Und tatsächlich stoppten im Oktober einige EU-Staaten die Genehmigung neuer Waffenexporte in die Türkei und die EU verurteilte am 14. Oktober die türkische Invasion. Diese zurecht als unzureichend kritisierten Maßnahmen zeigen, dass öffentlicher Druck offenkundig mit einigen Konzessionen beantwortet wird. Die Frage, ob man Waffen in die Türkei liefern soll, hat damit ungemein an Bedeutung gewonnen. Doch wie ist der türkische Rüstungssektor strukturiert, der die jüngste Invasion ermöglichte und was kann in diesem Kontext von einer restriktiveren Rüstungsexportpolitik erwartet werden? Wer die Frage nach der Wirksamkeit eines kurzzeitigen Waffenembargos oder einer grundsätzlichen Revision der Rüstungsexportpolitik stellt, kommt nicht umhin, sich mit den einsatztaktischen, technologischen, rüstungspolitischen und ökonomischen Voraussetzungen des jüngsten Angriffskrieges auf Nordsyrien/Rojava zu befassen. Entgegen des massenmedial verbreiteten Bildes waren gepanzerte Kräfte, insbesondere klassische Kampfpanzer, von Beginn an für die Türkischen Streitkräfte und ihre Verbündeten von der Syrischen Nationalarmee von nachrangiger Bedeutung. Schon während ihrer ersten Offensive in Nordsyrien (August 2016 bis März 2017) und bei ihrem zweiten Angriff (Januar 2018 bis März 2018) hatten Panzer keine entscheidende, sondern eine primär begleitende Rolle. Dennoch verzeichneten sie damals erhebliche Verluste, die ohnehin begrenzten Erwartungen, die der türkische Generalstab in sie setzte, wurden offenkundig nicht erreicht. Nicht nur alte US-amerikanische M60-Panzer, sondern auch moderne deutsche Leopard-Panzer erwiesen sich als anfällig gegenüber den infanteristischen Panzerabwehrwaffen der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF). Inzwischen kommen Panzer bei der türkischen Offensive noch seltener zum Einsatz: Sie geleiten punktuell die Infanterie ins Feld. Diese führt dann die eigentlichen Angriffe zumeist dort durch, wo zuvor Artillerie- und Luftangriffe stattfanden. Eine entscheidende Voraussetzung für den Angriffskrieg in seiner gegenwärtigen Form bildet die enge operative Vernetzung aus Luftaufklärung inklusive Drohnenaufklärung und weitreichender Artillerie, die nunmehr präzise auch gegen Kräfte, die selbst keine schweren Waffensysteme verfügen, eingesetzt werden können. Entgegen verbreiteter Klischees sind die Türkischen Streitkräfte kein monolithischer schwerfälliger Apparat, sondern eine differenzierte und flexible Kriegsmaschinerie, die aus eigenen Verlusten und Niederlagen lernt.
Rolle des türkischen Rüstungssektors in der jüngsten Offensive
Auf die seit Jahrzehnten stattfindenden Debatten um eine restriktivere Handhabung von Waffenexporten in die Türkei haben die dort Verantwortlichen in Politik und im Militär längst schon reagiert. Man erinnert sich noch an zurückliegende Boykottaktionen, als zum Beispiel infolge der türkischen Invasion Zyperns 1974 die USA ein Embargo verhängten. Obwohl dieses nach drei Jahren wieder aufgehoben wurde, hatte es damals erhebliche Auswirkungen auf die türkische Marinerüstung: Die Türkei musste auf die Anschaffung gebrauchter Kreuzer aus den USA verzichten. Nicht zuletzt deshalb achtet die Türkei – trotz NATO-Mitgliedschaft – darauf, Kriege zumindest gegen kleinere Staaten im Prinzip auch ohne die Unterstützung des Bündnisses führen zu können. Dies ist historisch nicht zuletzt der Konkurrenz mit dem NATO-Mitglied Griechenland geschuldet. Auch die große Anzahl an Waffensystemen – die Türkei unterhält die zweitgrößte NATO-Armee, allein die Bestände an Kampfpanzern und Artillerie übersteigen 4.000 Systeme (vgl. Global Security 2012) – ist in diesem Sinne nicht einseitig als militärpolitischer Anachronismus zu