Industrie 4.0 ist ein deutscher Begriff für eine sehr deutsche Art und Weise, den Umbruch zu sehen. Der Übergang zu neuen cyberphysischen Maschinen, in denen digitale Steuerung, Datenaufnahme durch Sensoren und dezentrale künstliche Intelligenz zusammenkommen, wird vorrangig als Modernisierungsstrategie für die Fabrik begriffen. Regale entlang der Fertigungslinie, die selbst Nachschub bestellen, bevor sie leer sind; Kontrollsysteme, die Teile auswechseln, bevor sie kaputtgehen; Werke, in denen im Minutenabstand Autos vom Band laufen, die einzeln nach den Kundenwünschen konfiguriert sind. Die Hightech-Strategie der Bundesregierung und der großen deutschen Unternehmen zielt auf die vollautomatisierte Fabrik, die aber dabei das produziert, was sie immer produziert hat: Autos oder Maschinen. In den USA wird dagegen lieber vom industrial internet geredet, etwa im Industrial Internet Insights Report von General Electric. Im industrial internet wächst das Internet der Datenverarbeitung mit dem internet of things zu einer einzigen großen weltweiten Maschine zusammen. Der Fokus US-amerikanischer Konzerne wie Google oder Apple richtet sich verstärkt darauf, eine andere Art von Produkten zu schaffen und anzubieten. Das Produkt ist nicht mehr ein Auto im herkömmlichen Sinn, sondern Mobilität. Am Ende dieser Logik kauft der Kunde nicht mehr den neuen Mercedes, sondern die goldene oder schwarze Mobilitätskarte, die ihm einen bestimmten Zugriff auf verschiedenste Transportmittel und Services verschafft. Und solange es noch um Autos geht, verschiebt sich der Kern der Wertschöpfung auf den Hersteller von dessen komplexer Software, der sich Autokonzerne der alten Schule als bloße Hardware-Lieferanten zukaufen könnte – so die Sorge, die derzeit in München und Stuttgart umgeht. In China wiederum wurde ursprünglich der Begriff des cloud manufacturing (Li et al. 2010) geprägt. Im Vordergrund steht dabei die Auflösung der klassischen Fabrik als Produktionseinheit. Für die Herstellung von Produkten werden in wechselnder Zusammenstellung Kapazitäten verschiedenster Fabriken zu einer Produktionskette zusammengeschaltet. Der Zugriff auf materielle Kapazitäten funktioniert so wie der Zugriff auf dezentrale Server-Kapazitäten in einem Server-Netzwerk: Was gerade frei und am besten geeignet ist, wird genutzt. Am Ende dieser Logik ist die Einheit von Unternehmen, Produktionsanlage und Produkt vollständig verschwunden. Es entstehen virtuelle Unternehmen, die selbst kaum materielle Anlagen besitzen, aber über die steuernden Algorithmen verfügen und überall auf Manufacturing as a Service (MaaS) zugreifen. Der Umbruchprozess, auf den sich diese Perspektiven beziehen, ist tief greifend, und es ist ein und derselbe Umbruch, auch wenn er aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Geschäftsmodelle und Unternehmensstrategien betrachtet wird. Die Konkurrenz verschiedener Wirtschaftsblöcke in diesem Prozess spiegelt sich bereits in anderen Politikbereichen. Die neue Konjunktur einer Sorge um den Datenschutz ist auch eine industrielle Sorge, egal ob sie unter der Überschrift des NSA-Skandals steht wie in Europa, unter der Überschrift der Homeland Security wie in den USA oder unter der Überschrift einer verstärkten staatlichen Internet-Überwachung und nationalen Plattform-Autonomie wie in China. Der Kampf um die globale Arbeitsteilung im Zuge der Industrie 4.0 hat längst begonnen.

Wie passt der Mensch in die Industrie 4.0?

