Das Vertrauen fehlt in der Breite – gegenüber Banken und Finanzdienstleistern, gegenüber Unternehmern und Managern, den Politikern und dem politischen System insgesamt, den klassischen Medien und sogar gegenüber der Art und Weise, wie die Soziale Marktwirtschaft aktuell umgesetzt wird – dem zentralen Identitätsanker unseres Gesellschaftsmodells.« (Bertelsmann 2010a, 11f) Der Befund einer Legitimationskrise sagt allerdings noch wenig über konkrete Handlungsorientierungen während und im Ausgang einer schweren Weltwirtschaftskrise aus. Weder die Verletzung normativer Orientierungen (wie die der sozialen Gerechtigkeit) noch die konkrete Sorge um die eigene soziale Lage und Zukunft waren Anstöße für größere soziale Proteste und Konflikte. »Krise ohne Konflikt« lautet eine dem entsprechende Zeitdiagnose (Offe 2010a). Die dafür angeführten Gründe sind vielfältig: Prägten »fatalistische Dumpfheit und Desorientierung« das Krisenbewusstsein der unteren sozialen Schichten (vgl. Köcher 2009; Heitmeyer 2010a), sei für die besser gestellten sozialen Schichten ein wettbewerbsorientierter Individualismus charakteristisch. »So wirkt die Krise für beide Seiten konfliktbetäubend« (Offe 2010, 289). In neueren Umfragen (Heitmeyer 2010b) wird ein Entsolidarisierungsprozess zwischen den beiden sozialen Schichten diagnostiziert: Im Krisenverlauf verweigern die »Besserverdienenden« schwachen Gruppen ihre Unterstützung, reklamieren »Etabliertenvorrechte«.

Krisenwahrnehmung im Betrieb

In solchen Zeitdiagnosen fehlen vor allem die Einsichten jener, die als abhängig Beschäftigte die Krise gleichsam in den betrieblichen Zentren erlebt haben. Faktisch spielt sich das Gesellschaftsbewusstsein außerhalb der Arbeitswelt ab. Im Betrieb scheint sich politisch nichts mehr bewegen zu lassen, der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital – soweit er überhaupt noch als wichtig angesehen wird – wird auch in den Augen vieler Sozialwissenschaftler außerhalb des Betriebs auf mehr oder minder verschlungenen Pfaden ausgetragen. Der Betrieb ist aber zentraler Erfahrungsraum von Krisenfolgen (vgl. Dörre u.a. 2010). Anders als in einem abstrakten medialen Diskurs wird Krise hier konkret erlebt. Die Vorstellungen und Deutungen hinsichtlich der Wirtschaftskrise entstehen nicht einfach durch die Rezeption eines allgemeinen – massenmedial vermittelten – Krisendiskurses, sondern durch die Auseinandersetzungen mit praktischen, alltäglichen Erfahrungen im Betrieb. Zwar lassen sich die komplexen Strukturen eines Arbeit und Leben umfassenden Alltagsbewusstseins nicht in einen Punkt auflösen, aber im Unterschied zu manchen anderen politischen Orten bieten Betriebe die Möglichkeit, (Krisen-)Erfahrungen auszutauschen, (teil-)kollektiv zu verarbeiten und gemeinsame Schlüsse daraus zu ziehen. Selbst wenn kollektive Erfahrungs- und Verarbeitungsprozesse durch differenzierende und fragmentierende Arbeits- und Leistungsbedingungen erschwert sind, bleibt die Arbeit im Betrieb sowohl zentraler Ort für Einsichten in soziale Prozesse als auch zentraler Ansatzpunkt für politische Handlungsperspektiven. Wir haben versucht, in einer explorativen Studie einen Blick auf die Krisenerfahrungen der Menschen in den Betrieben zu werfen.1 Wie wird die Krise der Jahre 2007–10 wahrgenommen? Welche Handlungsorientierungen entstehen angesichts betrieblicher Krisenerfahrungen? Welche Folgerungen werden daraus für die Chancen von Widerstand und Protest gezogen? Und was bedeutet dies für die Einschätzung und Bewertung der betrieblichen und gesellschaftlichen Akteure?

