Diese Metapher für den Sieg von Barcelona en Comú und den anderen BürgerInnenplattformen, die in den größeren Städten Spaniens an die Regierung katapultiert worden sind, ist sehr passend. Die Plattformen durchliefen zwischen ihrer Gründung im Sommer 2014 und der Wahlnacht des 24. Mai 2015 einen etwas mehr als neunmonatigen Reifungsprozess. Viele ihrer KandidatInnen wechselten nahezu übernacht von Demonstrationen auf den Rathausvorplätzen zur (legalen) Besetzung von Büros in den Rathäusern. Dieser Außenseiterstatus und die fehlende Vertrautheit mit den Machenschaften der institutionellen Politik ist sowohl die größte Stärke als auch die größte Schwäche der regierenden BürgerInnenplattformen. Er verleiht ihnen die Freiheit, traditionelle Annahmen außer Betracht zu lassen, beinhaltet aber für die BürgermeisterInnen und Abgeordneten, die noch nie zuvor in ein Amt gewählt worden sind, auch eine steile Lernkurve. Nun, da sie ihre ersten hundert Tage an der Regierung hinter sich haben, beginnen sich die Gelegenheiten und Herausforderungen abzuzeichnen, vor denen Spaniens »rebellische Städte« stehen.

Was ist eine BürgerInnenplattform?

Die meisten größeren Städte Spaniens, einschließlich Madrid und Barcelona, werden gegenwärtig von BürgerInnenplattformen regiert. Diese lockeren Bündnisse von BürgerInnen und progressiven Parteien sind von AktivistInnen aus den sozialen Bewegungen konzipiert und vorangetrieben worden, um dann später von Parteien unterstützt zu werden. Die Plattformen unterscheiden sich daher grundlegend von traditionellen Parteikoalitionen, und sie erweisen sich derzeit als fruchtbares Experimentierfield für neue Formen von den BürgerInnen vorangetriebener Politik. Zwar variieren die Plattformen, hinsichtlich ihrer Bezeichnung und Zusammensetzung, von Stadt zu Stadt, doch eint sie eine gemeinsame Denk- und Arbeitsweise. Im Mittelpunkt steht dabei das Bekenntnis zu partizipatorischer Beschlussfindung: Versammlungen und digitale Partizipationsinstrumente kommen zum Einsatz, um über alles von der politischen Agenda bis hin zur Organisationsstruktur zu entscheiden. Jenseits der Besonderheiten der jeweiligen politischen Programme eint diese neue stadtpolitische Bewegung nichts geringeres als das Ziel, die post-franquistischen politischen Strukturen aufzubrechen, durch den Aufbau neuer radikaldemokratischer Formen einer Regierungstätigkeit von unten.

Die ersten hundert Tage

Die BürgerInnenplattformen haben während ihrer ersten Monate im Amt eine Reihe von Erfolgen feiern können: Sie haben Räumungen verhindert, die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen aufgehalten und die öffentlichen Investitionen in Sozialprogramme erhöht. Sie experimentieren darüber hinaus auch mit neuen Formen der Partizipation an der lokalen Beschlussfindung. In Madrid ist eine Internetplattform lanciert worden, auf der EinwohnerInnen Vorschläge zur Gestaltung der Stadt mitteilen können, in Coruña gibt es nun im Stadtparlament einen »BürgerInnensitz«, sodass dort erstmalig gewöhnliche Menschen zu Wort kommen, und in Barcelona ist ein partizipatorisches Verfahren zur Neubewertung der städtischen Tourismus-Strategie in die Wege geleitet worden. Trotz ihrer frühen Errungenschaften bekommen die BürgerInnenplattformen aber auch die Machtgrenzen einer Stadtverwaltung zu spüren. Die spanische Regierung hat in den letzten Jahren gravierende Rezentralisierungsmaßnahmen verabschiedet und den Lokalregierungen Haushaltskürzungen auferlegt, die deren ohnehin bereits eingeschränkte Fähigkeit, Alternativen zur Austerität nachzugehen, weiter begrenzt hat. Hinzu kommt, dass viele Ziele der Bewegung, von der Wahrung der Menschenrechte von MigrantInnen bis hin zum Aufbau wirtschaftlicher Alternativen zum finanzialisierten Kapitalismus, stark abhängig sind von Faktoren, die auf der europäischen und der globalen Ebene wirken. Die neuen Stadtverwaltungen haben eine Reihe von Strategien entwickelt, um diese Grenzen zu überwinden. Die erste besteht darin, ihre Kräfte zu bündeln, indem sie stadtpolitische Bündnisse zur Verfolgung ihrer gemeinsamen Prioritäten eingehen. Beispiele dafür sind unter anderem das spanienweite Netzwerk der »Zufluchtsstädte« und das neue Netzwerk katalanischer Städte, die sich der Förderung der Sozialwirtschaft verschrieben haben. Solche Netzwerke erlauben es den Städten, Wissen und Ressourcen horizontal zu teilen und zugleich eine von unten nach oben verlaufende Entwicklung alternativer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Modelle anzustoßen. Die Stadtverwaltungen haben auch versucht, ihren Einfluss dadurch auszuweiten, dass sie sich auf kreative neue Weise in politische Debatten einbringen. Beispielsweise hat die Stadtverwaltung von Barcelona den Antrag verabschiedet, die Stadt zu einer TTIP-freien Zone zu erklären. Die Stadtverwaltung von Madrid hat feministischen Demonstrationen in der Hauptstadt ihre Unterstützung erklärt. Diese Schritte haben zum Vorwurf einer »Politik der Gesten« geführt (unter anderem seitens der Vizepremierministerin Soraya Sáenz de Santamaría) sowie zur Behauptung, die BürgerInnenplattformen würden den konkreten Aufgaben des Regierens ausweichen und sich in eine Politik des Protests zurückziehen. Doch so umstritten sie auch sein mögen, die Absichtserklärungen der Stadtverwaltungen sorgen dafür dass Themen, die ansonsten randständig bleiben würden, Aufmerksamkeit erhalten. Aus einer nach den Wahlen im Mai abgehaltenen Umfrage geht hervor, dass Ada Colau und die Bürgermeisterin von Madrid, Manuela Carmena, die beliebtesten politischen Führungskräfte Spaniens sind. BürgermeisterInnen und Abgeordnete setzen, in einem von der Beschränkung lokaler Macht und Ressourcen geprägten Kontext, ihr politisches Kapital ein, um die Rahmenbedingungen der landesweiten politischen Verständigung zu verändern.