Die verschiedenen Sichtweisen dieses Umbruchs bestimmen auch die Perspektive auf den Umbruch der Arbeit, der damit einhergeht. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat, passend zur Industrie 4.0-Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, ein Grünbuch Arbeiten 4.0 (2015) vorgelegt. Die Leitfrage dabei ist, wie ArbeitnehmerInnen die Anforderungen einer flexibilisierten, verwissenschaftlichen, dynamischen Arbeitswelt aushalten können. Dass es um »die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland und Europa« und eine »Neuverteilung der Märkte« geht, wird gleich in der Einleitung vorausgesetzt: »Kommt das Auto der Zukunft aus Stuttgart, Wolfsburg oder dem Silicon Valley?« (ebd., 6), wird dort gefragt. Die Frage nach der Arbeit mündet im Grünbuch in die Forderung nach einem »neuen Normalarbeitsverhältnis«, das sich auf »kleine Vollzeit« und einen »neuen Flexibilitätskompromiss« stützt, das heißt Lebensarbeitskonten, Telearbeit und einen staatlichen Ausgleich für »Familienarbeit« als neue Lohnersatzleistung. Dass die Probleme einer Entwertung und Aushöhlung der bisherigen Mitbestimmungsmodelle und staatlichen Regulierungsmöglichkeiten durch transnationale Konzernstrukturen bereits spürbar sind und Finanzinvestoren dabei eine treibende Rolle innehaben, wird hier zwar angesprochen. Die Perspektive erschöpft sich jedoch in neuen (staatlichen und tariflichen) Arbeitsschutzregelungen, die Entgrenzung und Verdichtung individuell aushaltbar machen sollen. Ähnlich umgegangen wird mit der verstärkten Spaltung in qualifizierte Normalarbeitsverhältnisse und prekäre Jobs, verbunden mit einer zunehmenden Lohnspreizung und einer grundsätzlichen Arbeitsplatzunsicherheit für große Teile der Arbeitnehmerschaft. Hier hat das Grünbuch gar keine Lösungen im Angebot, sondern spielt die Probleme herunter: »Die meisten Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten noch in stabilen und abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen.« (Ebd., 22) Die Arbeit 4.0, so der Schluss des Grünbuchs, muss in einem »sozialen Kompromiss« bewältigt werden: zwischen den unerbittlichen Anforderungen der neuen Produktionsweise und den eher traditionellen Grenzen der menschlichen Arbeitskraft und Lebensweise. Crowdworking mit Stundenlöhnen um die 1,25 US-Dollar, im Grünbuch nur vorsichtig angesprochen, ist in den USA bereits ein Massenphänomen (vgl. dazu ausführlich Altenried in diesem Heft). Die andere Seite der ›Dualisierung‹ sind die Spitzenkräfte der kreativen Arbeit im industrial internet, denen Unternehmen eine optimale Arbeitsumgebung und eine Fülle von Vergünstigungen bieten. Legendär war Googles »20 % time«, nach der MitarbeiterInnen 20 Prozent ihrer Arbeitszeit für selbst definierte, eigenständige Projekte verwenden konnten. Attraktive, kreative Arbeitsumgebungen (freies Essen, freie Zeiteinteilung, Angebote für Wohnen und Kinderbetreuung, Büros, die »aussahen wie ein Spielplatz für Erwachsene«, wie Anja Tiedge im Spiegel schrieb) verfolgten einen doppelten Zweck. Zum einen ging es darum, aus den KreativarbeiterInnen das Maximale an Output herauszuholen. Zum anderen war diese ›Algo-Elite‹, das heißt die Leute, die in der Lage waren, Computer-Routinen für komplexe Vorgänge zu entwickeln und zu programmieren, heiß umkämpft. Zwischen 2005 und 2009 bestand eine Absprache zwischen Google, Apple, Intel, Adobe, Pixar, Intuit und Lucasfilms, sich gegenseitig keine Angestellten abzuwerben, um sich nicht gegenseitig zu ruinieren. Für dieses no cold call agreement zahlen die Firmen im Rahmen eines gerade rechtskräftig gewordenen Vergleichs 415 Millionen US-Dollar als Kompensation an Angestellte, die 2013 dagegen geklagt hatten. Eine wesentliche Voraussetzung für jede Hightech-Strategie ist es, die ArbeiterInnen zu produzieren (oder global anzuwerben), mit denen die neue, hoch integrierte Produktion oder die Entwicklung der neuen digitalen Produkte möglich ist. Dabei geht es insbesondere um die Fachkräfte unterhalb der ›Algo-Elite‹. Einerseits entstehen in der 4.0-Fabrik Berufe, die ein technisch-wissenschaftliches Verständnis erfordern, das weit über die bisherigen Anforderungen an industrielle Fachkräfte hinausgeht. Andererseits werden Benutzeroberflächen und intuitive Steuerungstools entwickelt wie Celos von DMG Mori, durch die das Steuern einer komplexen Werkzeugmaschine innerhalb weniger Stunden erlernt werden kann. Das wiederum setzt bei den neuen Werktätigen einen hohen Stand von allgemeiner Bildung voraus. Bildungssysteme und Bildungsausgaben sind daher von entscheidender Bedeutung. China hat zwischen 2000 und 2010 die Zahl seiner Universitäten verdoppelt und die Höhe seiner öffentlichen Bildungsausgaben verfünffacht. Starke Bemühungen liegen auf dem Aufbau eines Systems dualer beruflicher Bildung, das sich am deutschen Vorbild orientiert. Auch andere Länder setzen auf Bildungsoffensiven. Regional betrachtet ist der Anteil öffentlicher Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt derzeit in Afrika am höchsten. In China und ebenso in den USA werden zwei Drittel aller Bildungsausgaben privat getätigt, von Familien, die die Bildung und Ausbildung ihrer Kinder finanzieren. Das können nicht alle. Bildung ist daher im Moment weltweit der zentrale Motor einer neuen Qualität von Klassengesellschaft. Private Bildungsausgaben sind das Investment, mit dem ein globales Bürgertum dafür sorgt, dass seine Kinder wieder die Jobs im oberen Viertel der Einkommenshierarchie besetzen werden. Um in der neuen globalen White-Collar-Klasse bestehen zu können, ist auch eine multikulturelle Offenheit unverzichtbar. Nicht zuletzt deshalb sind Nationalismus, Rassismus oder Sexismus alter Schule im neuen Bürgertum im Prinzip out. Was nichts daran ändert, dass die globale wie nationale Arbeitsteilung in der sich abzeichnenden Industrie-4.0-Welt rassistisch, sexistisch und neokolonial ist und bleibt. Wer low on the foodchain arbeitet, also in Berufen und Tätigkeiten mit niedrigerer Wertschöpfung, dessen Arbeit verliert derzeit beständig an relativem Wert, an Sicherheit und Bezahlung. Prekarität ist hier das neue Normalarbeitsverhältnis, und es sind die Berufe, bei denen Frauen, MigrantInnen und Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen dominieren.