Krise trifft auf Krisenerfahrungen

Wir haben unsere Erhebungen in jenen Industriebranchen durchgeführt, in denen Umsatzund Produktionseinbrüche am größten waren. Die Krise wirkt nicht als großer Gleichmacher, der alle Verhältnisse in ein gleiches Licht taucht. Vielmehr sind wir auf deutlich differenzierte Krisenwahrnehmungen gestoßen. Für relevante Teile der Beschäftigten wirkte die aktuelle Krise nicht als singuläres Ereignis, sondern trifft auf schon länger andauernde betriebliche Krisenerfahrungen. Anders als im strikt ökonomischen Sinn wird Krise oftmals als ein gleichsam »permanenter Prozess« wahrgenommen, der sich seit über einem Jahrzehnt durch beständige Restrukturierung der Abläufe im Betrieb, Verlagerungen, Outsourcing, Kostensenkungsprogramme, fortwährende Intensivierung der Arbeit usw. auszeichnet. Als »krisenhaft« werden der fortwährende Druck und die permanente Unsicherheit von Beschäftigung, Einkommen, Status und Arbeitsbedingungen verstanden. In der Auseinandersetzung mit dieser Restrukturierung in Permanenz werden unter diesen Bedingungen »Krisenreaktionen« zu einer gewissen Routine. »An dieses ständige Infragestellen vom Arbeitsplatz gewöhnt man sich eigentlich auch.« In der Wahrnehmung von »Krise als permanentem Prozess« stecken Defensiverfahrungen bis hin zu sozialen und politischen Niederlagen (z.B. massive Zugeständnisse im »Standortpoker«), aber auch die Erfahrung eigener Handlungsmacht, dort, wo es gelungen ist, betrieblichen Erpressungsversuchen mit erfogreichem Widerstand zu begegnen. Nicht zuletzt diese längerwährenden Krisenerfahrungen sind dafür verantwortlich, dass ein direkter Rückschluss von »objektiver« Krisenbetroffenheit auf die subjektiven Krisenwahrnehmungen kaum möglich ist. So wird eine individuelle Krisenbetroffenheit, ein besonderes Leiden unter der Krise, nicht durchgängig von denjenigen am stärksten artikuliert, die hinsichtlich Arbeitsplatzsicherheit sowie im Hinblick auf die finanziellen Folgen eigentlich am ehesten zu den »Krisenopfern« zu zählen wären. Gerade unter ihnen finden sich viele, die aufgrund vergangener betrieblicher Erfahrungen oder vor dem Hintergrund einer durch Unsicherheit und Brüche geprägten Erwerbsbiografie eine generalisierte Kompetenz zum Umgang mit prekären Lebens- und Beschäftigungsverhältnissen entwickelt haben. Andersherum kann gerade für jene die Krise ein »herber Schlag« sein, die bislang unter vergleichsweise gesicherten Bedingungen gearbeitet haben.

