungszeit Obamas eher der Carters oder Clintons gleichen, als der Roosevelts oder Johnsons.

Aus dem Amerikanischen von Catharina Schmalstieg