betrachten, der auf den Nichtvollzug „moderner“ Paradigmen effizienter und flexibler Kriegsführung zurückgeht. Vielmehr garantiert dies die militärische Durchhaltfähigkeit der Türkei für den Fall, dass wichtige Importe ausfallen sollten. Zudem bemüht sich die Türkei seit Jahrzehnten um den Ausbau eigener Rüstungskapazitäten. Selbst bei importierten Systemen wird darauf geachtet, dass relevante Wartungen und Reparaturen möglichst in der Türkei durchgeführt werden können. So ist der jüngste Angriffskrieg gegen Nordsyrien/Rojava vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Rüstungsanstrengungen der Türkei zu betrachten. Von Beginn an war klar, das er nicht einfach mit Embargodrohungen aus dem "Westen" zu stoppen sein würde (vgl. Gehring 2019a). Denn nicht nur das Gros der während des Vormarsches eingesetzten gepanzerten Truppentransporter, sondern auch das Rückgrat der Artillerieoffensive, die T155-Fırtırna-Haubitze, stammt aus türkischer Produktion und Konzeption. Allerdings wird deren Motor vom deutschen Hersteller MTU geliefert. Die während der Offensive intensiv eingesetzten Drohnen entstammen mehrheitlich aus einer intensiven rüstungspolitischen Kooperation mit Israel, mit der die Türkei vor allem das Ziel einer Diversifizierung der eigenen Rüstungsproduktion verfolgte. Auch wenn diese aufgrund von politischen Spannungen zwischen beiden Staaten nicht mehr auf dem einstigen Niveau fortgeführt wird, basiert die gegenwärtige türkische Drohnenproduktion wesentlich auf den Ergebnissen der zurückliegenden Zusammenarbeit. Weitere wichtige rüstungspolitische Weichenstellungen, die den jüngsten Krieg ermöglicht haben, erfolgten bereits in den 1980er und 1990er. Damals wurden mit Deutschland umfangreiche Lieferungen von Leopard-1- und Leopard-2-Panzern vereinbart. Bei diesen wie auch bei anderen Rüstungsprojekten achtete die Türkei auf einen umfangreichen Know-how-Transfer, inklusive der Beteiligung lokaler Firmen an der Produktion. Zudem wurden Artilleriesysteme aus Deutschland testweise angeschafft. Auch hier fand bereits in den 1990er Jahren ein Transfer von Wissen und Technikexpertise statt, der zur Entwicklung der T155-Haubitze beitrug. Trotz der gestiegenen Bedeutung von Drohnenangriffen und drohnengelenktem präzisen Artilleriefeuer spielten während des Afrin-Krieges und der jüngsten Invasion F-16-Mehrzweckkampfflugzeuge eine wichtige Rolle. Aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit und großen Flughöhe, in Kombination mit präziser Munition, gab es für die SDF keine Möglichkeiten zur Flugabwehr. Im Gegensatz zu anderen Systemen findet hier in der Türkei keine lokale Entwicklung des Gesamtsystems, wohl aber dessen lokale Lizenzproduktion und sogar ein Export ins Ausland statt. Auch beim Erwerb dieses komplexen Systems in den 1980er Jahren kam es also zu einem Wissenstransfer, der über die reine Befähigung zur lokalen Wartung hinausging. Angesichts der sehr großen Bestände an Waffensystemen, auf welche die Türkischen Streitkräfte zugreifen können, und der wachsenden Fähigkeit, Ersatzteile und Schlüsselkomponenten, ja sogar ganze Waffensysteme lokal zu produzieren, hätte selbst ein umfassendes Waffenembargo kaum Einfluss auf die jüngsten Kampfhandlungen gehabt – noch nicht einmal auf den zwei Monate währenden Afrin-Krieg. Rüstungsimporte dienten der Türkei nie nur zur Ausstattung ihrer Streitkräfte, sondern sie nutzten sie für die Weiterentwicklung ihrer eigenen Rüstungsindustrie und das Ziel einer möglichst unabhängigen Kriegsführung. Allerdings wird der rein militärische Blick auf die Frage von Rüstungsexporten in die Türkei ihrer Bedeutung nicht im vollen Umfang gerecht. Es gilt, deren industriepolitische Bedeutung im Auge zu behalten.