Der Sprung in den Wahlkampf – das Risiko wert?

Wahlen gewinnen ist nicht dasselbe wie die Stadt wiedergewinnen. Ob es klug ist, von der Politik der Plätze zur Politik der Wahlen zu wechseln, ist seit dem Beginn der Platzbesetzungen durch die Indignados im Jahr 2011 eine in den spanischen sozialen Bewegungen heftig umstrittene Frage. Eine der am häufigsten aufgegriffenen Parolen der Indignados, »No nos representan« (»Sie sind nicht unsere Vertreter«), war eine Kritik nicht nur der regierenden Parteien, sondern auch der Repräsentationspolitik als solcher. Die von den Indignados aufgeworfenen Fragen zu den Risiken einer politischen Kandidatur – sowohl für die KandidatInnen als auch für die Bewegung, die diese zu vertreten suchen – sind relevanter denn je. Die erste Gefahr besteht darin, dass AktivistInnen, die durch Wahlen zu einem politischen Amt gelangt sind, durch die Institutionen gezähmt werden, die sie zu verändern suchen. Die BürgerInnenplattformen haben versucht, dieses Risiko durch strenge Ethik-Kodexe zu schmälern, die Gehalts- und Amtszeitbegrenzungen sowie ein Verbot der Finanzierung durch Banken und Konzerne festlegen. Sie hoffen, dadurch die Regeln des politischen Spiels insgesamt verändern zu können, anstatt lediglich eine Gruppe von PolitikerInnen durch eine andere zu ersetzen. Die zweite, noch gewichtigere Sorge ist, dass die Wende hin zur Wahlpolitik jene Bewegungen schwächen wird, die die Plattformen eigentlich zu verteidigen suchen. Nicht nur verlieren die Bewegungen einige ihrer politisch erfahrensten Mitglieder an ein öffentliches Amt. Auch die Verbindungen, die sie zu lokalen Institutionen halten, drohen ihre Autonomie zu kompromittieren. Die zu Fragen der öffentlichen Verschuldung arbeitende Aktivistin Iolanda Fresnillo meint, die sozialen Bewegungen müssten »mit Bezug auf ihr Verhältnis zu den neuen Regierungen einen Mittelweg finden zwischen Frontalopposition und unkritischer Zuarbeit. Wir müssen die Gelegenheiten beim Schopfe packen, während wir zugleich auf Widersprüche hinweisen, Vorschläge mitteilen, Forderungen erheben und auf einen eigenen Raum bestehen, um sie zu artikulieren.« Die stadtpolitische Bewegung ist ein dynamisches Ökosystem aus rebellischen Stadtverwaltungen, BürgerInnenplattformen und sozialen Bewegungen – und muss dies auch bleiben. Wenn sie eine Chance haben soll, den von ihr angestrebten Paradigmenwechsel herbeizuführen, dann muss sie lernen, welche Ziele durch lokale Institutionen befördert werden können und welche Initiativen außerhalb von ihr umgesetzt werden müssen. Sie muss den politischen Einfluss ihrer sichtbarsten Führungskräfte nutzen und die Beschlussfindung zugleich den Tausenden von Unsichtbaren überlassen. Sie muss fortschrittliche politische Projekte auf der regionalen und der landesweiten Ebene unterstützen, ohne ihrer lokalen Berufung den Rücken zu kehren. Für all das gibt es kein Handbuch mit zu befolgenden Regeln. Es wird der stadtpolitischen Bewegung Spaniens überlassen bleiben, die Anleitung zur Wiedergewinnung der Stadt des 21. Jahrhunderts zu schreiben – Tag für Tag und über die kommenden Jahre hinweg. Dieser Artikel erschien im Dezember 2015 bei Red Pepper. Aus dem Englischen von Max Henninger Weiterlesen Juan Roch: Podemos und die Neuen Medien