Die Reform des Wahlgesetzes und die Niederlage der “Partei des Establishments”

Das neue, im November 2017 angenommene Wahlgesetz ist eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht: es sieht einen Anteil von etwa 35 Prozent für direkt nach der Mehrheitsregel gewählte Repräsentant*innen vor. Die verbleibenden etwa 65 Prozent werden nach Stimmanteile der jeweiligen Listen vergeben. Es sieht auch die Möglichkeit von Koalitionen verschiedener Parteien vor, jedoch ohne Bonus für den Sieger. Ferner führt es, sowohl für die Abgeordnetenkammer als auch für den Senat, eine 3 Prozent-Hürde ein. Nachdem das vorherige Systems vom Verfassungsgericht gekippt worden war, hatten die Demokratischen Partei (Partito Democratico, PD) von Matteo Renzi und die Forza Italia (FI) von Silvio Berlusconi eine gemeinsame Vereinbarung für die Reform entwickelt. Berlusconi konnte sich in diesem Prozess als „Staatsmann“ rehabilitieren und wurde – trotz seiner strafrechtlichen Verurteilungen – wieder eine zentrale Figur. Nachdem das Gesetz verabschiedet war, konnten PD und FI auf den größten Anteil von Stimmen hoffen, ohne dass jedoch eine von ihnen damit rechnen konnte, genug Sitze für eine Alleinregierung zu gewinnen. Insofern hatte die Reform im Grunde drei Hauptziele: erstens, eine „Große Koalition“ von PD und FI zu ermöglichen; zweitens, die Fünf-Sterne-Bewegung an den Rand zu drängen, die eine Koalition mit anderen Parteien zuvor ausgeschlossen hatte; drittens, kleinere politische Kräfte zu benachteiligen – insbesondere jene, die links des PD stehen. Die Schaffung eines „breiten Übereinkommens“ zwischen den Konservativen (die Forza Italia ist Mitglied der EPP) und der Sozialdemokratie (der PD ist Mitglied der PES) ist auch Ergebnis einer seit zehn Jahren andauernden und bis heute ungelösten ökonomischen und sozialen Krise. Sie ist gewissermaßen auch Zielpunkt einer gesamten politischen Periode, die zunächst durch „technokratische“ Regierungen (Monti 2011/13 und Letta 2013/14) und mehrere sogenannte „breiten Übereinkommen“ charakterisiert war. Diese zielten auf eine nahezu mechanische Implementierung von Austeritätspolitiken. Auf diese Phase folgte die Renzi-Regierung (2014/16) und (in absoluter Kontinuität mit dieser) die Gentiloni-Regierung. Beide setzten bereitwillig neoliberale Reformen in der Bildungspolitik und in der Deregulierung des Arbeitsmarkts um. So trugen sie aktiv zu einem Prozess der massenhaften Prekarisierung und Verarmung bei. Das Referendum zur Anerkennung einer neo-zentralistischen und autoritären Verfassungsreform fügt sich in dieses Bild. Das Scheitern des Referendums am 4. Dezember 2016, zusammen mit den Ergebnissen etlicher Kommunalwahlen, markiert jedoch den Beginn des Niedergangs von Renzi als einem politischen Phänomen. Er stand für den Versuch, die Demokratische Partei auf neoliberale Weise zu „modernisieren“. Diese „genetische Mutation“ des PD reiht sich ein in zwei Jahrzehnte des politischen Scheiterns von Mitte-Links-Regierungen und befördert den Niedergang der Sozialdemokratien quer durch Europa. In Italiens hat dies dazu beigetragen, dass die PD und Berlusconis Forza Italia als zwei verschiedene und dennoch ähnliche Varianten einer einzigen “Partei des Establishments” betrachtet werden. Das erklärt, weshalb die Wahlergebnisse anders ausfielen, als es Renzi und Berlusconi vermutet hätten, und warum beide zu den großen Verlierern der Wahlen des 4. März zählen.

