Hätte jemand prophezeit, dass aus einer auch 2013 zwar beeindruckenden, aber eher am linken Rand der Gewerkschaften platzierte Konferenz eine Veranstaltung von 3 000 Menschen wird, die sich mit „Gegenmacht im Gegenwind“ beschäftigen, hätte ich das nicht geglaubt. [1] In Stuttgart waren auf Initiative von Bernd Riexinger und der Rosa-Luxemburg-Stiftung seinerzeit vor allem linksoppositionelle Gewerkschaftsaktive versammelt. Das war durchaus von Vorteil, denn was gesagt und diskutiert wurde, sollte provozieren – in Richtung des DGB und seiner Mitgliedsorganisationen, aber auch einer Wissenschaft, die sich mit ihrer Abkehr von Klassen und Gewerkschaften zugleich ihres Referenzrahmes für lebendige Sozialkritik entledigt hatte. Gewerkschaftsaktive, die sich überwiegend mit Standortkonkurrenzen, Rückzugsgefechten, betrieblichen Deals und Krisenmanagement befassten, trafen auf eine Wissenschaft, die ihnen bescheinigte, dass Anpassung an Standortwettbewerbe in Zeiten der Globalisierung alternativlos sei. Die neuen Arbeitsbeziehungen der Globalisierungsära schienen aus der Perspektive des wissenschaftlichen Mainstreams die alten zu bleiben – nur eben mit geschwächten, nahezu einflusslosen Gewerkschaften. Letztere hätten, weil zahnlos und wenig konfliktfähig, ihr Hauptaugenmerk auf pragmatische Kooperation im Betrieb und, so noch möglich, auf Elitendeals im politischen Tauschgeschäft zu richten, so lautete meine Bilanz der damaligen Arbeitsbeziehungsforschung, der ich eine polemische Bemerkung hinzufügte (Dörre 2023): Wenn Wissenschaft und Praxis sich nicht mehr aneinander reiben, entsteht vor allem eines – Langweile! 

Klassenkampf statt Langeweile

Konzeptuelle Eintönigkeit und Vorhersehbarkeit waren sicherlich Gründe, weshalb Gewerkschaftsforschung im deutschen Sprachraum lange auf ein Abstellgleis geraten war. Das hat sich mittlerweile geändert – zum Guten wie zum Schlechten. Verändert hat sich vor allem die gewerkschaftliche Praxis. Diesbezüglich lautet die schlechte Nachricht, dass sich die Entkollektivierung der betrieblichen Arbeitswelt in Deutschland und EU-Europa wenn auch nicht geradlinig, so doch in klarer Tendenz fortgesetzt hat. In Deutschland waren 2021 nur noch 17 Prozent der berufsaktiven lohnabhängigen Erwerbstätigen Gewerkschaftsmitglieder (GESIS 2020). Doch es gibt auch eine gute Nachricht. 2023 haben die Mitgliedsorganisationen des DGB zum ersten Mal seit 2001 wieder einen absoluten Mitgliederzuwachs (+ 21.909) verzeichnet. Hauptgrund waren Eintritte im Zuge von Arbeitskämpfen (Greef 2024). Schaut man genauer hin, so lässt sich feststellen, dass viele Methoden und Taktiken, die wir im Rahmen unseres Jenaer Machtressourcenansatzes als Ansatzpunkte gewerkschaftlicher Erneuerung identifiziert hatten (Brinkmann u.a. 2008), mittlerweile relativ selbstverständlich zum Einsatz kommen. Das gilt insbesondere für verschiedene Varianten des Organizing, der gezielten Werbung von Mitgliedern, die häufig in Zusammenhang mit Arbeitskonflikten und Streiks zum Einsatz kommen.

Was die konventionelle Gewerkschaftsforschung wegen bestehender Pfadabhängigkeiten in den organisierten Arbeitsbeziehungen für aussichtlos erklärte (exemplarisch Frege 2000), hat dennoch stattgefunden. Auch die deutschen Gewerkschaften haben ansatzweise Praktiken eines Social Movement Unionism (Dörre 2020) erprobt, dessen Ursprünge eigentlich im globalen Süden und in Nordamerika zu verorten sind. Solche Praktiken sind inzwischen wieder Gegenstand einer durchaus vitalen und zudem kritischen Gewerkschaftsforschung, die vor allem von jungen Leuten betrieben wird. Ein markantes Beispiel bietet die Krankenhausbewegung in Nordrhein-Westfalen, die in einem mehrwöchigen Erzwingungsstreik einen Entlastungstarifvertrag durchsetzen konnte. Eine Projektgruppe Jenaer Studierender hat diesen Fall als Beispiel für eine Erneuerung emanzipatorischer Politik von unten untersucht. Von der Projektgruppe befragte Gewerkschaftsaktive weisen übereinstimmend darauf hin, dass auf Selbstverantwortung beruhende Organizing-Methoden sehr effektiv gewesen seien, um Neuzugänge auch über den Streik hinaus zu gewinnen.[2] Noch wichtiger als Mitgliederzahlen seien indes Erfahrungen, die Konfliktbereitschaft stärkten und in gewisser Weise zur Wiederaneignung gewerkschaftlicher Strukturen durch engagierte Mitglieder führten: die Demokratisierung von Streiks (Riexinger 2013). Die Projektgruppe zitiert eine Intensivpflegerin mit folgenden Sätzen:

„Ich glaube, dass Gewerkschaften klarwerden muss, dass demokratische Bewegungen in Arbeitskämpfen essenziell sind und dass es das sein wird, was die Gewerkschaften am Leben hält. [...] Gewerkschaften funktionieren nicht mit Funktionären und mit Leuten in irgendwelchen Ämtern, sondern weil ehrenamtliche Kolleg*innen sich für etwas einsetzen, weil Mitglieder auf die Straße gehen und sich wehren. Und das funktioniert nicht in irgendeinem Hinterzimmer mit verschlossener Tür [...]. Ich glaube, gerade Kämpfe wie die Berliner Krankenhausbewegung und die NRW-Krankenhausbewegung gezeigt haben, dass es vor allem wichtig ist, dass Kolleg*innen sich einbringen und an denen dann auch kein Weg mehr […] vorbeiführt.“ (Bader u.a. 2025, 77)

Beteiligte Gewerkschaftssekretär*innen konstatieren, dass sich ver.di im Rahmen des TV-E in NRW „sehr offen bewegt“ und sich relativ weit von konventionellen Arbeitskämpfen entfernt habe. Zugleich weisen sie aber auch auf institutionelle Machtressourcen der Gewerkschaften und die Vorzüge der Routineorganisation hin, die für gelingende Streiks nach wie vor unentbehrlich sei (ebd.).

