Der DGB hat einen »Marshallplan für Europa« vorgelegt – worum geht es dabei?
Er soll eine Diskussion über die Zukunft Europas und die Alternativen zur Austeritätspolitik anstoßen. Der »Marshallplan für Europa« ist bis heute das einzige gesamteuropäische Zukunftsprogramm gegen die Krise und für eine langfristige Modernisierung Europas, das konkrete Maßnahmen enthält und vollständig durchgerechnet ist. Keine Partei, kein Wirtschaftsinstitut, niemand aus der ökonomischen Zunft in Deutschland und Europa hat dergleichen vorgelegt. Er zeigt, dass statt Arbeitslosigkeit mindestens neun Millionen zukunftsfähige Vollzeitstellen in Europa möglich sind und damit auch ökonomische Grundlagen für den Schuldenabbau und für die Handlungsfähigkeit der Staaten in Europa bestehen. Integration muss nicht mehr Armut bedeuten. Wir diskutieren den Plan derzeit auf diversen Veranstaltungen in verschiedenen europäischen Ländern, insbesondere mit unseren Schwesterorganisationen – er ist inzwischen in fünf Sprachen übersetzt und stößt auf breites Interesse.
Wie sieht diese Rechnung im Einzelnen aus?
Die makroökonomischen Effekte könnten sich sehen lassen: Durch zusätzliches Wachstum entstehende Steuereinnahmen würden sich für 27 EU-Staaten auf rund 104 Mrd. Euro belaufen. Damit lässt sich die öffentliche Verschuldung besser zurückfahren. Die Staaten könnten außerdem 56 Mrd. Euro zusätzliche Sozialversicherungsbeiträge einnehmen und damit unsere sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest machen. 150 Mrd. Euro jährliche Investitionen in eine europaweite Energiewende würden uns langfristig von Brennstoffimporten unabhängig machen und für die Senkung des CO2-Ausstoßes sorgen. Der Plan geht von 300 Mrd. Euro jährlichen Einsparungen an Brennstoffimporten aus – das wäre ökologisch, aber auch ökonomisch beachtlich. Auch die deutsche Energiewende wäre damit finanzierbar, ohne Verbraucher und kleine sowie mittelständische Unternehmen in den Ruin zu treiben.
Wie kann die Handlungsfähigkeit des Staates gestärkt werden?
Angesichts der immer knapperen natürlichen Ressourcen, der dramatischen sozialen Schieflage, der Massenarbeitslosigkeit in vielen europäischen Staaten, der demographischen Herausforderungen und steigenden Wissens- und Technologieintensität des Wirtschaftens sowie der öffentlichen und privaten Verschuldung muss dringend die Handlungsfähigkeit des Staates wiederhergestellt werden. Dies bedarf jedoch eines prosperierenden Umfelds und einer gerechten Verteilung von Einkommen und Vermögen. Die heutige Politik in Europa ist in diesem Sinne fahrlässig, weil sie gebetsmühlenartig ausschließlich von Sparen und Schuldenabbau redet, ohne das ökonomische Fundament hierfür bereitzustellen. Unsere Vorschläge sorgen gerade für eine nachhaltige Prosperität und damit für ein Volkseinkommen, das dann auch dem Staat wieder Milliarden Steuereinnahmen beschert – so kann Handlungsfähigkeit auch finanziell wiederhergestellt werden. Vorausgesetzt, die Politik sorgt mit einem gerechten Steuersystem für mehr Steuereinnahmen und verteilt diese nicht wie die FDP wieder als Geschenke an ihre Klientel.
Der Plan wird von allen DGB-Gewerkschaften unterstützt – das ist beachtlich. Wie ist der Diskussionsprozess verlaufen? Gab es Vorbehalte?