Sieger ohne Mehrheit I: die Neue Rechte der Lega

Die Lega ist als Partei aus der „systemischen Krise“ der sogenannten Ersten Republik hervorgegangen, die eine Folge der Aufdeckung endemischer Korruption in den Jahren 1992-93 war. Die frühe Lega Nord trat vor allem für regionale Autonomie (bis hin zum Sezessionismus) der reichsten Regionen Norditaliens ein und beanspruchte für sich die Repräsentation der „produktiven Klassen“,  nicht zuletzt der großen Zahl von Selbständigen. Fast zwanzig Jahre war sie Juniorpartner der Mitte-Rechts-Koalitionen, die Berlusconi anführte. Mit der Forza Italia teilte sie sich die Regierungsverantwortung bis 2011. In den Jahren 2012 bis 2013 war die Lega wiederum selbst in Skandale rund um das Management öffentlicher Finanzierungen verwickelt. Salvini entmachtete die Parteigründer, übernahm die Führung und transformierte die Identität und politische Orientierung der Partei. Die Lega regiert noch immer die Regionen Lombardei und Veneto, gilt nun jedoch als eine politische Kraft der populistischen Rechten. Sie lehnt die Europäischen Union und den Euro ab, ihr explizit rassistischer Kampf gegen Einwanderung ist ihr wichtigstes Mittel der Mobilisierung. In diesem Sinne wurde die Lega international zur Referenz für „die Franzosen Le Pens, die Niederländer von Wilders, die Österreicher von Mölzer“[1] etc. Im Parteinamen ist inzwischen die regionale Bezugnahme auf den „Norden“ Italiens verschwunden, ihre Kampagnen zeichnete sich durch nationalistische Slogans aus: mit „Italiener zuerst“ werden rassistische Gewalttaten gerechtfertigt. Bei den Wahlen konnte die Partei weit mehr erreichen als in allen Prognosen vorhergesagt: Mit 17,3 Prozent wurde sie zur ersten Partei in der Wahlkoalition der Rechten, noch vor der Forza Italia mit knapp 14 Prozent (die dritte Kraft der rechten Allianz ist mit 4,3 Prozent „Fratelli d'Italia“, die „Brüder Italiens”, direkter Nachkomme der post-faschistischen Tradition). Damit ist die rechte Allianz mit 37 Prozent das stärkste der Wahlbündnisse. Da die Forza Italia Berlusconis das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erzielt hat, führt die Lega nun die gesamte italienische Rechte an (so als würde die AfD die CDU/CSU überflügeln). Die Lega ist dabei nicht nur die stärkste Partei in der Lombardei und Veneto, sondern auch in den ehemals „roten“ Regionen Zentralitaliens mit Ergebnissen zwischen 15 und 20 Prozent und auch im Süden Italiens, wo sie erstmals die fünf Prozent überschreitet. Die Lega scheint den Unmut der „von der Globalisierung Abgehängten“ mit dem Eigentumsegoismus der „produktiven Klassen“ in den industrialisierten Gegenden zu verbinden und dabei viele Stimmen aus der Arbeiterklasse zu gewinnen. Dies alles, obwohl ihre zentrale populäre Forderung eine Pauschalsteuer ist, die Ausdruck eines verschärften Neoliberalismus ist. In diesem Sinne vereint die Lega von Salvini das Ideal eines neuen Souveränismus mit dem des Neoliberalismus - sie ist ein genuines Produkt des „reaktionären politischen Zyklus“[2], der sich aktuell durch alle westlichen Gesellschaften und darüber hinaus zieht.