Getting organized

Die Auseinandersetzungen um die neue Arbeitswelt haben bereits begonnen, an beiden Enden. Die IG Metall führt nicht nur längst Tarif- und Betriebsverhandlungen um Arbeitszeitkonten, Weiterbildungsrechte und Datenschutz. Sie hat auch eine Beratungsplattform für CrowdworkerInnen eingerichtet (FairCrowdWork Watch)1

und versucht, die Zuständigkeit der Betriebsräte für die LeiharbeiterInnen und WerkvertragsnehmerInnen durchzusetzen. Die sehr mobilisierungsstarke Aufwerten-Kampagne von ver.di hat die Gleichbezahlung nichttechnischer Berufe, speziell der Sozial- und Erziehungstätigkeiten, auf die Tagesordnung gesetzt. Während für die prekären Jobs Organizing-Konzepte getestet werden, wird im öffentlichen Dienst versucht, Arbeitsverdichtung und schlechte Arbeitsstrukturen im Rahmen von ›Gefährdungsanalysen‹ anzugehen. »Wir brauchen eine Plattform, die von den ArbeiterInnen selbst betrieben wird«, schrieb die Turkerin Kristy Milland, die im letzten Jahr eine globale Protestbrief-Aktion von Amazons Crowdworkern organisiert hatte.2 Unter dem Stichwort platform cooperativism wird unter linken US-amerikanischen Intellektuellen diskutiert, ob ›virtuelle Unternehmen‹ eine neue Chance der Arbeiterselbstverwaltung sind. Die chinesische Zivilgesellschaft macht derweil Druck, dass eine qualifizierte gesellschaftliche Produktion nicht ohne mehr Spielräume für qualifizierte NGOs möglich ist. Globale NGOs und Kampagnen haben durch die Fokussierung von Konsumentendruck neue Durchsetzungsstrategien gegenüber transnationalen Konzernen entwickelt. Die Debatte und Praxis der politischen Akteure sind dagegen noch nicht auf der Höhe der Zeit, wenn es um die Arbeit 4.0 geht. Thesen vom »Ende der Arbeit« oder der »Arbeitsgesellschaft«, die schon in den 1970er Jahren falsch waren, werden auch heute nicht weiterhelfen (vgl. dazu Krämer in diesem Heft). Die neuen Formen der gesellschaftlichen Produktion sind sozialistischen Perspektiven nicht automatisch näher, aber auch nicht ferner als frühere Industriestufen. Dafür ist aber eine Programmatik nötig, die einerseits radikal genug ist, um in den verschiedenen konkreten Auseinandersetzungen eine Richtung zu weisen, und andererseits nahe genug dran ist an den realen Entwicklungen. 