»Gegenwärtig erleben wir eine Zeitwende in den organisierten Arbeitsbeziehungen.«

Trotz solch positiver Beispiele bieten die organisierten Arbeitsbeziehungen insgesamt ein widersprüchliches Bild: Einerseits zeugen Arbeitskonflikte und Organizing-Methoden von der Lernfähigkeit Gewerkschaftsaktiver, anderseits konnten selbst die ungewöhnlich heftigen Arbeitskämpfe der Jahre 2023 und 2024 nicht verhindern, dass vor allem die untere Hälfte der Lohnabhängigen erhebliche Wohlstandsverluste hinnehmen musste. Konflikt- und Ohnmachtserfahrungen liegen daher dicht beieinander, und es darf nicht übersehen werden, dass ein gesellschaftlicher Rechtsruck, der auch in Büros und Betrieben spürbar wird, mitunter selbst kämpferische Persönlichkeiten resignieren lässt.

Machtressourcen und politisches Mandat

Was bedeutet es unter diesen Bedingungen, das politische Mandat der Gewerkschaften wahrzunehmen? Im Jenaer Machtressourcenansatz (vgl. Dörre 2017) ist dieser Begriff lange randständig geblieben.[3] Das auch, weil Loharbeitsmacht, die sich u.a. in Organisations- und Konfliktbereitschaft, in institutionalisierten Rechten oder in Diskurs- und Bündnisfähigkeit ausdrückt, ein politisches Mandat zumindest implizit voraussetzt. In Zeiten des Umbruchs ist es jedoch sinnvoll, sich des Begriffs neu zu vergewissern. Wenn von einem politischen Mandat der Gewerkschaften gesprochen wird, geht es keineswegs um vordergründige Parteipolitik. Den strategischen Bruch zwischen Gewerkschaften und einer Sozialdemokratie vor Augen, die größere ökonomische Wettbewerbsfähigkeit mittels Druck auf die verwundbarsten Gruppen der Gesellschaft erreichen wollte, hat Frank Deppe das politische Mandat Anfang der 2000er Jahre wie folgt begründet: 

„Der Zerfall von Gesellschaft – als Folge sowohl der ökonomischen Krisenprozesse, der Beschäftigungskrise als auch der neoliberalen Politik – schwächt die Gewerkschaften in ihrer Substanz; denn die damit verbundenen Formen gesellschaftlicher Fragmentierung und (subjektiver) Entsolidarisierung sind mit den traditionellen Instrumenten gewerkschaftlicher Politik […] kaum zu verändern. In dem Maße, wie die Zahl derer zunimmt, die gleichsam dauerhaft aus den ‚Normalarbeitsverhältnissen‘ ausgegrenzt werden (Dauerarbeitslosigkeit, Prekarität, Exklusion), wird zugleich der klassische Anspruch der Gewerkschaften entwertet, dass sie das Gesamtinteresse der Arbeitnehmerschaft repräsentieren bzw. dass sie das Gesamtinteresse der Klasse im Bereich der Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft artikulieren. Der herrschenden Ideologie gelingt es oftmals, die Gewerkschaften als konservative Bewahrer relativ privilegierter Teile der Arbeitnehmerschaft darzustellen und zu diskreditieren (‚Arbeiteraristokratien‘), z.B. die Automobilarbeiter bei Daimler oder bei VW, die immer noch übertariflich bezahlt werden. Wie die Zünfte im Spätmittelalter würden die Gewerkschaften so immer mehr zu konservativen ‚Besitzstandswahrern‘ degenerieren – wobei ihre Bereitschaft zunimmt, mit den Mächtigen zu paktieren, um Bestandsgarantien für ihre schrumpfende Klientel zu erreichen.“ (Deppe 2005, 19)

»Die alte Formel, der zufolge sozialer Friede als wirtschaftliche Produktivkraft wirkt, ist außer Kraft gesetzt.«

Das klingt, als sei es für die Gegenwart formuliert. Beim politischen Mandat geht es um den Anspruch der Gewerkschaften, allgemeine Interessen der von Löhnen abhängigen Klassen zu vertreten. Dies schließt ein, dass die Inhalte und Interessen, die mit Hilfe eines politischen Mandats artikuliert werden sollen, sich mit dem Wandel von Sozialstruktur, Klassenverhältnissen und Gesellschaft beständig verändern. Diesbezüglich gilt: Je geringer gewerkschaftliche Organisationsgrade und Konfliktfähigkeit sind, desto ausgeprägter ist die Tendenz von Kapitalverbänden und verbündeten staatlichen Eliten, diesen Anspruch in Abrede zu stellen. Das ist das Muster eines ideologischen Klassenkampfs von oben, der alles andere als neu ist. In der Gegenwart haben Versuche, Gewerkschaftsmacht als überflüssiges Relikt eines längst vergangenen Industriezeitalters zu brandmarken, indes eine neue Qualität erlangt. Das ist im VW-Tarifkonflikt exemplarisch deutlich geworden. „Mitten in der schwersten Krise von VW fordern die Gewerkschaften kräftige Lohnsteigerungen. Das grenzt an Realitätsverweigerung von privilegierten Industriebeschäftigten“, wetterte die liberale Zeit gegen die „abgehobene Arbeiterelite“ des Volkswagenkonzerns (Fend 2024).