Sieger ohne Mehrheit II: der „doppelbödige Populismus“ der Fünf Sterne

Unter den Parteien, die nicht in einer Liste mit anderen antraten, hat die Fünf-Sterne-Bewegung das beste Ergebnis erzielt. Sie erhielt fast elf Millionen Stimmen, 32,7 Prozent, deutlich mehr als im Jahr 2013, als sie 25,6 Prozent erreichte. Die Veränderungen auf der wahlpolitischen Landkarte sind beeindruckend: Nord- und Zentralitalien sind blau gefärbt von den Siegen rechter Kandidat*innen (v.a. denen der Lega), während der zentrale Süden und die Inseln in Gelb leuchten, der Farbe der Fünf Sterne. Nur einige „rote“ Enklaven, in denen die PD überdauert liegen beiderseits der Apenninen, zwischen Emilia und der Toskana, und in den gentrifizierten Innenstädten der Metropole. Anders als die Lega scheinen die Fünf Sterne jedoch ein ungewöhnliches und spezifisch italienisches Phänomen zu sein. Über die letzten Jahre haben sie ihre Methode der „direkten Demokratie“ in Teilen aufgegeben  – dies hat die undurchsichtige und hierarchische Rolle der privaten Kommunikationsfirma „Casaleggio & Associates“ gestärkt, die sich immer mehr als reale Führungsstruktur der Bewegung erweist. Ihr charismatischer Gründer, der Komiker Beppe Grillo, scheint die Bühne einer neuen Generation von Führungsfiguren überlassen zu haben. Nicht einmal die keineswegs überzeugenden Erfahrungen in lokaler Regierungen in Städten wie Rom und Turin hat das Wachstum der Fünf Sterne bisher aufhalten können.[3] Die Wahlkampagne der Fünf Sterne war im Namen von „Aufrichtigkeit und Gesetzmäßigkeit“ gegen Korruption und Privilegien und gegen die „alte“ politische Klasse gerichtet sowie auf die Forderung nach einem Grundeinkommen. Letzteres hat ihren Rückhalt in den Regionen Süditaliens und in den Gegenden mit hohen Arbeitslosigkeit gestärkt, die von den sozialen Folgen der Krise am härtesten betroffen sind. Allerdings gleicht das Bürgergeld der Fünf Sterne keineswegs einem universellen und bedingungslosen „Grundeinkommen“, sondern vielmehr einem niedrigen neoliberalen „Minimaleinkommen“, das an die Pflicht zur Arbeit geknüpft ist. Nach außen versuchte die neue Führung der Fünf Sterne unter Luigi Di Maio den Eindruck von „Verantwortung und Verlässlichkeit“ zu vermitteln und internationale Anerkennung an den Finanzmärkten wie auch den europäischen Institutionen zu erringen, um sich auf die Regierungsmacht vorzubereiten. Mit der Aufweichung ihrer Position zum Euro sowie ihrer Zustimmung zur Europäischen Union und dem bestehenden internationalen Bündnissystem haben sie ihre frühere souveränistische Haltung weitgehend abgelegt. Mit ihrem Diskurs des „weder rechts noch links“ bleibt die Programmatik der Partei weiterhin doppelbödig: immer wieder macht sie sich Anti-Einwanderungs-Positionen zu Eigen und sprach sich etwa für die Blockade der Einreise von Migrant*innen aus, wie sie die PD-Regierungen verfolgte. Auch ihre Vorstellung einer „Rückkehr“ zu einem „ehrlichen und leistungsorientierten“ Kapitalismus zeigt ihre Nähe zu neoliberalen Positionen in der sozialen Frage. Dennoch gelingt es ihr, verbreitete Forderungen nach grundlegender Veränderung aufzunehmen und einen beachtlichen Teil der linken Wähler*innen anzuziehen. Damit stehen auch soziale Erwartungen an die Fünf Sterne im Raum.

Und die Linke?