Ohnmacht, Angst und ­»adressatenlose Wut«

Unser Befund: Die Formel »Krise ohne Konflikt« greift die Stimmung zu sehr auf der Oberfläche medialer Öffentlichkeit ab. Wir beobachten Wut, Angst und Ohnmacht. Hinter der Fassade einer nahezu geräuschlosen und alternativlosen Krisenbewältigung in den Betrieben scheinen tiefgehende Ohnmachtserfahrungen gegenüber einer entfernten, unbeherrschten Dynamik auf: »[…] die Töne werden woanders erzeugt. Und wir haben bloß mit der Resonanz zu leben«. Zugleich wird erhebliches Protestpotenzial sichtbar. In unseren Interviews und Diskussionen kommt große Unzufriedenheit zum Ausdruck, die sich allerdings kaum mit Hoffnung auf baldige Veränderung verbindet. Dennoch lässt diese Hoffnungslosigkeit weder auf Apathie noch Fatalismus schließen: Apathie meint einen Zustand der Lähmung und Isolation, und fatalistisch sind Menschen, die sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden haben und nichts mehr erwarten. Wir sprechen dagegen von Ohnmacht, die auf einer rationalen Prüfung und durchaus realistischen Einschätzung der ökonomischen Abhängigkeiten und der sozialen Macht- und Kräfteverhältnisse basiert. Die von uns erhobenen Aussagen signalisieren zudem eine tiefgehende Unzufriedenheit und den Wunsch, die Lage zu verändern, und zugleich die Ratlosigkeit darüber, wie das gehen könnte. Die schon vor der Krise aufgestaute Wut hat meist keine konkreten Adressaten, und wenn, dann scheinen sie unerreichbar. Für die meisten der Befragten finden sich die »Schuldigen« – die Verursacher der Krise – nicht im Betrieb. Vor allem in abhängigen Zulieferbetrieben wird das lokale Management als machtlos erlebt, aber auch die »ökonomisch Mächtigen« gelten weniger als eigenständige Akteure, eher als Räder im System. Daraus folgt aber keine Distanzlosigkeit zum Arbeitgeber und zu betrieblichen Herrschaftszusammenhängen. Der Interessengegensatz wird auch auf betrieblicher – und nicht nur gesellschaftlicher – Ebene wahrgenommen. Die Konzessionen an das Unternehmen erfolgen eher »zähneknirschend«, statt mit der Überzeugung, mit dem lokalen Management in einem Boot zu sitzen. Vor diesem Hintergrund ist »betrieblicher Krisenkorporatismus« allenfalls ein temporärer Deal auf schiefer Ebene. Darin mischt sich viel: Resignation, Erschöpfung, soziale Ängste, Wut und Protest. Er bedeutet nicht dauerhafte Rücknahme von Ansprüchen oder die Abwesenheit von Kritik. Das Ohnmachtserleben »adressatenloser Wut« wird vom Betrieb auf »Gesellschaft« und auf »Staat und Politik« verschoben. Diese Wut schafft sich relativ diffus Raum und führt zu ausgeprägten Widerstands- und Protestfantasien, häufig mit »französischen Verhältnissen« als Vorbild. »Aber wenn das so weitergeht, dann werden sich die irgendwann mal alle organisieren und dann wird es wirklich mal krachen. Und ob das dann noch ruhig abgeht, das bezweifele ich. […] Das steigert sich so langsam hoch, und dann kracht es, aber dann kracht es gewaltig.« »Ja, da müssten andere Aktionen stattfinden wie eine Maikundgebung oder so was, da müssten in Deutschland die Straßen zu sein. Zu. Eine Woche lang. Da müsste sich nichts bewegen, gar nichts. Aber der Deutsche ist sowieso geduldig. Der wartet ab. Und wenn es scheppert, dann scheppert es richtig.«