Entsprechende Vorwürfe blenden den Preis aus, den viele VW-Beschäftigte in Gestalt von hoher Flexibilität, ständigem Druck zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und Verlust an Zeitsouveränität für vergleichsweise hohe Löhne und einigermaßen sichere Arbeitsplätze seit vielen Jahren zahlen. „Zwölf Tage am Stück zu arbeiten, in drei Schichten zu arbeiten, auch Feiertage zu arbeiten“, wirke sich „negativ auf das Privatleben, auf die Familie aus“. Der vergleichsweise gute Verdienst sei „Schmerzensgeld“ für verlorene Lebenszeit, bringt ein befragter Teamsprecher die Stimmung am „Hallenboden“ des VW-Werks Kassel-Baunatal treffend auf den Punkt (Dörre u.a. 2025, 143). Dass der Konzernvorstand eine langfristige Beschäftigungsgarantie, die als Gegengabe für drastisch erhöhte Flexibilität und Produktivität ausgehandelt wurde, einseitig aufgekündigt hat, wird seitens der VW-Belegschaften zurecht als Tabubruch betrachtet. Von einem Transformationskorporatismus, der den Beschäftigten Sicherheit für ihre Mitwirkung an der Antriebswende bot, kann selbst im Volkswagen-Konzern nicht mehr ernsthaft die Rede sein. Zwar sind Werkschließungen vorläufig vom Tisch; wie unsere Erhebungen belegen, haben die Betriebsräte dennoch Mühe, die tarifliche Einigung in Betriebsversammlungen zu erklären. Informell räumen befragte Gewerkschaftssekretäre ein, dass die Unzufriedenheit in den Belegschaften des Konzerns groß sei, es gebe Unverständnis und auch Gewerkschaftsaustritte. 

Wenn jedoch in einem Unternehmen, das beispielhaft für einen funktionierenden Sozialkapitalismus stand, gültige Verträge gebrochen werden, stellt das eine arbeitspolitische Zäsur dar. Die alte Formel, der zufolge sozialer Friede als wirtschaftliche Produktivkraft wirkt, ist außer Kraft gesetzt. Diese Feststellung führt zu meiner ersten These: Gegenwärtig erleben wir eine Zeitwende in den organisierten Arbeitsbeziehungen.

Das politische Mandat der Gewerkschaften wahrnehmen heißt heute, sich einem „autoritären Liberalismus“[4] zu widersetzen, der ökonomisch Stagnation, ökologisch eine Rolle rückwärts und politisch einen Generalangriff auf Gewerkschaften, Mitbestimmung und die demokratische Zivilgesellschaft insgesamt bedeutet. In künftigen Auseinandersetzungen wird es deshalb auch darum gehen, Gewerkschaften als handlungs- und konfliktfähige Akteure überhaupt zu erhalten und längerfristig wieder zu stärken. Gelingt das nicht, wird die einst mächtige Gewerkschaftsbewegung tatsächlich auf den Status eines willigen Krisenmanagers zurechtgestutzt, der den Anspruch, allgemeine Lohnabhängigen-Interessen zu vertreten, endgültig aufgegeben hat.    

Die inszenierte Krise

Die Schwäche der Gewerkschaften sei weniger aggressiver Kapitalmacht als strukturellen Krisenphänomenen geschuldet, könnte ein Einwand lauten. Und tatsächlich: Die EU-Staaten sehen sich mit einer rapiden Deindustrialisierung konfrontiert. Die Wirtschaft des einstigen Exportweltmeisters Deutschland ist besonders hart getroffen. Im März 2025 verzeichnete das verarbeitende Gewerbe bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen ein Minus von 12 000 gegenüber dem Vorjahr; die Metall-, Elektro- und Stahlindustrie hat 93 000 Beschäftigungsverhältnisse verloren. Tatsächlich ist der Arbeitsplatzabbau nicht nur bei den Endherstellern, sondern auch in der Zulieferindustrie in vollem Gange. Unternehmen wie Ford, Stellantis (Opel), Bosch, ZF, Tesla und Michelin haben den Abbau zehntausender Stellen oder, wie im Fall von Ford Saarlouis, sogar Werksschließungen fest eingeplant. Bei kleinen und mittelständischen Zulieferbetrieben nehmen Insolvenzen zu; wichtige Betriebe mussten ihre Tore bereits schließen. Zugleich macht das rabiate Vorgehen des VW-Vorstandes offenbar Schule. So hat die Deutsche Post/DHL nach erfolgtem Tarifabschluss eine Streichung von 8 000 Stellen verkündet; verminderte Dienstleistungsqualität und erhöhter Stress sind die Folge. Industrieunternehmen wie Thyssenkrupp, Porsche und ZF wollen weitere „Sparpakete“ durchsetzen, ohne den Beschäftigten im Gegenzug mehr Sicherheit zu bieten.

»Wahrnehmung des politischen Mandats bedeutet, dem rebellischen Autoritarismus der radikalen Rechten eine emanzipatorische Rebellion konfliktbereiter Gewerkschafter*innen entgegenzusetzen, die Transformation mit Emanzipation verbindet«