Die sogenannten Regierungen der „breiten Übereinkommen“, gefolgt von der Regierungszeit Renzis, der Durchsetzung neoliberaler Gegenreformen und dem spaltenden Verfassungsreferendum haben es unmöglich gemacht, wahlpolitische Allianzen zwischen der PD und den Parteien links von ihr aufrechtzuerhalten oder neu zu beleben. Politische Formeln wie der Olivenbaum (Ulivo in den 2000er Jahren) oder die Linke der Mitte (Centro-sinistra in den 2010er Jahren) stehen gegenwärtig nicht zur Debatte. Vor diesem Hintergrund haben sich in den letzten Jahren unterschiedlichste Kräfte der fragmentierten italienischen Linken in vielfältige Prozesse des Zerfalls und der Neuzusammensetzung begeben. Sinistra Italiana (dt. Italienische Linke), die Partei, die aus der Sinistra Ecologia Libertà (SEL) hervorging und zum großen Teil aus der Generation der Antiglobalisierungsbewegung von Genau 2001 hervorgeht, bemühte sich, einen „vierten Pol“ in der italienischen Politik zu bilden. Er sollte eine Verbindung aufbauen zwischen der politischen Linken und all den Teilen der italienischen Gesellschaft, die unter den sozialen Folgen der Krise besonders leiden. Eine solche Kraft, ein solches Bündnis sollte auch ein Wahlangebot umfassen:  eine vereinte linke Plattform als Alternative zum PD. Dieser Versuch brachte einen beachtlichen Teil früherer PD-Mitglieder zusammen, die – vermutlich zu spät! – ihre Partei aufgrund der Politik Renzis verlassen und  Articolo1 – Movimento dei Democratici Progressisti (MDP) gegründet hatten. Beginnend mit der Initiative von drei politischen Parteien – MDP, Possibile und Sinistra Italiana – einer „zivilen, progressiven, ökologischen und linken” Formation – wurde im Dezember 2017 eine Wahlplattform namens Liberi e Uguali (dt. Die Freien und Gleichen) aufgebaut und von Pietro Grasso, früherer Anti-Mafia-Staatsanwalt und amtierender Senatspräsident, angeführt. Umfragen sagten einen Stimmenanteil von sieben Prozent voraus; doch die Wahlergebnisse von Liberi e Uguali (LeU) blieben weit dahinter zurück: 3,4 Prozent der Stimmen, also nur 14 Abgeordnete und vier Senator*innen– eine herbe Enttäuschung. Die Verfechter von LeU hatten zwar verstanden, dass Millionen linker Wähler*innen dem PD den Rücken gekehrt hatten (Von 12.095.000 Stimmen im Jahr 2008 zu 6.134.000 Stimmen im Jahr 2018). Doch gleichzeitig war die Plattform nicht in der Lage, diesen Wähler*innen eine überzeugende politische Alternative zu bieten. Die Plattform fing nur einen minimalen Teil von ihnen auf: Einer Umfrage zufolge[4] wählten lediglich sechs Prozent der 2013 vom PD abgewanderten Wähler*innen diesmal LeU. Und die absolute Zahl der auf LeU entfallenden Stimmen ist unwesentlich höher als jene, die die SEL im Jahr 2013 allein erzielte. Um dieses Scheitern zu verstehen, muss man in der Analyse tiefer gehen und nach den strukturellen Gründen fragen. Eine solche Diskussion steht noch ganz am Anfang; erst recht, was die politischen Perspektiven angeht. Ein Problem war unter Umständen, dass das politische Personal, die Kandidat*innen und das programmatische Profil zu allgemein erschienen. Das Image der LeU wurde eventuell zu