Hierzu einige Hinweise: 

 

  1. Wir brauchen eine neue Generation von Arbeitsrechten. Diese müssen sowohl Schutzrechte sein als auch offensiv die neue Stellung der Arbeitenden in der Produktion einfordern. »20 % time für alle« ist eine gute Forderung, ein Recht auf Aufstieg in höher qualifizierte Tätigkeiten für alle ebenfalls. Wer schon für einen Betrieb gearbeitet hat, muss bei der Stellenbesetzung bevorzugt werden – egal, ob er oder sie Crowdworker war, Leiharbeiter, Werkvertragsnehmerin oder Festangestellter. 
  2. Wir brauchen eine neue Generation von Mitbestimmung. Dabei muss der Betrieb, egal wie materiell oder virtuell er ist, im Mittelpunkt stehen. Das erfordert auch eine Mitbestimmung der Betriebe innerhalb des Konzerns. Es erfordert volle Informationsrechte der Beschäftigten und eine Mitbestimmung über alle wesentlichen Entscheidungen, die über dem Durchgriffsrecht von Konzernzentralen und Investoren stehen. 
  3. Wir brauchen eine neue Generation von demokratischer Steuerung. Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus hat seine Rolle bei der Globalisierung der Produktion in den 1980er und 1990er Jahren gespielt. Für das Verfolgen von »long term goals over short time goals«, wie es in der ›Gründungserklärung‹ von Google hieß, ist er ungeeignet. Die neue Welle von öffentlichen Infrastrukturinvestitionen und öffentlicher Planung, die erforderlich ist, muss durch verpflichtende staatliche Unternehmensbeteiligungen abgesichert werden. Die Entgrenzung zwischen ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Folgen betrieblichen Handelns verlangt nach einer Drittelparität, in der die Unternehmensführung zwischen EigentümerInnen, Beschäftigten und VertreterInnen gesellschaftlicher Interessen (also beispielsweise aus NGOs und Wissenschaft) geteilt ist. 
  4. Wir brauchen eine neue Generation von Bildungsausgaben. Dabei darf nicht nur das Schaffen von Bildungseinrichtungen im Fokus stehen, sondern auch die Frage, wie Familien von den privaten Bildungsausgaben entlastet und eigene Bildungstätigkeiten vor allem in den ressourcenschwachen Gruppen unterstützt werden können. Öffentliche Bildung braucht eine Aufgabenkritik und eine neue Arbeitsteilung mit betrieblicher Bildung. Statt wahllos Bildungsinhalte für mögliche spätere Verwendungen vorzuhalten, müssen spezifische Inhalte und Qualifikationen in betrieblichen Bildungsinstitutionen erlernbar sein, während der Anstellung, während die allgemeinbildenden öffentlichen Bildungsinstitutionen wieder den Anspruch auf eine demokratische Bildung zur Förderung von Mündigkeit und Persönlichkeitsentwicklung zurückgewinnen müssen. Liebe Betriebe, wenn ihr mehr MINT (Sammelbezeichnung für die Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) braucht, dann bildet und finanziert euer MINT doch bitte selber. 
  5. Wir brauchen eine neue Generation des Rechts auf Arbeit (vgl. Riexinger in diesem Heft). Diese darf nicht nur irgendeine Beschäftigung beinhalten, sondern das Recht auf die gesamten gesellschaftlichen und persönlichen Potenziale der Arbeit. Das muss einerseits gesetzlich von den Betrieben verlangt werden: Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Organisationsfreiheit, Diskriminierungsfreiheit, Rechte auf Qualifizierung, Entscheidungsspielräume und beruflichen Aufstieg müssen wirksam kodifiziert werden. Andererseits müssen auch die Rechte der selbständigen Tätigkeit, und zwar insbesondere in ihren kollektiven Formen der Selbstverwaltung, geschützt und gefördert werden – der Markt allein wird es nicht richten, schon gar nicht der ziemlich gnadenlose Markt der Aufmerksamkeitsökonomie in den digitalen Bereichen, der Größe, Zentralität und Kapital hemmungslos belohnt. Der Gedanke der Netzneutralität muss weitergedacht werden bis hin zur Zuliefererneutralität und Neutralität der neuen manifacturing clouds. Plattformen prekä­rer Arbeit gehören in Arbeitnehmerhand, und zwar per gesetzlichem Dekret. 

Das ist noch kein Sozialismus. Aber es sind politische, soziale und gewerkschaftliche Auseinandersetzungen, die von der Vorstellung inspiriert und orientiert sind, dass die Arbeitenden die Produktion letztlich auch selbst machen können, weil sie sie sowieso schon machen. Und ohne Klarheit über die neue Generation von Rechten und Regulierungen wird auch kein Sozialismus 4.0 funktionieren.

1 Vgl. www.faircrowdwork.org. 2 Vgl. http://platformcoop.net/participants/kristy-milland.

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