Hätte jemand prophezeit, dass aus einer auch 2013 zwar beeindruckenden, aber eher am linken Rand der Gewerkschaften platzierte Konferenz eine Veranstaltung von 3 000 Menschen wird, die sich mit „Gegenmacht im Gegenwind“ beschäftigen, hätte ich das nicht geglaubt. [1] In Stuttgart waren auf Initiative von Bernd Riexinger und der Rosa-Luxemburg-Stiftung seinerzeit vor allem linksoppositionelle Gewerkschaftsaktive versammelt. Das war durchaus von Vorteil, denn was gesagt und diskutiert wurde, sollte provozieren – in Richtung des DGB und seiner Mitgliedsorganisationen, aber auch einer Wissenschaft, die sich mit ihrer Abkehr von Klassen und Gewerkschaften zugleich ihres Referenzrahmes für lebendige Sozialkritik entledigt hatte. Gewerkschaftsaktive, die sich überwiegend mit Standortkonkurrenzen, Rückzugsgefechten, betrieblichen Deals und Krisenmanagement befassten, trafen auf eine Wissenschaft, die ihnen bescheinigte, dass Anpassung an Standortwettbewerbe in Zeiten der Globalisierung alternativlos sei. Die neuen Arbeitsbeziehungen der Globalisierungsära schienen aus der Perspektive des wissenschaftlichen Mainstreams die alten zu bleiben – nur eben mit geschwächten, nahezu einflusslosen Gewerkschaften. Letztere hätten, weil zahnlos und wenig konfliktfähig, ihr Hauptaugenmerk auf pragmatische Kooperation im Betrieb und, so noch möglich, auf Elitendeals im politischen Tauschgeschäft zu richten, so lautete meine Bilanz der damaligen Arbeitsbeziehungsforschung, der ich eine polemische Bemerkung hinzufügte (Dörre 2023): Wenn Wissenschaft und Praxis sich nicht mehr aneinander reiben, entsteht vor allem eines – Langweile!
Klassenkampf statt Langeweile
Konzeptuelle Eintönigkeit und Vorhersehbarkeit waren sicherlich Gründe, weshalb Gewerkschaftsforschung im deutschen Sprachraum lange auf ein Abstellgleis geraten war. Das hat sich mittlerweile geändert – zum Guten wie zum Schlechten. Verändert hat sich vor allem die gewerkschaftliche Praxis. Diesbezüglich lautet die schlechte Nachricht, dass sich die Entkollektivierung der betrieblichen Arbeitswelt in Deutschland und EU-Europa wenn auch nicht geradlinig, so doch in klarer Tendenz fortgesetzt hat. In Deutschland waren 2021 nur noch 17 Prozent der berufsaktiven lohnabhängigen Erwerbstätigen Gewerkschaftsmitglieder (GESIS 2020). Doch es gibt auch eine gute Nachricht. 2023 haben die Mitgliedsorganisationen des DGB zum ersten Mal seit 2001 wieder einen absoluten Mitgliederzuwachs (+ 21.909) verzeichnet. Hauptgrund waren Eintritte im Zuge von Arbeitskämpfen (Greef 2024). Schaut man genauer hin, so lässt sich feststellen, dass viele Methoden und Taktiken, die wir im Rahmen unseres Jenaer Machtressourcenansatzes als Ansatzpunkte gewerkschaftlicher Erneuerung identifiziert hatten (Brinkmann u.a. 2008), mittlerweile relativ selbstverständlich zum Einsatz kommen. Das gilt insbesondere für verschiedene Varianten des Organizing, der gezielten Werbung von Mitgliedern, die häufig in Zusammenhang mit Arbeitskonflikten und Streiks zum Einsatz kommen.
Was die konventionelle Gewerkschaftsforschung wegen bestehender Pfadabhängigkeiten in den organisierten Arbeitsbeziehungen für aussichtlos erklärte (exemplarisch Frege 2000), hat dennoch stattgefunden. Auch die deutschen Gewerkschaften haben ansatzweise Praktiken eines Social Movement Unionism (Dörre 2020) erprobt, dessen Ursprünge eigentlich im globalen Süden und in Nordamerika zu verorten sind. Solche Praktiken sind inzwischen wieder Gegenstand einer durchaus vitalen und zudem kritischen Gewerkschaftsforschung, die vor allem von jungen Leuten betrieben wird. Ein markantes Beispiel bietet die Krankenhausbewegung in Nordrhein-Westfalen, die in einem mehrwöchigen Erzwingungsstreik einen Entlastungstarifvertrag durchsetzen konnte. Eine Projektgruppe Jenaer Studierender hat diesen Fall als Beispiel für eine Erneuerung emanzipatorischer Politik von unten untersucht. Von der Projektgruppe befragte Gewerkschaftsaktive weisen übereinstimmend darauf hin, dass auf Selbstverantwortung beruhende Organizing-Methoden sehr effektiv gewesen seien, um Neuzugänge auch über den Streik hinaus zu gewinnen.[2] Noch wichtiger als Mitgliederzahlen seien indes Erfahrungen, die Konfliktbereitschaft stärkten und in gewisser Weise zur Wiederaneignung gewerkschaftlicher Strukturen durch engagierte Mitglieder führten: die Demokratisierung von Streiks (Riexinger 2013). Die Projektgruppe zitiert eine Intensivpflegerin mit folgenden Sätzen:
„Ich glaube, dass Gewerkschaften klarwerden muss, dass demokratische Bewegungen in Arbeitskämpfen essenziell sind und dass es das sein wird, was die Gewerkschaften am Leben hält. [...] Gewerkschaften funktionieren nicht mit Funktionären und mit Leuten in irgendwelchen Ämtern, sondern weil ehrenamtliche Kolleg*innen sich für etwas einsetzen, weil Mitglieder auf die Straße gehen und sich wehren. Und das funktioniert nicht in irgendeinem Hinterzimmer mit verschlossener Tür [...]. Ich glaube, gerade Kämpfe wie die Berliner Krankenhausbewegung und die NRW-Krankenhausbewegung gezeigt haben, dass es vor allem wichtig ist, dass Kolleg*innen sich einbringen und an denen dann auch kein Weg mehr […] vorbeiführt.“ (Bader u.a. 2025, 77)
Beteiligte Gewerkschaftssekretär*innen konstatieren, dass sich ver.di im Rahmen des TV-E in NRW „sehr offen bewegt“ und sich relativ weit von konventionellen Arbeitskämpfen entfernt habe. Zugleich weisen sie aber auch auf institutionelle Machtressourcen der Gewerkschaften und die Vorzüge der Routineorganisation hin, die für gelingende Streiks nach wie vor unentbehrlich sei (ebd.).