Trotz eines gemeinsamen Brandbriefs, in welchem wichtige Zulieferunternehmen gemeinsam mit der IG Metall an den damaligen Bundeskanzler Scholz appellierten, und einer unter der Regierung Merz angekündigten Investitionsoffensive bleibt unklar, welche Unternehmensstrategien aus der Krise führen sollen. Nehmen wir als Beispiel noch einmal die Auto- und Zulieferindustrie. Zwar hält ein Teil der Endhersteller, darunter auch VW, an der Umstellung auf Elektromobilität – ein Kernprojekt des europäischen Green Deal – fest, allerdings soll das Tempo des Umbaus erheblich gedrosselt werden. Aus Unternehmensvorständen und Industrieverbänden werden aber auch Signale gesendet, die darauf hinauslaufen, die Verkehrs- und Energiewende auf die lange Bank zu schieben. Das Liebäugeln mit einer Rolle rückwärts bei der E-Mobilität verstärkt die Zweifel an der Verbindlichkeit ökologischer Nachhaltigkeits- und Klimaziele. Im trauten Einklang verlangen deutsche Christdemokraten, Liberale und radikale Rechte eine Revision des Verbots für die Neuzulassung verbrennungsmotorischer PKW, das ab 2035 gelten soll. Forderungen nach Technologieoffenheit und die – mittlerweile erfolgte – Aussetzung von Strafen bei zu hohen Emissionen der Fahrzeugflotten deuten an, dass Klimaschutz auf den politischen Agenden immer weiter nach hinten rutscht. Statt den sozialökologischen Umbau zu beschleunigen, sollen Ziele und Regeln geändert werden. Das Transformationsspiel wird auf das Terrain der Wettbewerbsfähigkeit verlagert. „Schlimmer als ein Kipppunkt des Klimas ist der Kipppunkt deutscher Wettbewerbsfähigkeit“, deutet die FAZ die Richtung des erwünschten Politikwechsels an (von Altenbockum 2025). 

Solche Verlautbarungen führen zu dem, was an der gegenwärtigen Krise politisch inszeniert ist. In der Gegenwart, so die zweite These, erleben wir die Wiederkehr eines „autoritären Liberalismus“ in neuem Gewand, der auf die konfliktreiche sozialökologische und digitale Transformation reagiert, indem er die Wirtschaft von bürokratischen Fesseln, sprich: von lästigen Regulierungen, störender Mitbestimmung und aufmüpfigen Gewerkschaften befreien und die Gestaltung der Arbeitswelt in erster Linie den Marktkräften und dem technischen Fortschritt überlassen will. Mit ihrem lautstarken Eintreten für die Stärkung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit ignorieren große Teile der kapitalistischen Eliten inzwischen bewusst, was Langzeitstudien zum Verhältnis von Produktivitätswachstum und Lohnentwicklung zutage fördern.

Betrachtet man den Zeitraum zwischen 1980 und 2020, so zeigt sich in den alten kapitalistischen Zentren eine allmähliche Entkoppelung von Entlohnung und Produktivität. In großen Ländern der EU, Großbritannien und den USA haben die Mittelklassen durchweg höhere Einkommenszuwächse erzielt als die Arbeiterklassen. Das verfügbare Realeinkommen der Arbeiterhaushalte in Frankreich, Deutschland oder den USA stieg durchschnittlich um weniger als ein halbes Prozent pro Jahr, während es in den Mittelklassen um ein Prozent oder mehr zunahm. Die Aussicht, es besser zu haben als die Eltern, hat für Kinder aus den Mittelklassen (noch) Bestand, für den Nachwuchs der Arbeiterklassen ist dieses Versprechen seit längerem außer Kraft gesetzt (Moawad/Oesch 2024).[5] Zwar sind die Unterschiede zwischen den Ländern erheblich; bei den verfügbaren Einkommen schnitten Arbeiterhaushalte nach 1998 im Vereinigten Königreich mit jährlichen Zuwächsen von einem halben bis zu einem Prozent und in Spanien mit über einem Prozent vergleichsweise gut ab; in Polen verzeichnete die Arbeiterklasse während der ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts gar jährliche Zuwächse von vier bis fünf Prozent. Doch die Arbeiterklassen Frankreichs, Deutschlands und der USA konnten nur minimale Zuwächse von durchschnittlich weniger als einem halben Prozent pro Jahr generieren. Besonders düster ist die Lage jüngerer Arbeiterkohorten in Deutschland, die schon vor der Pandemie einen deutlichen Rückgang ihres Lebensstandards hinnehmen mussten (ebd.).

Der Würgehalsband-Effekt 

Krieg und Inflation haben diese Entwicklung weiter verstärkt. Selbst in Schlüsselbranchen wie der Autoindustrie wächst die Gefahr, dass die Beschäftigten dauerhafte Wohlfahrtsverluste hinnehmen müssen. Trotz sinkender Langzeitarbeitslosigkeit verfügten im Jahr 2023 ca. 12 Millionen Menschen über weniger als 60 Prozent des mittleren Äquivalenzeinkommens. Der Bevölkerungsanteil, der von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen ist, lag bei 6,9 Prozent der unter 65jährigen. 6,2 Millionen Menschen waren nicht in der Lage, Mieten, Hypotheken, eine einwöchige Urlaubsreise oder einen Restaurantbesuch mit der Familie zu finanzieren (Destatis 2024).

Die Kehrseite dieser Entwicklung sind hohe Gewinne, wie sie beispielsweise die in der Bundesrepublik ansässigen Endhersteller in der kriselnden Auto- und Zulieferindustrie bis in die jüngere Vergangenheit einfahren konnten. So war Mercedes-Benz beim operativen Gewinn mit rund 5,2 Milliarden Euro noch 2022 weltweit Spitzenreiter, gefolgt von VW mit 4,3 Milliarden Euro; BMW rangierte mit 3,7 Milliarden Euro auf Rang fünf (Ernst & Young 2023). Aufgrund von ungünstigen Währungsparitäten (schwacher Yen) verzeichneten die deutschen Hersteller 2023 zwar „nur“ noch ein Gewinnwachstum von insgesamt sieben Prozent. Dennoch konnte Mercedes-Benz seine Spitzenposition mit einer Marge von 12,8 Prozent behaupten und führte damit das Ranking der profitabelsten Endhersteller vor Stellantis (12,1 Prozent) und BMW (11,9 Prozent) an. Die Gewinnmarge von Tesla sank hingegen von 16,8 auf 9,2 Prozent (Ernst & Young 2024).