Industriepolitische Bedeutung des türkischen Rüstungssektors
Die Türkei hat über Jahrzehnte erhebliche Summen in ihre Rüstungsindustrie investiert. Dennoch wäre es verkürzt, dies als ausschließlich als Kostenfaktor zu sehen oder gar zu meinen, mit der gegenwärtigen ökonomischen Krise würden weniger Ressourcen in den Rüstungssektor fließen. Derartige Annahmen reflektieren weder die Rolle, die der im Entstehen begriffene militärisch-industrielle Komplex in der Türkei für den lokalen Akkumulationsprozess spielt, noch dessen zunehmende export- und industriepolitische Bedeutung. Ein wichtiges nicht-militärpolitisches Ziel hinter dem staatlich forcierten Ausbau des Rüstungssektors ist die Schaffung eines international wettbewerbsfähigen Industriezweigs, der Güter von höherer Wertschöpfung produziert, als es in den meisten anderen Zweigen der türkischen Industrie der Fall ist. Die privaten (zivilen) Industrieunternehmen in der Türkei sind Teil großer Holdinggesellschaften, die in verschiedensten Bereichen (darunter auch Handel, Immobilien, Finanzdienstleistungen etc.) tätig sind (vgl. Öztürk 2010). Obwohl sie ein beträchtliches Maß an Aktivitäten entfalten, sind sie in einem beträchtlichen Maße auf ausländische Patente aus höher entwickelten kapitalistischen Ökonomien sowie auf den Import komplexer und damit teurer Vor- und Zwischengüter mit hoher Wertschöpfung angewiesen. Trotz einer breiten Angebotspalette bei den Endprodukten zählt die Türkei nicht zu den technisch führenden Industrienationen. Vor allem ist es für privatwirtschaftliche Unternehmen riskant und kurzfristig wenig profitabel, in direkte Konkurrenz mit führenden Industriekonzernen zu treten. Sie bevorzugen daher eine im Verhältnis zu diesen komplementäre Rolle. Zudem hat sich deren Tendenz – der unmittelbaren Profitlogik folgend –, Gewinne auf den profitabelsten Feldern zu reinvestieren, in den vergangenen Jahrzehnten als ein sehr erhebliches Hindernis für die Modernisierung der türkischen Industrie erwiesen – zum Beispiel, wenn Gewinne aus industriellen Aktivitäten im Finanz- oder Immobiliensektor investiert wurden. Seit Beginn der Neoliberalisierung 1980 sind die öffentlichen wie privaten Investitionen im Industriesektor beständig zurückgegangen (vgl. Akça 2010, 26). In der Folge ist es der Türkei auch in Zeiten hoher quantitativer Wachstumsraten nicht gelungen, ihre lokale Industrie grundlegend zu modernisieren. Noch immer werden für die Herstellung von Endprodukten im großen Umfang technisch anspruchsvolle Vor- und Zwischengüter teuer importiert. Technische Neuerungen in der türkischen Privatindustrie haben daher in erster Linie die Funktion sicherzustellen, dass weiterhin die modernen Vorprodukte ihrer Zulieferer verarbeitet werden können. Dies verhindert ein Abfallen in der internationalen Arbeitsteilung, induziert aber nicht zwangsläufig ein Aufschließen. Für eine großanlegte Exportoffensive ist derweil das türkische Lohnniveau zu hoch. In der Folge leidet die Türkei unter hohen Leistungsbilanzdefiziten. Nur in Zeiten tief greifender Krisen schließt sich temporär die Lücke in der Leistungsbilanz als Krisensymptom in Folge scharfer Währungsabwertungen, allgemein nachlassender Wirtschaftstätigkeit und sinkender Konsumausgaben. Sowohl die Struktur des privatwirtschaftlichen Akkumulationsprozesses als auch die spezifische Position der Türkei innerhalb der internationalen Arbeitsteilung (Stichwort: middle-income gap) behindern den strukturellen Umbau der türkischen Ökonomie, was eine Voraussetzung dafür wäre, die hohen Leistungsbilanzdefizite und die daraus resultierende Krisenanfälligkeit zu reduzieren. Dieses Problem ist den verschiedenen Fraktionen innerhalb des