Alle DGB-Gewerkschaften kritisieren die Politik des sozialen Kahlschlags in Europa. Insofern gab es keine Vorbehalte. Der Marshallplan wurde auch einstimmig vom Bundesvorstand beschlossen. Damit zeigen Gewerkschaften, dass sie eine Vorreiterrolle spielen, wenn es darum geht, Europa zukunftsfest zu machen. Allerdings ist das eine andere Zukunft, als sie sich Bundeskanzlerin Merkel oder der britische Premierminister Cameron vorstellen.
Der »Europäische Zukunftsfonds« basiert unter anderem auf einer einmaligen Sonderabgabe auf große Vermögen. Welche anderen Finanzierungsquellen sind geplant?
Wenn Sie in den nächsten zehn Jahren 2 600 Mrd. Euro Zukunftsinvestitionen vornehmen wollen, reicht eine einmalige Vermögensabgabe natürlich nicht aus. Diese würde europaweit auf einen Betrag zwischen 200 und 250 Mrd. Euro hinauslaufen. Damit können Sie keine zehnjährige Modernisierungsoffensive aufstellen. Die Vermögensabgabe ist also nicht die Quelle zur Finanzierung des Marshallplans. Mit diesem Geld finanzieren wir lediglich das Eigenkapital des »Europäischen Zukunftsfonds«, das jedes Unternehmen am Anfang benötigt, wenn es am Markt aktiv sein will. Das Geld wird nicht einmal investiv verwendet, sondern dient lediglich als Polster zur Bonitätssicherung des Zukunftsfonds. Eigentlich etwas, was wir für ein robustes europäisches Bankensystem fordern.
Und die Finanzierung geschieht dann wie?
Finanziert wird der ganze Marshallplan über die Emission einer festverzinslichen zehnjährigen »New Deal Anleihe«, die ähnlich wie eine Unternehmens- oder Staatsanleihe funktioniert. Sie wird vom »Europäischen Zukunftsfonds« ausgegeben und kann dann von Anlegern wie Versicherungen erworben werden. Mit der »New Deal Anleihe« bietet der Zukunftsfonds den Versicherungen und anderen nicht spekulativen Anlegern sichere Anlagemöglichkeiten, die zurzeit rar sind. Davon profitieren vor allem Beschäftigte und einfache Sparer, die für ihre Zukunft oder private Altersvorsorge Geld zurückgelegt haben. Sie erwarten anständige Zinsen und die sichere Tilgung ihrer Ersparnisse. Und beides finden sie dann in »New Deal Anleihen«, die ähnlich sicher sind wie die deutschen Bundesanleihen. So bekommen wir das Kapital zur Finanzierung des Marshallplans. Um die anfallenden Zinsen und nach zehn Jahren die Tilgung zu finanzieren, wollen wir die Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer einsetzen, die vor allem spekulative Finanztransaktionen trifft.
Im Zentrum des Investitions- und Konjunkturprogramms steht eine Stärkung öffentlicher Infrastrukturen und der Gemeingüter. Wie verhält sich das zu Schuldenbremse und Fiskalpakt?
Die Förderung von Zukunftsinvestitionen läuft über den »Europäischen Zukunftsfonds«, nicht über nationale Haushalte, die den Bestimmungen des Fiskalpaktes unterliegen. Es kostet die Staaten keinen Steuer-Cent. Sie müssen lediglich die Finanztransaktionssteuer in ihrem Land einführen, dann erhielten sie alle Vorzüge dieses Marshallplans. Die Vorteile wären beachtlich: Sie würden von zusätzlichen Steuereinnahmen profitieren, vom Wegfall der Kosten für Arbeitslosigkeit, von neuen und zukunftsfähigen Jobs und von einer besseren Konjunktur, von einem stabilen Arbeitsmarkt und nicht zuletzt vom sozialen Frieden. Sie würden aber auch als Standort von besserer Infrastruktur profitieren, einem besseren Bildungssystem, besserer Ausstattung mit modernen Industrie- und Dienstleistungen, von energiearmen und ressourcenschonenden Wirtschaften und von emissionsarmen Städten und Gemeinden. Der Clou dieses Plans ist, dass ein Dritter, nämlich der Europäische Zukunftsfonds, zusätzlich zur öffentlichen Hand für den Modernisierungsschub in Europa sorgt. Das ist vor allem für die Länder, die gegenwärtig kaum in der Lage sind, finanziell über die Runden zu kommen, ein Meilenstein. Aber gucken Sie sich mal die erbärmliche Debatte um die deutsche Energiewende an. Sie kommt kaum voran. Wir machen mit unserem Programm den Weg auch für die Umsetzung der deutschen Energiewende frei.