Dass die Zeiten solcher Extragewinne erst einmal vorbei sind, hängt wesentlich mit jenem „Würgehalsband-Effekt“ zusammen, den der Ökonom James Galbraith treffend analysiert hat (Galbraith/Dörre 2018). Industriemodelle, die hochgradig von fossilen Energieträgern, Rohstoffen und Naturressourcen abhängen, welche sich nur langsam amortisieren, funktionieren nur, sofern sie sich in einem stabilen Umfeld entwickeln können. In einer unsicheren, von Kriegen, Pandemien, gestörten Lieferketten, Rezession und Stagnation geprägten Weltwirtschaft verkürzt sich der Zeithorizont für Gewinne und Investitionen radikal. Weil die Gewinne schrumpfen, nehmen Verteilungskonflikte zwischen Beschäftigten, Management, Eigentümern und Steuerbehörden an Intensität zu. Das Vertrauen in eine positive Entwicklung geht verloren, große Projekte werden auf die lange Bank geschoben. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine, dem anhaltenden Krieg und den gestiegenen Energiepreisen hat sich die Abhängigkeit von billigem russischem Öl und Erdgas, wie ein „Würgehalsband“ um den Hals der deutschen und europäischen Industrie gelegt und zusammengezogen. Auch wenn dieser Effekt nach Branchen und Unternehmen kräftig streut, ist er doch ein Hauptgrund für die nachlassende Bereitschaft führender Unternehmen, in den sozial-ökologischen Umbau zu investieren. Um seine Klimaziele zu erreichen, müsste die bundesdeutsche Wirtschaft die Emissionsreduktion während der kommenden Jahre mindestens um das eineinhalbfache steigern. Den Investitionsbedarf für einen wirksamen Klimaschutz beziffert der Think Tank Agora Energiewende bei etwa elf Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP); 80 Prozent dieser Investitionen fallen ohnehin an und müssen von der Privatwirtschaft erbracht werden. Für den Staat verbleiben dann aber noch immer Investitionen in einer Größenordnung von ungefähr 3,5 Prozent des BIP – ein Bedarf, der in etwa dem entspricht, was laut EU-Beschluss künftig für das Erreichen von „Kriegstüchtigkeit“, militärische Infrastruktur ausgeklammert, aufgewendet werden soll (Agora Energiewende 2024).

Um Investitionen in Zukunftsfelder zu lenken, wäre es selbst aus der Perspektive eines ideellen Gesamtkapitalisten betrachtet prioritäre staatliche Aufgabe, aktiv an der Bildung „grüner“ Zukunftsmärkte und -industrien mitzuwirken. Dazu würde gehören, etwa der Elektromobilität oder dem Aufbau einer grünen Wasserstoffwirtschaft durch jenes Tal des Todes zu helfen, das Zukunftstechnologien und deren Produkte bei der Markteinführung immer durchschreiten müssen. Von einer solch langfristig ausgerichteten Politik kann gegenwärtig weder in Deutschland noch in EU-Europa ernsthaft die Rede sein, anders als in China (Köncke 2025). Eine „blockierte Transformation“ (Candeias 2024). Die akute Selbstblockade der dominanten kapitalistischen Akteure offenbart eine Grundproblematik, die allen Spielarten eines grünen Kapitalismus innewohnt. Werden Marktmechanismen zu sehr betont, geht das zulasten sozialer Gerechtigkeit und erzeugt deshalb Widerstände gegen den ökologischen Umbau. Setzt man hingegen auf einen Staat, der gezielt in die Wirtschaft interveniert, um Zukunftsmärkte zu schaffen, drohen Fehlallokationen und Widerstände von Unternehmensseite. Deshalb pendelt der Transformationsstaat der Gegenwart beständig zwischen Marktanforderungen und der Notwendigkeit einer planvollen Steuerung von Investitionen hin und her. Sein Kernproblem ist die Lenkung überschüssiger Vermögen in Zukunftsfelder – ein Drahtseilakt, der beständig Gefahr läuft, an trägen Bürokratien und ungünstigen politischen Konjunkturen zu scheitern.

Autoritäre Offensive

Weil grünes Wachstum ausbleibt und soziale Unsicherheit zunimmt, greifen Strategien, die, so These drei, in ihren radikalsten Ausprägungen für einen autoritär-fossilistischen backlash stehen, der mit den Zweifeln an der Notwendigkeit eines sozial-ökologischen Umbaus zugleich den wirtschaftlichen Nutzen organisierter Arbeitsbeziehungen aggressiv in Frage stellt. Die autoritäre Offensive richtet sich gegen Gewerkschaften, die angeblich für Unregierbarkeit der Unternehmen gesorgt haben. Wie schon in den 1970er Jahren bedient sie sich einer „ganzen Palette an Taktiken zur ‚Entsyndikalisierung‘“ (Chamayou 2019, 47). Die Gewerkschaften sollen nicht völlig verdrängt, aber soweit geschwächt werden, dass sie allgemeine Interessen von Lohnabhängigen nicht mehr glaubhaft vertreten können. Der große politische Einfluss, über den die radikale Rechte vor allem innerhalb der Industriearbeiterschaft verfügt, forcierte diese Tendenz und setzt demokratische Betriebsräte wie auch die Gewerkschaften in gewisser Weise unter Anpassungsdruck. 