Blocks an der Macht seit Jahrzehnten bekannt und mögliche Lösungsstrategien sind dort Gegenstand erheblicher Kontroversen (vgl. Gehring 2019c, 247 ff). In der 1960er und 1970er Jahren wurde versucht, durch die Politik der Importsubstitution eine stärker strategische lokale Industrieentwicklung zu betreiben. Dies scheiterte jedoch zunächst an den inneren Kräfteverhältnissen: Das Bürgertum widersetzte sich erfolgreich einer höheren Besteuerung, die lokalen Sparraten blieben niedrig und das Industrialisierungsprojekt damit unterfinanziert. Es konnte folglich nur mit der Hilfe ausländischer Kredite umgesetzt werden und war damit anfällig für Verschiebungen innerhalb der äußeren Kräfteverhältnisse. Mit dem internationalen Siegeszug des Neoliberalismus sank die Bereitschaft der internationalen Geber, das staatlich koordinierte türkische Industrialisierungsprojekt weiter zu finanzieren. Die Neoliberalisierung seit 1980 war von den türkischen Eliten nicht nur zur Senkung der Löhne, sondern auch mit dem Ziel betrieben worden, das Land durch Deregulierung attraktiv für internationale Investitionen im Industriesektor zu machen (vgl. Yalman 2009). Dieses Ziel wurde jedoch größtenteils verfehlt. Stattdessen hat die Türkei infolge der Neoliberalisierung wichtige industriepolitische Handlungskapazitäten eingebüßt. Trotz anderslautender Deklarationen haben Strukturanpassungsprogramme und die EU-Beitrittspolitiken daran in den vergangenen Jahrzehnten nichts Grundlegendens verändert. Im Gegenteil: Als institutioneller Anker des disziplinierenden Neoliberalismus in der Türkei schufen sie jenes „berechenbare“ wirtschaftspolitische Umfeld mit, das für internationale Direkt- und Portfolioinvestitionen zwingend erforderlich ist. In der Summe halfen diese Investitionen, das gegenwärtige Wachstumsmodell trotz seiner hohen strukturellen Leistungsbilanzdefizite dynamisch zu konservieren, indem sie einen institutionellen Rahmen zur Finanzierung dieser Defizite kreierten (vgl. Gehring 2019c, 299 ff). Die Verträge mit der EU engen zudem den industriepolitischen Handlungsspielraum der Türkei stark ein (ebd.). Der Rüstungssektor bildet hier gleichsam eine Ausnahme, da er unter dem Primat der nationalen Sicherheit zum Teil von neoliberalen Strukturlogiken entkoppelt und weiterhin ein Primat der Importsubstitution ist (vgl. Arda 2017, 287). Wichtige türkische Rüstungsunternehmen befinden sich in Staatsbesitz und auch die privatwirtschaftliche Rüstungsproduktion wird wesentlich über staatliche Nachfrage induziert. Eine wichtige organisatorische Rolle spielen dabei staatliche Stiftungen wie die Türk Silahlı Kuvvetlerini Güçlendirme Vakfı (Stiftung der Türkischen Streitkräfte). Diese Stiftung tritt als Anteilseignerin einer Reihe türkischer Rüstungsbetriebe auf, darunter auch Mercedes Benz Türk (vgl. Akça 2010, 25). Nicht nur bei Firmen wie Aselsan, Aspilsan oder Havelsan sind, betrachtet man die Anteilsstrukturen, die Übergänge zwischen Privat- und Staatsbesitz fließend. Auch die wichtigsten Universitäten des Landes und staatlichen Drittmittelgeber, die TÜBİTAK, sind in die Rüstungsforschung miteingebunden. Die koporatistischen Elemente in der Organisation der türkischen Rüstungsindustrie ermöglichen die zielgerichtete Lenkung öffentlicher Ressourcen in ein spezifisches Segment der türkischen Industrie. Sie verfolgen deren Modernisierung hin zu einer global wettbewerbsfähigen Industrie, mit dem Ziel, auch Produkte von höherer Wertschöpfung zu produzieren und so einen positiven Beitrag zur Handelsbilanz zu leisten. Rüstungsproduktion dient in der Türkei also nicht nur der Deckung des eigenen militärischen Bedarfs, sondern ist Teil staatlicher Bemühungen, die Industrie