Eine »Europäische Energiewende« gehört zu den wesentlichen Elementen des Plans. Wie kann die sozial-ökologische Perspektive mit Beschäftigungsentwicklung verbunden werden?
Die Substitution der mit wenigen inländischen Arbeitsplätzen einhergehenden Öl- und Gas-Importe durch eine CO2-arme Energieversorgung, die eine wesentlich höhere Beschäftigungsquote aufweist, wird langfristig die Arbeitslosenzahlen senken und damit die Haushalte der EU-Länder entlasten. Die langfristigen Beschäftigungseffekte von Investitionen in eine CO2-arme Energieversorgung sind sechs- bis siebenfach höher als die Ausgaben für Öl- und Gasimporte. Vor allem Infrastrukturmaßnahmen und energetische Gebäudesanierung bzw. energieeffiziente Bauten sind besonders beschäftigungsintensiv.
Stichwort »Konjunktur« – keine »Grenzen des Wachstums« also?
Unser Stichwort ist »qualitatives Wachstum«. Alle vorgeschlagenen Maßnahmen sollen den Ressourcen- und Energieverbrauch reduzieren und einen flächendeckenden Umbau der Gesellschaft in Gang setzen. Die Stichworte hier sind »alters- und behindertengerechte Gesellschaft«, »Zukunftsbildung und -jobs für die Jugend«, »Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme«. Und hier sehe ich keine Grenzen des Wachstums. Ganz im Gegenteil. Es gibt sehr viel Handlungsbedarf, sogar weltweit. Die Alternative ist nicht kein Wachstum, sondern ein anderes, ein qualitatives Wachstum, das die Lebensbedingungen der Menschen verbessert und nicht im Namen der Umwelt sogar verschlechtert. Wenn man sich die soziale Lage von Millionen Arbeitslosen, sozial Benachteiligten und Jugendlichen ohne jegliche Perspektive vor Augen führt – hier noch mehr Verzicht draufzupacken, ist genau so fahrlässig wie das Versprechen von Frau Merkel, dass der Wohlstand von morgen das Leiden von heute voraussetzt.
Trotz der auf gesellschaftlichen Umbau gerichteten Perspektive operiert der Plan mit einer fordistischen Vorstellung von Vollzeitarbeit. Was ist mit der Umverteilung von Arbeit und Zeit?
Der Marshallplan ist kein Generalplan für alle erdenklichen Lebensbereiche. Die offenen Fragen der Arbeitsgesellschaft und deren Ausgestaltung hätten den Rahmen gesprengt und zu einer thematischen Überfrachtung geführt. Uns lag in erster Linie daran, zukunftsfähige Jobs für 26 Mio. Arbeitslose in Europa zu schaffen und zugleich eine energetische und altersgerechte Grundsanierung unserer Volkswirtschaften vorzunehmen. Aber zur Klarstellung: Wir haben die erwarteten Beschäftigungseffekte als Vollzeitstellen deshalb berechnet, um das eigentliche Potenzial des Marshallplans für den europäischen Arbeitsmarkt aufzuzeigen. Vollzeitstellen sind deshalb wichtig, weil sich aus den Vollzeitstellen noch mehr Teilzeitjobs abschöpfen lassen. Gut entlohnte, selbstverständlich!