Systemerfahrungen – zwischen Einsicht und Zwang

Die teils vehement geäußerten Protest- und Widerstandsfantasien sind zwar nicht als konkrete, umsetzungsbezogene Handlungsorientierungen zu deuten. Gleichwohl sind sie mehr als Verbalradikalismus. Die Krise trifft nicht nur auf den Boden langer Erfahrungen einer Verschlechterung der Arbeits- und Lebensverhältnisse, sondern auch auf weit reichende Prozesse einer Delegitimierung der ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnisse und deren Institutionen. Die aktuelle Krise wird als Bestätigung einer über Jahre gereiften Kritik wahrgenommen. Das Systemversprechen (der sozialen Marktwirtschaft), dass hohe Leistungsbereitschaft mit Anerkennung, Fortkommen und Sicherheit honoriert wird, ist bei größeren Teilen der abhängig Beschäftigten gesprengt. Wir haben es mit einem hohen Maß an Delegitimierung eines ökonomischen Systems zu tun, das Wohlstands- und Sicherheitsversprechen nicht einlöst. Auch hier sind es weniger die aktuelle Krise und die allgemeinen Erfahrungen sozialer Ungerechtigkeit, die die Legitimation des kapitalistischen Systems in Frage stellen, sondern die konkreten und dauerhaften Erfahrungen alltäglicher Übergriffe des Kapitals im Betrieb. Sie werden nicht mehr personalisiert, sondern systemisch gedeutet. Die marktzentrierte Reorganisation betrieblicher Prozesse in den letzten zwei Jahrzehnten hat von den Beschäftigten immer wieder Zugeständnisse und Opfer (bei Einkommen, flexibilisierten Arbeitszeiten, verschärften Leistungsbedingungen, Mitbestimmung u.a.) verlangt, die mit den vermeintlichen Sachzwängen des globalen Marktes und der Konkurrenz begründet wurden. In dieser »Defensivspirale« werden nicht nur die Zwänge der kapitalistischen Ökonmie unmittelbar und persönlich erfahrbar. Deutlich wird, dass das betriebliche Management sich hinter diesen Sachzwängen »versteckt« und sich selbst als Getriebene der (Finanz-)Märkte zu exkulpieren versucht. Das wird von den Beschäftigten zwar nicht immer geglaubt – es sind ja auch immer Drohkulissen –, aber dennoch wird die »Ohnmacht der Mächtigen« in diesen Auseinandersetzungen erkennbar. Wir halten diese Einsichten in den systemischen Charakter betrieblicher Herrschaft für einen Fortschritt gegenüber der personalen Identifikation von Herrschaft. Denn darin wird erkennbar, dass die Herrschaft der Menschen über Menschen notwendig verbunden ist mit der Unbeherrschtheit des Herrschaftsverhältnisses selbst bzw. des gesellschaftlichen Gesamtprozesses, den auch die Herrschenden selber nicht beherrschen. Gleichzeitig kann diese Einsicht auch überfordernd und entmutigend wirken. Wenn Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschafter bei jeder Forderung zur Verbesserung der Arbeitsituation gleich die Systemfrage am Hals haben, erscheinen ihre Bemühungen von vornherein als aussichtslos. Es kommt darauf an, zu erkennen, dass auf diese Weise das System unter Legitimationsdruck gerät und nicht etwa die politischen Reformforderungen oder der Protest gegen das System. »Wenn es nicht mehr möglich ist, die Forderung nach Einhaltung der tariflichen Arbeitszeit anzumelden, ohne sich entgegenhalten lassen zu müssen, dass man offenbar die Logik des Weltmarkts außer Kraft setzen wolle, dann spricht das nicht gegen die Forderungen der Arbeitnehmer, sondern gegen die Logik des Weltmarkts. Und wenn sich die Berufung auf den Weltmarkt trotzdem wie ein Totschlagsargument gegen die Beschäftigten und gegen die Gewerkschaften wendet und das ganz und gar Verrückte als unhinterfragbare Realität erscheint, hat das nichts mit Logik zu tun, sondern ausschließlich mit Macht« (Peters 2001, 179). Systemerfahrungen führen allerdings nicht automatisch zu einem tiefergehenden Begreifen von betrieblichen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Dazu bedarf es individueller und kollektiver Reflexionsund Verständigungsprozesse und auch der Unterstützung gewerkschaftlicher und anderer politischer Organisationen. Betriebliche Systemerfahrungen sind aber ein nicht zu unterschätzender Ausgangspunkt für das eigensinnige Begreifen von Herrschaftszusammenhängen, die auch politisch produktiv werden können. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es bereits zu widerständigen Auseinandersetzungen mit Systemzwängen gekommen ist.