„Ich bin jetzt kein Anhänger der AfD, ich habe sie nie gewählt. Aber wenn man doch sieht, dass sie teilweise 15 Prozent bekommen, alle anderen Parteien sich aber zusammenschließen, um irgendwie regierungsfähig zu sein, Hauptsache die nicht, ist das nicht der Wille der Wähler“, argumentierte ein befragter VW-Arbeiter in Baunatal schon vor den Landtags- und Bundestagswahlen der Folgejahre. Stimmen, die sich für eine Gleichbehandlung der AfD mit anderen Parteien aussprechen, klagen zugleich die parteipolitische Neutralität der Gewerkschaften ein: 

„Ich habe das in der Vergangenheit mal mitbekommen, dass sogar die Gewerkschaften gewisse Leute nicht in Positionen gesetzt haben, weil sie meinetwegen der AfD nahestehen. Das ist meines Erachtens gesetzwidrig. Ehrlich gesagt, die AfD ist auch eine demokratisch gewählte Partei. Aber es ist in der Politik so, dass man als der Gute angesehen wird, wenn man auf der linken Seite steht und der Böse ist, wenn man auf der rechten Seite steht. Das überträgt sich auch ein bisschen auf die Gewerkschaften. Die müssen neutral sein, aber sind sie nicht.“ (Opel-Arbeiter Fertigmontage)

Im Werk mit der Gewerkschaft, jenseits der Arbeit und im politischen Raum, so nötig, auch mit der AfD, lautet der Subtext solcher Äußerungen. Diese Sichtweise beinhaltet, die AfD als eine Partei wie jede andere zu behandeln. Undemokratisch verhalten sich demnach diejenigen, die diese Partei ausgrenzen. Von der Gewerkschaft möchte man sich nicht vorschreiben lassen, wie man politisch denkt und handelt. Was im Einflussbereich von Betriebsräten und Gewerkschaften noch relativ verhalten formuliert wird, bricht sich offen Bahn, wenn es um Verteilungskonflikte geht, in denen über die Kosten der Krise entschieden wird. Die gesamte politische Klasse scheint von den Problemen „normaler“ Alltagsmenschen weit entfernt. Gesetzesvorhaben wie das zur Gebäude- und Heizungssanierung gelten schlicht als wirklichkeitsfremd. Und Gewerkschaften, die sich für die Pariser Klimaziele stark machen, hält man vor, sich mit einer „E-Auto-Planwirtschaft“ zu arrangieren, die „unser Land“ ruiniere und „nichts Anderes als ein monströses Deindustrialisierungsprogramm“ sei (AfD 2023). Wegen des überflüssigen Klimaschutzes fehle es an Geld, um die „Folgen der ungeregelten Migration in die Sozialsysteme und die Kriminalstatistik“ zu bewältigen (AfD 2024).

Emanzipation durch Transformation – eine Perspektive

In einer politischen Gemengelage, in der ein gesellschaftlicher und politischer Rechtsruck in Betriebe und Büros hineinzuwirken beginnt, muss neu überlegt werden, was die Wahrnehmung eines politischen Mandats durch die Gewerkschaften in der Gegenwart bedeuten kann. Grundsätzlich gilt noch immer, was bereits bei der ersten Streikkonferenz in Stuttgart richtig war: Auch und gerade in schwierigen Situationen haben Gewerkschaften grundsätzlich die Möglichkeit einer strategischen Wahl. Sie können sich in reale oder vermeintliche Sachzwänge fügen oder aktiv daran arbeiten, Handlungskorridore auszuweiten, indem sie ihre Machtressourcen optimal einsetzen und ihr politisches Mandat offensiv wahrnehmen. Allerdings müssen strategic choice und politisches Mandat für die Gegenwart neu begründet werden. Diese Feststellung bringt mich zur vierten und letzten These: Wahrnehmung des politischen Mandats bedeutet in Gegenwart und Zukunft, dem rebellischen Autoritarismus der radikalen Rechten eine emanzipatorische Rebellion konfliktbereiter Gewerkschafter*innen entgegenzusetzen, die Transformation mit Emanzipation verbindet. Dafür sprechen mehrere Argumente.

Eine erste Begründung ergibt sich aus dem Funktionswandel von Arbeitskämpfen und gewerkschaftlicher Interessenpolitik, der sich seit längerer Zeit beobachten lässt. Streiks und Arbeitskonflikte werden mehr und mehr zu einer Mobilisierungsform, die eingesetzt wird, um die gewerkschaftliche Organisationsmacht zu vergrößern und so überhaupt erst Bedingungen für ausgehandelte Konfliktregulierungen zu schaffen (Dörre 2016). Weil sich die Gewerkschaften immer weniger auf ihre institutionellen Machtressourcen verlassen können, sind sie immer häufiger auf ihre Fähigkeit zum Konflikt angewiesen. Diese Fähigkeit gründet sich auf Organisationsmacht. Kollektive Handlungs- und Streikfähigkeit muss in der Gegenwart allerdings Betrieb für Betrieb und Unternehmen für Unternehmen immer wieder neu hergestellt werden. Sie ist zwingend auf eine Erschließung neuer Lohnabhängigengruppen angewiesen. Arbeitskämpfe werden tendenziell weiblicher, erfassen auch den prekären Sektor und werden gerade in den Dienstleistungsbranchen mit besonderer Härte geführt. 

Gegner oder zumindest Adressat von Forderungen ist immer häufiger der Staat. Im erwähnten Streik um Entlastungs-Tarifverträge geht es nicht in erster Linie um Entgelte, sondern um die Personalbemessung, die Leistungskriterien und damit um Eingriffe in das zuvor entscheidungsverschlossene Direktionsrecht. Bei den Tarifrunden im Öffentlichen Personennahverkehr wird ein Investitionsprogramm gefordert, das für eine gut finanzierte, klimagerechte Mobilität in Stadt und Land sorgen soll. Im Falle der Verkehrsstreiks von Ver.di und EVG wird das Geschäftsmodell der deutschen Bahn zum Thema usw. usf. Arbeitskämpfe, in denen der Staat direkt oder indirekt als Akteur auftritt, sind politisch. Sie sind „politischer Klassenkampf“, der sein Rohmaterial aus dem Ökonomischen gewinnt (Hall 1989, 44). Ein Verzicht auf die Ausübung des politischen Mandats liefe deshalb auf gewerkschaftlichen Selbstmord hinaus. Er würde dazu führen, dass sich gewerkschaftliche Interessenvertretung auf einen engen Korpus sozioökonomischer Anliegen zu beschränken hätte. Gewerkschaften würden zur bloßen Vertretung von Pressuregroups, von Stammbeschäftigten spezifischer Branchen und Unternehmen; allgemeine Lohnarbeitsinteressen könnten sie nicht mehr wahrnehmen. 