insgesamt zu modernisieren. Denn andere industriepolitische Instrumente haben die seit Beginn der Neoliberalisierung in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen können (vgl. Gehring 2019c). Die Rüstungsindustrie verzeichnet dagegen seit Beginn der Neoliberalisierung konträr zur restlichen Industrie steigende Investitionsraten (vgl. Akça 2010, 26). Dennoch gilt es zwischen den industriepolitischen Erwartungen, die in die Rüstungsindustrie der Türkei gesetzt werden, und ihrer realen Bedeutung zu unterscheiden: 2018 nahm sie Platz 14 auf der Liste der größten Rüstungsindustrien der Welt ein – mit weitem Abstand zu den fünf Spitzenreitern. ASELSAN und Turkish Aerospace belegten 2017 im globalen Größenranking die Plätze 60 und 70 (vgl. Sönmez 2019). Selbst der Beschäftigungseffekt der türkischen Rüstungsindustrie ist umstritten. Arbeiteten 2007 noch 17.841 Personen für die Türkischen Streitkräfte (vgl. Akça 2010), hatte sich die Zahl der Beschäftigten bis 2013 auf 33.000 Personen erhöht und damit nahezu verdoppelt. Trotzdem machen diese immer noch ein nur kleines, aber hochqualifiziertes Segment des Arbeitsmarktes aus (vgl. Mevlutoglu 2017, 290). Um die hohen staatlichen Investitionen in den Rüstungssektor zu rechtfertigen, wird immer wieder auf vielen Zuliefererbetriebe verwiesen, die nicht unmittelbar zum Rüstungssektor zu rechnen sind, aber von seinen Aufträgen profitieren (vgl. Demir et al. 2016, 8). Die kritische Forschung bestreitet jedoch wachstumsfördernde Effekte in Form eines Rüstungskeynesianismus. Zwar ließen sich solche in den kapitalistischen Zentren feststellen, wo es gilt, das Übermaß nationaler Ressourcen zu verwerten, man könne sie aber nur begrenzt auf semiperiphere Staaten wie die Türkei übertragen (vgl. Akça 2010). Über die meisten Jahre der AKP-Regierungszeit hinweg sank der Anteil der Rüstungsausgaben an den Staatsausgaben sogar von 9,2 Prozent im Jahr 2000 auf 5,2 Prozent im Jahr 2015. Dies war einerseits den IWF-Strukturanpassungsprogrammen der 2000er Jahre, der heranziehenden Wirtschaftskrise und der steigenden Zahl von Einsätzen der Türkischen Streitkräfte in Syrien, aber auch auf dem Staatsgebiet der Türkei geschuldet sowie der Präsenz in zahlreichen anderen Staaten. Seit 2016 zeichnet sich allerdings eine deutliche Trendwende ab: 2018 erreichte der Anteil der Rüstungsausgaben an den Staatsausgaben bereits wieder 7,1 Prozent, das entsprach 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (vgl. Sönmez 2019). Ebenso wird die berechtigte Frage gestellt, inwieweit von der Rüstungsindustrie tatsächlich ein positiver Effekt auf die Leistungsbilanz ausgeht – denn sie erfordert teure Importe hochwertiger Güter (vgl. Akça 2010). Letzteres aber gilt für fast alle türkischen Industriezweige und ist bei einer im Aufbau befindlichen Industrie kaum vermeidbar. Am ehesten kann unter der türkischen Rüstungspolitik also der Versuch verstanden werden, jene Politik der Importsubstitution, die bis zum Beginn der Neoliberalisierung zentraler Teil der türkischen Wirtschafts-, Handels- und Industriepolitik war (vgl. Gehring 2019c, 117ff), in einem verhältnismäßigen kleinen Sektor fortzuführen (vgl. Mevlutoğlu 2017, 287). Weil das neoliberale Wirtschaftsregime und die Verträge mit der EU für eine solche Strategie aber im Grunde keinen Raum lassen, hat man sich hierfür den Rüstungssektor auserkoren. Denn hier kann auf ein übergeordnetes „nationales Interesse“ verwiesen werden. Zugleich führt ein solcher Ansatz die Schwächen der alten Importsubstitutionsstrategie insoweit fort, als dass er nicht wirklich mit der Importabhängigkeit bricht, sondern mit wachsender Komplexität neue Formen der Abhängigkeit schafft.