Widerstand und Protest – Erfahrung eigener Handlungsmacht

Bei einigen der von uns befragten Kolleginnen und Kollegen äußern sich System- und Ohnmachtserfahrungen nicht nur in »adressatenloser Wut« und in Protestfantasien. Vor allem in Betrieben, die unter der ständigen Drohung einer Standortverlagerung stehen, haben Belegschaften und Interessenvertretungen angefangen, der ständigen Erpressung Widerstand entgegenzusetzen. Aus solchen Kämpfen ziehen die Beschäftigten die Erfahrung eigener Handlungsmacht: »In dem Betrieb, wo ich beschäftigt bin, haben die Leute das Gefühl, dass wir nichts mehr mit uns machen lassen, wir nichts mehr abgeben wollen. Wir sagen, bis hierhin und nicht weiter. Es reicht! Es hat ja auch keinen Sinn mehr, was abzugeben. Weil wenn wir abgeben, geht das sowieso immer wieder in die Gewinne oder in die Renditen der Kapitalisten und Unternehmer, meinetwegen auch in die Taschen der Politiker. Also bei uns habe ich das Gefühl, dass da der Punkt gekommen ist: bis hierhin und nicht weiter.« In einem konkreten Fall fand die erfolgreich geführte Auseinandersetzung um das Ausmaß von Kurzarbeit vor dem Hintergrund einer längeren Konfliktgeschichte im Betrieb statt. In wiederholten Runden der »Kostenkürzungen« und angesichts mehrfacher Verlagerungsdrohungen hatten Belegschaft und Interessenvertretung bereits Kampferfahrung sammeln können, die ihnen nun zugute kam. Die konfliktorische Orientierung entstand also zum einen vor dem Erfahrungshintergrund erfolgreicher Kämpfe in der Vergangenheit. Zum anderen hat sich in den erfolgreich geführten Auseinandersetzungen aber auch gezeigt, dass Schließungs- und Verlagerungsankündigungen Erpressungsversuche waren, die sich im Nachhinein als haltlos herausstellten. Vor diesem Hintergrund wurde auch in der aktuellen Krise eine machtpolititische Inszenierung gesehen: »Warum Kurzarbeit, wenn wir genug Arbeit haben? Da ist also die Meinung, der Arbeitgeber nutzt das Ganze aus, um sich gesundzustoßen dabei.« Aber auch jene, die dies betonen, zweifeln kaum an einer prinzipiellen strukturellen Abhängigkeit etwa des Zulieferers vom Groß- konzern, an der Geworfenheit in die spezifischen ökonomischen Bedingungen und die strukturelle Krisenhaftigkeit. Hieran ändern auch die partiellen Erfolge nichts. Es ist klar: Es sind Abwehrkämpfe, keine offensiven Auseinandersetzungen (etwa auf Basis von eigenen Forderungen der Beschäftigtenseite). So wird auch im obigen Zitat nicht nur Geschlossenheit und Stärke demonstriert, sondern auch zum Ausdruck gebracht, dass es womöglich ein Kampf mit dem Rücken zur Wand ist: »Wir haben nichts mehr zu geben«. Dabei klingt auch an: Wir haben (früher) schon alles gegeben und wenn ihr den Betrieb zumacht, ändert das auch nicht mehr viel für uns. Möglicherweise handelt es sich nicht einfach um eine rationale Abwägung: Sind wir stark genug zu kämpfen? Können wir unsere Ziele durchsetzen? Man könnte es auch so interpretieren: Ganz unabhängig von der tatsächlichen Substanz des Drohpotenzials des Unternehmens – wir haben nichts mehr zu verlieren. Also kämpfen wir!