stark in Kontinuität mit der Mitte-links-Vergangenheit wahrgenommen. Zugleich ist klar, dass die Fünf Sterne Bewegung den wahlpolitischen Raum mit Forderungen nach radikalem Wandel und Bruch mit dem Status quo geradezu „durchtränkt“ hat. Differenziertere und genuin linke Positionen konnten dagegen nicht durchdringen. Offenkundig gibt es ein strukturelles Unvermögen, die Klassenzusammensetzung der italienischen Gesellschaft und ihrer Transformationen zu erkennen und zu verstehen. Ein angemessenes und nachhaltiges politisches Projekt muss indes mit genau dieser Perspektive beginnen. Ein solcher Entwurf muss einen Raum radikaler Neuerfindung für die gesamte Linke eröffnen – eine Neuerfindung des Diskurses und des Programms, der Sprache und organisatorischen Formen. In diesem Zusammenhang sind auch einige positive Aspekte im Wahlergebnis von Liberi e Uguali zu nennen, die nicht unterschätzt werden sollten: es gibt im italienischen Parlament wieder eine Repräsentanz der Linken. Dieser Umstand wird in den kommenden Monaten nützlicher und wertvoller sein als je zuvor: es gilt einen Kontrast zur aggressiven neoliberalen und rassistischen Rechten zu bilden und die zahlreichen Widersprüche der Fünf Sterne aufzudecken. Dies gilt umso mehr in einem Szenario extremer Unsicherheit und Unberechenbarkeit, in dem keine Partei oder Koalition über ausreichend Sitze verfügt, um die Regierungsmehrheit zu bilden. Die Wahlkampagne der LeU hat darüber hinaus tausende von Aktivist*innen mobilisiert und eine wertvolle Basis von lokal verankerten Plattformen geschaffen, in denen Aktive aus diversen politischen Hintergründen zusammenkamen. Mit dem Corbyn-Slogan „For the many, not the few“ hat die Kampagne die ungleiche Verteilung des Wohlstands aufs Tapet gebracht – und damit versucht, die soziale Gerechtigkeit zurück ins Zentrum der öffentlichen und politischen Debatte zu holen. Daneben gab es linke Listen mit noch schlechteren Ergebnissen, die ohne gewählte Repräsentant*innen nun zur parlamentarischen Bedeutungslosigkeit verdammt sind. Dies gilt für Potere al Popolo (Die Macht dem Volke) die aus dem sozialen Zentrum ex OPG in Neapel hervorging und auch Rifondazione Comunista, das EuroStop-Netzwerk und kleinere kommunistische Parteien einschließt. Obwohl Potere al Popolo in einigen Städten von aktivistischen Gruppen stark unterstützt wurde, den Rückhalt internationaler linker Medien und auch einiger maßgeblicher Sponsoren hatte – wie etwa Jean-Luc Melenchon und Sahra Wagenknecht –, vereinte die Liste nur 372.000 Wähler*innen auf sich, was einem Anteil von 1,1 Prozent entspricht. Sie hatte keine Unterstützung durch die Mehrheit radikaler sozialer Bewegungen. Diese zogen es vor, dem wahlpolitischen Wettbewerb fernzubleiben und sich auf wichtige antifaschistische und antirassistische Mobilisierungen zu konzentrieren. Ihr „populistischer“ und „anti-europäistischer“ Diskurs vermochte die „anti-systemischen“ Wähler*innen nicht zu erreichen, die von der Fünf-Sterne-Bewegung effektiver abgeholt wurden. Welche Zukunftsperspektiven sich für das Netzwerk und für die Aktiven darin ergeben, ist noch eine offene Frage.[5]