Aus dem genannten Grund macht es zweitens keinen Sinn, gewerkschaftliche Erneuerung mittels Anpassung an den gesellschaftlichen Rechtsruck erreichen zu wollen. Statt in erster Linie auf Arbeiter*innen zu schauen, die mit der radikalen Rechten sympathisieren, wird sich gewerkschaftliche Interessenpolitik in der betrieblichen Arbeitswelt vor allem auf jene stützen müssen, die sich dem Rechtsruck widersetzen und den sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft konstruktiv-kritisch befürworten. Ihnen gilt es den Rücken zu stärken. Deshalb wäre es fahrlässig, den sozial-ökologischen Umbau als Feld gewerkschaftlicher Interessenpolitik aufzugeben. Es sind winzige Minderheiten innerhalb der herrschenden Klasse, die Entscheidungen über Geschäftsmodelle, Produkte und Produktionsverfahren monopolisieren. Selbst die stärksten Betriebsräte und Gewerkschaftsorganisationen sind von solchen Entscheidungen weitestgehend ausgeschlossen. Dieser Ausschluss wird in politischen Debatten, die ausschließlich Konsummuster in den Blick nehmen, vollständig tabuisiert.

Hauptursache klimaschädlicher Emissionen sind aber drittens die an Verfügung über Produktionsmittel gekoppelten Investitionen, nicht individuelle Konsummuster (Chancel 2022). Leider nimmt die gesellschaftliche Öffentlichkeit von solchen Zusammenhängen kaum Notiz, weil Produktion, Industriearbeit, aber auch elementare soziale Dienstleistungen und Sorgearbeiten seit langem nur selten Thema sind. Deshalb ist es wichtig, die Unsichtbaren sichtbar zu machen und den Vergessenen eine Stimme zu verleihen. Starke Betriebsräte und Gewerkschaften reichen für eine Energie-, Verkehrs-, Mobilitätswende und Nachhaltigkeitswende sicher nicht aus. In zukunftsträchtigen Konflikten um Sicherheit in der Transformation und ein Umsteuern zugunsten ökologisch nachhaltiger Arbeit sind sie aber unentbehrlich. Dies vor allem, weil nur sie einklagen können, was eine befragte Betriebsrätin wie folgt auf den Punkt bringt: 

„Ich glaube wir brauchen eine Demokratisierung in der Gesellschaft […] Ich glaube, dass in den Betrieben zu wenig Mitbestimmung da ist. In was für Produkte wird investiert? Wie wird gearbeitet? Mit wie viel Leuten wird gearbeitet? Unter welchen Bedienungen wird gearbeitet? Da haben wir einen unwahrscheinlichen Nachholbedarf“ (Betriebsrätin, Opel-Eisenach). 

Die zitierte Gewerkschafterin trifft den Nagel auf den Kopf, weil sie den Ausschluss gesellschaftlicher Mehrheiten von Entscheidungen problematisiert, die das (Über-)Leben aller betreffen. Selbiges zu korrigieren wird viertens nur mit Hilfe von Bündnissen und Allianzen möglich sein, die den sozial-ökologischen Umbau entschlossen vorantreiben. Die strategische Zusammenarbeit der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di mit der Klimabewegung im Bereich des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) steht exemplarisch für einen Climate Labour Turn, wie ihn vor allem die Klimalinke propagiert. Diese strategische Ausrichtung beinhaltet auf der einen Seite die Hinwendung der Klimabewegung zur „Arbeiterbewegung, auf der anderen Seite die Aufnahme ökologischer Anliegen in gewerkschaftliche Kämpfe und eine Orientierung seitens der Gewerkschaften […] als Partnerin zur Durchsetzung gemeinsamer Anliegen“ (Heinisch 2025, 324; bzw. Autor*innenkollektiv CLIMATE.LABOUR.TURN 2023). Das Bündnis #wirfahrenzusammen kann wohl als der gegenwärtig erfolgreichste Versuch betrachtet werden, ökologische Klassenpolitik mit emanzipatorischem Selbstverständnis zu betreiben. Diese Allianz, die Unterstützung in 70 Städten gefunden hat, erreichte ihre Aktionshöhepunkte während gemeinsamer Streiktage im Rahmen der Tarifauseinandersetzungen des Öffentlichen Dienstes 2023 und des Nahverkehrs 2024. Wenngleich sich dieses Beispiel nur schwer auf den Industriesektor[6] übertragen lässt, bietet es doch Anregungspotenzial für eine transformationsoffene Gewerkschaftspolitik, die Rückdeckung aus der demokratischen Zivilgesellschaft erhält. 

Bündnisse von Gewerkschaften und ökologischen Bewegungen könnten eine neue Dynamik erlangen, wenn in den nächsten Jahren eintritt, was marktzentrierte Klimapolitiken anstreben. Sollte der CO-Preis künftig wie vorgesehen rasch steigen, würden sich auch die Preise für Treibstoff, Strom, Mieten und Nahrungsmittel zusätzlich drastisch erhöhen. Blieben Kompensationen aus, böte diese Entwicklung sozialen Sprengstoff. Dem ließe sich wirksam nur entgegentreten, wenn grundsätzlich gilt: Je größer der Klimafußabdruck, desto umfangreicher muss auch der Beitrag sein, der den sozial-ökologischen Umbau finanziert. Nur so lässt sich korrigieren, was Forschungen zum Verhältnis von sozialer Ungleichheit und klimaschädlichen Emissionen belegen – der unverhältnismäßig hohe Emissionsausstoß kapitalistischer Eliten, der vor allem zu Lasten der ärmeren Bevölkerung geht, die am wenigsten zum Klimawandel beiträgt.[7]

»Für die Rüstungsindustrie scheint gegenwärtig alles möglich, was für die zivile Marktwirtschaft nicht gelten soll – großzügige Finanzierung um den Preis eines wachsenden Staatsdefizits, langfristige Planung, staatliche Abnahmegarantien und eine bewusste Monopolisierung, die Marktmechanismen verzerrt.«