Internationalisierung der lokalen Produktion – die Achillesferse der türkischen Rüstung
Um ihre Rüstungsindustrie rasch zu modernisieren und konkurrenzfähig zu machen, ist die Türkei auf den beständigen Import moderner und modernster Rüstungsgüter und hochwertiger Vorprodukte angewiesen. Kamen diese Güter während des Kalten Krieges vor allem aus NATO-Staaten, so ist inzwischen eine deutliche Diversifikation festzustellen: Sowohl die T155-Fırtırna-Haubitze, die eine wichtige Rolle bei den Invasionen Syriens spielt, als auch der in der Entwicklung befindliche Kampfpanzer Altay, der den Leopard ablösen soll, verwenden (noch) deutsche Komponenten, sind aber im Wesentlichen Gemeinschaftsprojekte mit Südkorea. Während die Modernisierung älterer US-amerikanischer Waffensysteme (Phantom F4 und M60) in den 1990er und 2000er Jahren vor allem mit israelischer Unterstützung erfolgte, liegen die Ursprünge der türkischen Drohnenindustrie im Import israelischer Modelle. Wichtige Schlüsselkomponenten kommen zudem von britischen Herstellern (vgl. Sabbagh/McKernan 2019). Angesichts der Vielfalt der Rüstungsimporte und ihrer ausgeprägt industriepolitischen Motive geben diese nur bedingt Auskunft über die bündnispolitische Orientierung der Türkei. Dies gilt auch mit Blick auf die Beschaffung der russischen S-400-Luftabwehrsysteme, die zahlreichen konkurrierenden Modellen technisch überlegen sind. Zeitgleich findet eine Modernisierung der türkischen Marine schon seit den 1980er Jahren im engen Austausch mit der deutschen Rüstungsindustrie statt. Ganze Schiffsklassen wurden nach Import der Typeinheit in Lizenz auf türkischen Werften gebaut. So resultiert auch der jüngste Anstieg der deutschen Rüstungsexporte in die Türkei nicht etwa aus dem Bedarf des türkischen Heeres, sondern aus der kostenintensiven Modernisierung ihrer U-Boot-Flotte (vgl. Deutsche Presseagentur 2019). Wenige Beschaffungen tragen also zum Anstieg bei und verzerren so das Gesamtbild deutscher Rüstungsexporte in die Türkei. Im Bereich der Überwassereinheiten hat die Türkei inzwischen zum Teil eigene Modelle entwickelt und exportiert diese sogar – ein Ergebnis der intensiven Zusammenarbeit mit der deutschen Industrie. Nicht mehr der einfache Import von Waffensystemen, sondern internationale Joint Ventures zur lokalen Produktion von Waffensystemen bilden heute die Achillesferse der türkischen Rüstung. Ausnahmen bilden das aus den USA importierte Mehrzweckkampflugzeug F 35 und der russische Luftabwehrkomplex S-400. In beiden Beschaffungsprogrammen geht es primär um den Import ganzer Waffensysteme. Wenngleich auch sie die Komponente Know-how-Transfer und teilweise lokale Produktion (bei der F 35 auch für den Export) beinhalten, so bleibt dieser Transfer seitens Russlands und den USA Beschränkungen unterworfen. Inzwischen haben die Spannungen zwischen den USA und der Türkei, insbesondere der Ärger über die Beschaffung der russischen S-400-Systeme, die US-Regierung zum Stopp der türkischen Beteiligung am F35-Programm bewogen (vgl. Pawlyk 2019). Insgesamt gilt: Um international konkurrenzfähige Rüstungsgüter herzustellen, ist die Türkei trotz wachsender lokaler Rüstungsproduktion gezwungen, weiterhin modernste technische Komponenten zu importieren. Nur so kann sie mit dem neuesten technischen Stand Schritt halten und sich lukrative Exportmärke erschließen. Das aber steht im Konflikt mit dem Ziel, den Grad der eigenen Autonomie in der Rüstungsproduktion zu erhöhen. Dennoch sind Embargomaßnahmen gegen Rüstungsgüter eher unwirksam, wenn es darum geht, unmittelbar anstehende Offensiven und laufende Kriege