Die europäische Schuldenkrise ist auch eine Krise der (repräsentativen) Demokratie. In Griechenland und Italien wurden gewählte Regierungen durch Sparfunktionäre ersetzt, die sicherstellen sollen, dass die Forderungen der Gläubiger auf Kosten der unteren und mittleren sozialen Schichten erfüllt werden – im Namen der deutschen und französischen Regierungen und der Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds. Die Austeritätspolitik in den Defizitstaaten könnte man das »deutsche« EU-Modell nennen (frei nach CDU-Bundestagsfraktionschef Volker Kauder). So scheint es auch gedeutet zu werden: Bei einer Umfrage des griechischen Magazins Epikaira vom Februar 2012 bejahten 77 Prozent der Befragten die Frage, ob Deutschland ihrer Meinung nach ein »Viertes Reich« errichten wolle. In Ungarn baut der nationalkonservative Ministerpräsident Viktor Orban, dessen Partei Fidesz (wie Merkels Christ-Demokraten und Sarkozys Union pour un Mouvement Populaire) zur Europäischen Volkspartei gehört, das Land in ein völkisch-autoritäres Gemeinwesen um und belebt groß-ungarische Kräfte. Die europäischen Konservativen stützen Orbans Kurs; inzwischen leitete die EU-Kommission mehrere Verfahren wegen Verletzung der EU-Verträge ein. Die ungarischen Neo-Faschisten von Jobbik liegen in Umfragen noch über dem 17-Prozent-Wahlergebnis von 2010. Im Nachbarland Österreich nähert sich die Freiheitliche Partei Österreichs den 30 Prozent und könnte stärkste Kraft werden. In Frankreich holte Marine Le Pen von Front National 18 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen und drängt ihren Konkurrenten nationalistische Themen auf. In Finnland haben die rechtspopulistischen Wahren Finnen das politische Konsenssystem durcheinander gewirbelt. Die völkische Dänische Volkspartei konnte zeitweise eine Wiedereinführung der Kontrollen an Dänemarks Außengrenzen erzwingen. Die United Kingdom Independence Party macht Stimmung gegen die EU als »modern day Völkerkerker« (Parteiführer Nigel Farage) und drängt auf ein Referendum zum EU-Austritt Großbritanniens. Geert Wilders’ Partij voor de Vriejheid gelingt es als Stütze der rechtsliberalen Minderheitenregierung der Niederlande, wichtige Entscheidungen zu beeinflussen, wie die Blockade gegen den Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens. In Lettland marschierten im März die Anhänger der lettischen Waffen-SS-Legionen, mit Unterstützung der rechten und konservativen Parteien sowie des Staatspräsidenten Andris Bērziņš; solche Aufmärsche finden auch in Estland und Litauen statt. Die Regierungen Großbritanniens und Tschechiens aus der Conservative Party und der Občanská Demokratická Strana, den führenden Mitgliedern der nationalkonservativen Europapartei Alliance of European Conservatives and Reformists (AECR), verweigerten als Einzige dem von Deutschland vorgelegten Fiskalpakt die Gefolgschaft – er rüttle zu sehr an der nationalen Selbstbestimmung.
Warum wird rechts gewählt?
Die Forschung zum Wählerverhalten zeigt, dass die soziale Lage eine wichtige Rolle bei individuellen Wahlentscheidungen spielt. Alan Kessler und Gary Freeman führen in einem Vergleich von Forschungsergebnissen (2005) auch das Versagen linker und sozialdemokratischer Parteien bei der Vertretung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen »benachteiligter Gruppen« an. Dies gebe rechten Parteien den Raum, aus Ressentiments Kapital zu schlagen und sozialen Verwerfungen mit nationalen Identitätsangeboten zu begegnen.
Seit den 1970er Jahren findet ein globaler ökonomischer und sozialer Wandel statt: Die Schlagworte sind Individualisierung, Entgrenzung, globale wirtschaftliche Verflechtung. Der Keynesianismus wurde vom Neoliberalismus abgelöst, weil »die Schicht, deren Interessen er vertrat, – die Arbeiterschaft der westlichen Industrieländer –, sich in einem historischen Niedergang befand« schreibt Colin Crouch (2011, 19).
Die – je nationale – Arbeiterklasse stellte bis dahin die Stammwählerschaft der linkssozialistischen, kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien. Der keynesianische Klassenkompromiss erodierte; die resultierende soziale Ungleichheit hatte »negativen Einfluss […] auf das Ansehen von Parlamenten, Politikern und der Demokratie« (Schäfer 2010, 151). Das bietet Anknüpfungspunkte für rechte und rechtsextreme Parteien, die sich als »Anti-System-« und »Anti-Eliten-Parteien« präsentieren.
In der Europäischen Gemeinschaft trieben spätestens seit Anfang der 1980er Jahre wirtschaftliche Interessenverbände, nationale Regierungen und die EU-Kommission die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes (freier Waren-, Kapital-, Dienstleistungs-, Arbeitskräfteverkehr) voran, 1992 wurde der Vertrag über die Europäische Union in Maastricht verabschiedet. Dessen neoliberale Weichenstellung bestimmt die EU-Integration bis heute. Linkssozialisten und Kommunisten in Europa hielten mehrheitlich am Bild von der Arbeiterklasse aus industriellen Hochzeiten fest und versuchten, die im 20. Jahrhundert erkämpften nationalen Sozialsysteme gegen die europäisierten und globalisierten Liberalisierungsprozesse zu verteidigen, während sich sozialdemokratische Parteien seit Ende der 1990er Jahre bemühten, die konservativen und liberalen Parteien mit neoliberalen Programmen zu übertrumpfen. Weder den beiden traditionellen linken Parteienfamilien noch den europäischen Gewerkschaften ist es gelungen, den entgrenzten und diversifizierten sozialen Strukturen ein neues linkes Gesellschaftsprojekt entgegen zu stellen.
Die sozialwissenschaftliche Literatur zeigt vielfach, dass soziale Schichten und Milieus, deren materielle Interessen nicht mehr repräsentiert werden, sich verstärkt rechten Parteien zugewandt haben. Der Kampf gegen Re-Nationalisierung ist ein sozialer. Menschen, die aufgrund des post-industriellen Wandels sozial absteigen, also all jene, deren individuelle Chance, die eigene Haut auf deregulierten EU-Märkten zu verkaufen, gering ausfällt, neigen am ehesten dazu, Einwanderer und ethnische Minderheiten für die widrigen Bedingungen verantwortlich zu machen, und wenden sich der extremen Rechten zu. Angst vor sozialem Abstieg kann ein wichtiger Faktor für rechte Wahlerfolge sein (vgl. Hentges u.a. 2003). Gegen Prekarisierung und globalisierte Wirtschaftsprozesse, offene Grenzen und Einwanderung erscheint das eigene »Volk«, die eigene »Nation«, der Nationalstaat als rettende Insel.
Die Angaben zu den EurobarometerUmfragen1 der EU-Kommission zeigen, dass auch die Bewertung der EU von der Position auf der »sozialen Leiter« (Kommission) abhängt: Die oberen Schichten bewerten die EU-Integrationspolitik positiver als Menschen auf den unteren »sozialen Stufen«. Daniela Braun u.a. (2010) zeigen, dass ablehnende Haltungen gegen EU-Integration und Zuwanderung tendenziell zusammenfallen.