Kluge gewerkschaftliche Bündnispolitik wird auch nötig sein, weil fünftens nur mit breiter Unterstützung öffentlich thematisiert werden kann, was in der Auseinandersetzung mit dem „autoritären Liberalismus“ der Gegenwart unbedingt erreicht werden muss: politische Weichenstellungen zugunsten einer langfristig geplanten, ausreichend finanzierten Industrie- und Infrastrukturpolitik, die den sozial-ökologischen Umbau entschlossen vorantreibt. Ziel einer solchen Politik muss es sein, die Schuldenbremse zu beseitigen und die öffentlichen Mittel bereitzustellen, die der Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft benötigt. In diesem Zusammenhang darf nicht verschwiegen werden, was die Glaubwürdigkeit jeglicher Klimapolitik gegenwärtig unterminiert – die politische Fixierung eines Fünf-Prozent-Ziels für den Wehretat.[8] Wer den sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft will, darf von der Aufrüstung nicht schweigen. Dies auch, weil für die Rüstungsindustrie gegenwärtig alles möglich scheint, was für die zivile Marktwirtschaft nicht gelten soll – großzügige Finanzierung um den Preis eines wachsenden Staatsdefizits, langfristige Planung, staatliche Abnahmegarantien und eine bewusste Monopolisierung, die Marktmechanismen verzerrt.

Dies alles sind wahrlich große Herausforderungen für die Gewerkschaften, denen sich unschwer weitere hinzufügen ließen. Nachvollziehbar ist, dass gerade engagierte Gewerkschafter*innen angesichts des dramatisch wachsenden Problemdrucks verzweifeln. Deshalb sei eine letzte Bemerkung erlaubt. In der direkten Alltagskommunikation gilt es, jene Abwertungsspirale zu durchbrechen, der sich vor allem Produktionsarbeitende ausgesetzt sehen. „Arbeiter*in und stolz darauf!“, lautet ein Satz, mit dem die Frauen der österreichischen Produktionsgewerkschaft Pro-Ge auf ihre Organisation aufmerksam machen. Shirts und Taschen mit entsprechender Aufschrift haben sich als Renner erwiesen. Symbolisch zeigt das, was geschehen muss, um dem neuen Autoritarismus in der Arbeiter*innenklasse wieder den Nährboden zu entziehen. „Kopf hoch!“, lautet die Botschaft, die emanzipatorische Gewerkschaftspolitik trotz aller Widrigkeiten im Alltag zu vermitteln hat. Um ihre missliche Lage wissen die von Löhnen Abhängigen selbst. Was sie benötigen, ist ein Grundvertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die sie ohne Zweifel besitzen. Dieses Grundvertrauen über solidarische Sozialbeziehungen zu stärken, ist eine Aufgabe, die zu erfüllen emanzipatorische Klassen- und Gewerkschaftspolitik erst wieder zu erlernen hat. Dabei kann eine kritische Transformations- und Arbeitsbeziehungsforschung helfen, die als öffentliche Soziologie betrieben wird und den Konflikt im Fach und in der Gesellschaft nicht scheut. 

[1] Beim vorliegenden Text handelt es sich um die schriftliche und leicht aktualisierte Fassung des Schlussworts, das der Autor ursprünglich im Rahmen der Konferenz „Gegenmacht im Gegenwind“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung vortragen wollte. Soweit nicht anders ausgewiesen, stammen Zitate aus empirischen Erhebungen, die wir im Jenaer Datensatz zur sozial-ökologischen und digitalen Transformation (JeTra) zusammengefasst haben. Der qualitative Datensatz umfasst inzwischen 430 Interviews aus unterschiedlichen Branchen und Wirtschaftsbereichen (vgl. Dörre u.a., 2025). 

[2] So wurden zwischen Januar und August 2022 insgesamt in sechs Kliniken gewonnen über 2.600 Neumitglieder gewonnen. Bereits vor dem Start der Auseinandersetzung um den TV-E führte ver.di kleinere Organizing-Projekte in Aachen, Bonn und Münster durch. Dabei konnten die ver.di-Mitgliedschaften in den sechs Häusern von 3.888 (Sommer 2021) auf 8.415 (Sommer 2022) gesteigert werden (vgl. Bader u.a. 2025, 76f).

[3] Hans Jürgen Urban ist der einzige Autor, der das politische Mandat in unserem Buch „Comeback der Gewerkschaften“ überhaupt erwähnt (vgl. Urban 2013, 423). 

[4] Der Begriff stammt ursprünglich vom Staatrechtler Herman Heller, der ihn auf die Papen-Regierung münzte – jene Allianz, die Adolf Hitler in der Endphase der Weimarer Republik zur Macht verhalf (vgl. Heller 1933).

[5] Moawad und Oesch (2024) nutzen ein berufsbezogenes Vier-Klassenmodell (obere und untere Mittelschicht, qualifizierte und gering qualifizierte Arbeiterklasse), das in vielerlei Hinsicht vereinfacht und eine herrschende Klasse nicht kennt. Dennoch sind die Trendaussagen zu Produktivität und Einkommen von beeindruckender Klarheit. 

[6] Strategische Vorschläge dazu vgl. Candeias/Krull (2022).

[7] Zwanzig der reichsten Milliardäre emittieren schätzungsweise bis zu achttausend Mal mehr Kohlenstoff als die Milliarde der ärmsten Menschen (Oxfam 2022, 6).

[8] Auf ihrem Gipfel haben die NATO-Mitgliedsstaaten vereinbart, ab 2035 jeweils Ausgaben in Höhe von fünf Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Rüstung und militärische Infrastruktur zu veranschlagen. Für Deutschland würden das schon heute Ausgaben in Höhe von 225 Mrd. Euro pro Jahr bedeuten. Der gesamte Bundeshaushalt von 2024 umfasste knapp 477 Mrd. Euro.

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