Krisenwahrnehmung und politische Lernprozesse

Neben den Beispielen erfolgreichen Widerstands und erfahrener Handlungsmacht wird von den Befragten immer wieder auf die schwierigen Bedingungen verwiesen, die grundsätzlich politische Aktivitäten erschweren. Dazu gehören neben Existenzängsten und sich verschärfenden Arbeitsbedingungen die Spaltungstendenzen in den Belegschaften: zwischen Stamm- und Leiharbeitern, Produktionsarbeitern und Angestellten, verschiedenen Nationen und Kulturen u.a. Nicht zuletzt darin liegen auch Barrieren für kollektive Orientierungen und solidarische Handlungsmöglichkeiten. Dazu kommt der Leistungsdruck, der gerade in der Fertigung »sehr, sehr entsolidarisierend« wirkt. Räume für Kommunikation, Austausch, Verständigung als grundlegende Voraussetzung für Widerstandsformen sind auf kleine Sequenzen geschrumpft. Dies trifft auch die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Mobilisierung und Interessendurchsetzung. Während der grundsätzliche interessenpolitische Stellenwert der Gewerkschaften weitgehend unbestritten ist, wird ihre Rolle im Krisengeschehen nicht nur positiv gesehen. Der Gewerkschaft wird zwar ein – gemessen an den eng begrenzten Handlungsspielräumen – erfolgreiches Krisenmanagement attestiert, aber ihre Aufgabe als aufklärende, deutende Institution hat sie in den aktuellen Krisenmonaten nicht erfüllt. Sie hat zu wenig über die Krise aufgeklärt – zu wenig mit den Vertrauensleuten und Betriebsräten über die Situation diskutiert, war zu wenig in den Betrieben präsent, so die Kritik der Befragten. Es fehlt an eigensinniger Krisendeutung, die ein Gegengewicht sein könnte zu einer die Arbeitswelt meist aussparenden medialen Öffentlichkeit. In Krisensituationen werden Grundlagen von Gewerkschaftsarbeit schlechthin aktualisiert: Die Herausarbeitung der eigenen Sicht auf Wirtschaft und Gesellschaft, der Begründung eigener, distinkter Interessenlagen und damit in der Tat ein Wissen über ökonomische und gesellschaftliche Zusammenhänge, die im herrschenden Diskurs nicht geliefert werden. Neben mehr Aufklärung und Deutung sind »politischer werden und stärker mobilisieren« Anforderungen, die an die Adresse der Gewerkschaften formuliert werden: »[…] die Gewerkschaft muss politischer werden. Auf jeden Fall politischer und radikaler. Damit wir wieder mehr Gewicht haben und solchen Leuten wie Westerwelle und Merkel auch mal die Stirn bieten können.« Bei aller Kritik an den Gewerkschaften bleibt der Grundtenor solidarisch: »Die Gewerkschaften sind das Einzigste, was wir hier eigentlich noch haben. Weil mit was anderem können wir ja hier in unserem Staat gar nicht mehr rechnen. Politisch gesehen, unternehmerherrschaftlich gesehen, wir haben eigentlich nur noch die Gewerkschaften.« Staat und Politik kommen dagegen durchgängig schlecht weg. Auf sie verschiebt sich die »adressatenlose Wut«. Die Politiker sind korrupt und der Staat generell machtlos – so das etwas verkürzte Fazit. Zwar wird dann doch wieder auf den Staat gesetzt, z.B. wenn es um die Regulierung der Finanzmärkte geht, aber die Grundeinschätzung bleibt skeptisch bis resignativ. Auch für die Zukunft sieht man vor allem negative Entwicklungen: weiterer Abbau des Sozialstaats, weitere Krisenfolgen, die vor allem vom »Fußvolk« zu tragen sind. Die Politiker hätten sich von der Erfahrungswelt der Beschäftigten weitgehend abgekoppelt. »Die Politiker stellen sich nicht mit dem Gesicht zu den Leuten[…] Das ist alles so schon korrumpiert, das Geld hat schon so die Macht. […]Und solange sie das Geld haben, ändert sich da nichts. Ich sehe keine Änderungen.« Krisenbewusstsein und (politisches) Gesellschaftsbewusstsein liegen enger beieinander, als es vielleicht in früheren Zeiten der Fall war – aber in einer Weise, in der Politik nicht als möglicher Problemlöser erscheint, sondern vielmehr selbst als Teil des Problems. Das verstärkt Wut und Ohnmacht. »[…] die Leute haben ja immer Erwartungen an die Politik, aber da ändert sich nichts. Da ändert sich gar nichts.« Ob die vereinzelten Widerstandsaktionen, die Ohnmachts- und Systemerfahrungen, die artikulierte Wut und die Protestfantasien bereits als Anzeichen für einen neuen gesellschaftlichen Politisierungsschub zu deuten sind oder eher Ausdruck einer allgemeinen Hilf- und Orientierungslosigkeit sind, ist schwer zu entscheiden. Auf jeden Fall sind sie Anzeichen dafür, dass Wege in die Zukunft auch jenseits der pessimistischen Szenarien eines wachsenden Autoritarismus denkbar sind.