zu stoppen. Denn diese werden wesentlich auf Basis lokaler Rüstungskapazitäten sowie der vorhandenen Waffensysteme geführt. [1] Der Stopp von Rüstungsexporten und die Unterbrechung des damit verbundenen Know-how-Transfers trifft primär das Potenzial der Türkei, ihren militärisch-industriellen Komplex weiterzuentwickeln. Die Rüstungsexportpolitik gegenüber der Türkei müsste genau dies reflektieren und ihren Schwerpunkt industriepolitisch auf die Überprüfung von Joint Ventures zwischen deutschen und türkischen Unternehmen sowie auf eine restriktivere Handhabung von Patenten legen. Aber auch dann würde sie nicht unmittelbar das Potenzial der Türkei zur Kriegführung beeinträchtigen. Primär würde sie die Entwicklung hin zu einem militärisch-industriellen Komplex in der Türkei verlangsamen und verteuern, da sich die Türkei neue Partner suchen müsste, was mit erheblichen Anlaufschwierigkeiten verbunden wäre. Während die Wirkmöglichkeiten auf dem Feld der Rüstungspolitik tendenziell überschätzt werden, erfahren andere Felder der möglichen Einflussnahme eine Aufmerksamkeit, die unterhalb ihrer tatsächlichen Bedeutung liegt. Von zentraler Bedeutung für die Fähigkeit der Türkei, Kriege führen zu können, ist die tiefe Einbindung des Landes in globale Kapitalkreisläufe. Die führenden Kapitalfraktionen in der Türkei haben als innere Bourgeoisie ihre produktive Basis im Inland, können diese aber nur durch ihre Kredit- und Patentbeziehungen in Richtung der EU reproduzieren und erweitern. Es ist primär westliches Kapital, welches dort investiert wird, und es ist primär der Westen, der als Absatzraum für türkische Exporte dient. Ein Trend in Richtung einer ökonomischen Abkehr vom Westen ist nicht auszumachen, seine Bedeutung wächst sogar (vgl. TUİK 2019). Auch die stark transnationalisierte Regulation des türkischen Kapitalismus vollzieht sich wesentlich über die Einbindung in westliche Strukturen – namentlich die EU-Türkei-Zollunion, die erheblichen Einfluss auf die Gestaltung des türkischen Wirtschaftsrechts hat (vgl. Gehring 2019c). Entgegen aller anti-westlichen Rhetorik der türkischen Regierung und aller kulturalistischen Diskurse im Westen ist festzuhalten, dass die ökonomische Reproduktion der türkischen Gesellschaftsformation primär innerhalb der transatlantisch-europäischen Ordnung stattfindet (vgl. Gehring 2019c). Sowohl die Debatten über Rüstungsexporte als auch die Auseinandersetzung über die Positionierung der Türkei innerhalb der internationalen Ordnung könnten gerade durch eine tiefere politökonomische Fundierung eine noch höhere Praxisrelevanz entfalten. Waffenembargos, die kurz vor oder während laufender Angriffskriege verhängt werden, haben eine primär symbolische Wirkung, sie tangieren die Fähigkeit der Türkei, Kriege in Nordsyrien zu führen, nicht – zumal es sich bei den jeweiligen Kampagnen um zeitlich und räumlich bewusst begrenzte Sequenzen handelt, denen dann gleichwohl Besatzungspraxen folgen. Eine strukturell restriktive Rüstungsexportpolitik, die bei Patenten und Kapitalbeziehungen ansetzt, ist kurzfristig ebenso unwirksam, entfaltet aber langfristig eine erheblich stärkere Wirkung auf die türkische Industriepolitik. Ein Konflikt zwischen außenpolitischen Zielen und industriepolitischen Ambitionen würde auch Auswirkungen auf die Konflikte innerhalb des türkischen Machtblockes haben. Militärische Aggression wäre dann möglicherweise weniger zweckrational. Dies ist der dritte Beitrag des Autors zur Analyse der türkischen Invasion in Nordostsyrien. Weiterlesen Teil I: Der Weg in den Krieg Teil II: Die türkische Invasion in Nordostsyrien