Die neoliberale governance der Unregierbarkeit

Wenn man aus einer europäischen Perspektive auf Italien blickt, stellt sich die übliche alte Frage: ist der italienische Fall eine „Anomalie“, ein scheinbar nie endender Übergang? Oder ist Italien als ein Laboratorium zu sehen, dessen Phänomene, Kräftekonstellationen und Lösungen mögliche Entwicklungen im Rest Europas vorwegnehmen? Darauf lässt sich derzeit keine eindeutige Antwort geben. Es hilft jedoch, auf einige Tatsachen zu blicken, die hinter diesem Panorama stehen. Die erste verbirgt sich in einem scheinbaren Paradox: trotz des Wahlsieges zweier unterschiedlicher Kräfte, die in der Erzählung des Mainstreams als „anti-systemisch“ gelten, brach keine Panik an den Finanzmärkten aus, die Börsen in London oder Frankfurt zuckten nicht mit der Wimper, der Zinssatz auf Staatsanleihen zeigte keinen dramatischen Anstieg und die europäischen Botschaften demonstrierten vollkommenes Vertrauen in die Stabilität italienischer Institutionen. Dafür kann es unterschiedliche Erklärungen geben. Zuallererst: nach anderthalb Jahren Trump-Präsidentschaft und nationalistischen Regierungen in mehreren osteuropäischen Ländern und in Österreich ist klar geworden, dass europäische und globale kapitalistische Oligarchien solche autoritären, isolationistischen und offen xenophoben Haltungen als gangbare Optionen im Krisenmanagement ansehen: als etwas, das mit den strukturellen kapitalistischen Rahmenbedingungen kompatibel ist. Womöglich werden sie sogar als systemische Alternativen erachtet, die vor Ort getestet werden und wo sich zeigen muss, ob und wie sie funktionieren. Ohne ihnen zu nahe treten zu wollen, sollte dies doch auch alle jene – insbesondere all jene Linken – nachdenklich machen, die durch das Aufbrechen der „globalistischen Einhelligkeit“ einen neuen Raum für „revolutionäre“ Transformation am Horizont hatten aufziehen sehen. Zum Zweiten: eben jene Oligarchien und das politische Establishment scheinen das Ruder den „Autopiloten“ (um Mario Draghis Ausdruck zu benutzen) überlassen zu haben. Sprich, sie verlassen sich auf das in den letzten acht Jahren geschaffene europäisches Netz institutioneller Vorkehrungen (unter anderem der Europäischen Fiskalpakt und der Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM), das die Macht hat, die fiskalpolitischen Entscheidungen nationaler Regierung zu beeinflussen und so kurz- oder mittelfristige politische Instabilitäten aufzufangen. Neben Italien gibt es zusehends mehr Beispiele: von der monatelangen „Unregierbarkeit“ in Belgien über die wiederholten spanischen Wahlen 2015-2016 bis zu den sechs Monaten, die Deutschland brauchte, um sich auf eine neue Regierung zu verständigen. In keinem dieser Fälle geriet die Kontrolle verloren. Hier zeichnet sich eine Form der neoliberalen Regierung der Unregierbarkeit ab, d.h. ein systemisches Vermögen, auch unter Bedingungen ärgster Unsicherheit und politisch-institutioneller Instabilität Kontrolle über soziale Produktions- und Reproduktionsverhältnisse auszuüben. Genau jenen Kräften, die sich ausdrücklich reaktionär, „Anti-Establishment“ und anti-systemisch geben, kommt dabei eine Funktion der objektiven Stabilisierung zu. Dies ist ein wirklicher „Fluch“, der nur gebrochen werden kann durch einen breiten, erneuerten Zyklus sozialer Kämpfe. Diese müssen die lokale und transnationale Ebene verbinden, um wirksam zu werden. Erste Anzeichen für einen solchen Zyklus sind derzeit in den Bewegungen von Frauen und Migrant*innen zu sehen, sowie in der Neuzusammensetzung lebendiger Arbeit. Eine radikal erneuerte politische Linke muss in der Lage sein, die verstreuten und vielfältigen Forderungen nach wirklicher Veränderung aufzunehmen, neu zu interpretieren und auch auf wahlpolitischem und institutionellem Terrain zur Wirkung zu bringen. Übersetzt von Corinna Trogisch  

Anmerkungen

[1] Guido Caldiron, Dal verde al nero. La Lega di Salvini sceglie Marine Le Pen, in Europa quotidiano, 13. Dezember 2013, www.europaquotidiano.it/2013/12/12/dal-verde-al-nero-la-lega-di-salvini-sceglie-marine-le-pen/ [2]Alberto de Nicola, L’Italia nel ciclo politico reazionario, in Dinamopress, 14. Februar 2017, www.dinamopress.it/news/litalia-nel-ciclo-politico-reazionario/; [3]Beppe Caccia, Drei Populismen und kein ‘Volk’. Politische Konstellationen in Italien, in: LuXemburg, Januar 2017, www.zeitschrift-luxemburg.de/drei-populismen-und-kein-volk-politische-konstellationen-in-italien/ ; [4] You Trend, Dossier sulle Politiche 2018, www.youtrend.it/2018/03/16/il-dossier-sulle-politiche-2018/  sowie Matteo Cavallari, Giovanni Diamanti, Lorenzo Pregliasco, Una nuova Italia: dalla comunicazione ai risultati un’analisi delle elezioni del 4 marzo, Rom [5] Roberto Morea, Potere al Popolo – Die Menschen an die Macht: Bewegung und Spaltung in der italienischen Linken, in: LuXemburg, Februar 2018, www.zeitschrift-luxemburg.de/die-menschen-an-die-macht/ .