Fazit: politische und gewerkschaftliche Perspektiven

Welche Folgen wären aus unseren empirischen Befunden zu ziehen für politisches Handeln und für Gewerkschaften? Repolitisierung von Arbeit und Betrieb Wenn Arbeit und Betrieb die zentralen Orte der Entstehung von Krisen- und Ohnmachtserfahrungen sind, dann ist es nur folgerichtig, inhaltliche und interessenpolitische Auseinandersetzungen wie auch möglichen Widerstand und Protest wieder stärker auf diesen Ort zu fokussieren. Die »Leerstelle Betrieb« sowohl in der sozialwissenschaftlichen als auch in der politischen Diskussion ist zu schließen. Dies umfasst eine Auseinandersetzung mit den Folgen der »großen Krise« und mit den anhaltenden Prozessen und Konsequenzen »permanenter Krisenhaftigkeit« und anhaltender Reorganisation. Die bereits längerfristig angelegten Tendenzen zur Leistungsintensivierung, zur arbeitszeitlichen Ultra-Flexibilisierung sowie zur Prekarisierung der Beschäftigungsbedingungen haben durch die Krise einen neuen Schub erhalten (vgl. Menz u.a. 2011). Schließlich besteht das neue »Beschäftigungswunder« nach der Krise zu großen Teilen in einer Expansion von Leiharbeitsverhältnissen. Die Krisenerfahrungen haben gezeigt, dass die Grenze der Belastungsfähigkeit der Belegschaften mittlerweile überschritten ist. Neue Chancen auf eine entsprechende interessenspolitische Mobilisierung könnten gerade jetzt, nach dem Höhepunkt der Krise, entstehen, nämlich dann, wenn die krisenbedingte Konzessionsbereitschaft der Beschäftigten wieder sinkt. Kritischer Realismus An die neue Unmittelbarkeit der »Systemerfahrung« ist anzuknüpfen. Es kann nicht Ziel sein, den Beschäftigten abstrakt »Mut zu machen«, wo real kein Grund für Hoffnungen auf Erfolge besteht. Aber die krisenbedingte Tendenz zum interessenpolitischen Stillhalten darf auch nicht über die Krise hinaus verlängert werden. Vielmehr geht es darum, die Spielräume für Kritik, Protest und Widerstand realistisch auszuloten. Nur wenn die Einsicht darüber wächst, was tatsächlich veränderbar ist und was an die Grenzen des neoliberalen Kapitalismus und der nachfordistischen Produktionsweise stößt, können auch kritischrealistische Handlungsstrategien entwickelt werden, die schließlich doch die Grenzen dessen sprengen, was als das Machbare erscheint. Verbindung von Aufklärung und Selbstver­ständigung Unsere Befragung hat einen erheblichen Bedarf an Diskussion und Reflexion über Krisenursachen, über grundsätzliche ökonomische Zusammenhänge gezeigt. In den Worten eines Vertrauensmannes: »Viele Leute, die in der Gewerkschaft sind, von denen ich das gar nicht wusste, die kamen dann auf einmal und sagten: ›Du bist doch unser Vertrauensmann, erzähl mal! Was ist passiert? Warum bauen wir jetzt so wenig Getriebe? Was hat das mit uns zu tun, wenn die in Amerika ihre Häuser nicht mehr verkauft bekommen?‹ […] Und den Leuten hat einfach der Zusammenhang gefehlt.« Dieses Reflexionsinteresse kann nicht über eine »expertielle Aufklärung von oben« befriedigt werden, sondern muss die Wahrnehmungen und Deutungen der Beschäftigten selbst einbeziehen. Wie verbindet sich das eigene Erleben mit den großen Linien der kapitalistischen Entwicklung und Krisenhaftigkeit? Wie ist eigensinniges Handeln angesichts von verstärkten Systemzwängen möglich? Die Delegitimierung politischer Akteure und persönliche Ohnmachtserfahrungen machen die individuelle Auseinandersetzung mit Systemzwängen unausweichlich. Dies ist die Basis für die Entwicklung einer eigenen Interessensperspektive, die notwendigen Widerstand aus den eigenen Arbeits- und Reproduktionsinteressen begründet. Damit diese Auseinandersetzung produktiv wird, setzt sie die Verständigung mit anderen und kollektive Unterstützung voraus. Dies ist eine zentrale Herausforderung für die Gewerkschaften: die Unmittelbarkeit von Systemerfahrungen zu nutzen und mit der Aufklärung über Systemzusammenhänge zu verbinden. Abkehr von der Erfolgsrhetorik So erfolgreich die Krisenbewältigung in Deutschland im europäischen Vergleich in arbeitsmarktpolitischer Hinsicht war – letztlich betraf sie vor allem die Verteilung der Krisenfolgen und -lasten. Der Rückgang des Arbeitsvolumens konnte durch Kurzarbeit, vor allem aber durch betriebliche Arbeitszeitflexibilisierung breitflächig verteilt werden, sodass der Arbeitsplatzabbau in Grenzen gehalten wurde. An diesem erfolgreichen, aber grundsätzlich defensiven Charakter der Krisenbewältigung ändert auch die Aufwertung zentraler gewerkschaftlicher Akteure in der Krise nichts – und dies ist den Beschäftigten durchaus bewusst. Die Strukturen, die in die Krise geführt haben, sind weitgehend geblieben. Die Gewerkschaften sollten überdenken, ob die eigene Politik als Aneinanderreihung von Erfolgen zu präsentieren ist. Dass die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen sich seit Jahren in Abwehrkämpfen gegen die immer neuen Zumutungen im Gefolge permanenter (wie auch akuter) Krisenhaftigkeit befinden, ist offensichtlich – und mindert keineswegs die Akzeptanz und Unterstützung der Gewerkschaften, wie die jüngsten Zahlen zur Mitgliederentwicklung deutlich machen. Verbindungen herstellen So wichtig es ist, Arbeit und Betrieb als Ort für Reflexion und Veränderung wiederzuentdecken, so wichtig ist es auch, zugleich die Verbindungslinien zu weiteren gesellschaftlichen Konfliktfeldern und Auseinandersetzungen wiederaufzunehmen bzw. überhaupt erst herzustellen. Die Forderungen der Basis nach einem stärkeren politischen Engagement der Gewerkschaften beinhalten den Wunsch nach Beteiligung und die Hoffnung auf Mobilisierung – wie wir ihn auch anderswo beobachten können. Ohnmachtserfahrungen sind nicht nur in den Betrieben prägend, sondern waren auch dort der Ausgangspunkt, wo wir ein deutliches Anschwellen der Protestbewegungen erleben, etwa in der Atompolitik oder im Fall von Stuttgart 21. Die Reflexion der Ohnmachtserfahrungen ist der erste Schritt, sich mit ihren Ursachen auseinanderzusetzen und politisch handlungsfähig zu werden.  

Literatur

Bertelsmann Stiftung/Institut für Demoskopie Allensbach 2010a: Einstellungen zur sozialen Marktwirtschaft in Deutschland am Jahresanfang 2010. Erkenntnisse aus repräsentativen Trendfortschreibungen. Gütersloh Bertelsmann, 2010b: »Bürger wollen kein Wachstum um jeden Preis«, Gütersloh Detje, Richard, Wolfgang Menz, Sarah Nies und Dieter Sauer, 2011: Krise ohne Konflikt? Interessen und Handlungsorientierungen in der Krise – die Sicht von Betroffenen, Hamburg Dörre, Klaus, Anja Hähnel, Hajo Holst und Ingo Matuschek, 2010: Guter Betrieb, schlechte Gesellschaft? Arbeits- und Gesellschaftsbewusstsein im Prozess kapitalistischer Landnahme, Manuskript, Jena Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), 2010a: Deutsche Zustände. Folge 8. Frankfurt/M Ders., 2010b: Deutsche Zustände. Folge 9. Frankfurt/M Köcher, Renate, 2009: Der Statusfatalismus der Unterschicht, in: FAZ vom 16.12. Menz, Wolfgang, u.a., 2011: Zeit- und Leistungspolitik in und nach der Wirtschaftskrise – die Perspektive der Betroffenen, in: Lothar Schröder, Hans-Jürgen Urban (Hg.), Gute Arbeit. Folgen der Krise, Arbeitsintensivierung, Restrukturierung, Köln, 99–113 Offe, Claus, 2010: »Keine Aussicht auf eine Repolitisierung in Zeiten der Krise«, Claus Offe im Gespräch mit Gunter Hofmann und Wilhelm Heitmeyer, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 8. Berlin, 283–95 Peters, Klaus, 2001: Statt eines Nachworts. In: Wilfried Glißmann und Klaus Peters, Mehr Druck durch mehr Freiheit. Die neue Autonomie in der Arbeit und ihre paradoxen Folgen. Hamburg, 143–185

Anmerkungen

1 Wir haben im Frühjahr 2010 qualitative Erhebungen in zwei gewerkschaftlichen Bildungsstätten durchgeführt, dabei fünf Gruppendiskussionen (mit insgesamt 32 TeilnehmerInnen) sowie 20 leitfadengestützte Einzelinterviews mit gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und Betriebsräten aus insgesamt 16 unterschiedlichen Betrieben der Metall- und Elektroindustrie geführt. Befragt haben wir die unterste Ebene der betrieblichen Interessenvertretung, die belegschafts- und basisnah ist und zwischen Beschäftigtenperspektive einerseits und Expertenperspektive andererseits vermittelt. Das Sample ist selbstverständlich nicht repräsentativ. Befragte aus typischen gewerkschaftlichen Kernsektoren (Betriebe mit hohem Organisationsgrad, in der Automobilindustrie Betriebe mit funktionierender Vertrauensleutearbeit) sind stärker vertreten, ebenso Männer sowie gewerblich Beschäftigte. Die nachfolgenden kursiv gesetzten Zitate stammen aus den Interviews und Gruppendiskussionen (vgl. Detje u.a. 2011). Die Studie wurde dankenswerterweise von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Wolfgang-Abendroth-Stiftungs-Gesellschaft gefördert.