Utopie hat daher einen schlechten Ruf. Wenn es keine Alternativen jenseits von Markt und Technik gibt, sind Utopien weltfremd und schlicht unrealistisch. Was die linken Kritiker zu bieten haben, bewegt sich in den bleiernen Gefilden der etwas demokratischeren, der etwas sozialeren, der etwas ökologischeren Vorstellungen. Wo dieses ›etwas‹ dann insgesamt hinführen soll, ist unklar. Was fehlt ist der ›große Wurf‹, die Vision einer ›menschlichen Gesellschaft‹ – über diese abstrakte Bestimmung hinaus. Dass dem so ist, hat Gründe, auch gute Gründe. In funktionierenden fordistischen Zeiten brauchte man nur die Vorzeichen zu wechseln und hatte, voilà, ein sozialistisches Modell. Da aber der Postfordismus lange unbestimmt blieb und sich der Neoliberalismus als nicht zukunftsfähig erweist, macht das Hantieren mit veränderten Vorzeichen angesichts brüchiger Orientierungen wenig Sinn. Hinzu kommen die historischen Lasten des autoritären Staats­sozialismus. Heute von einer Utopie des Sozialismus zu sprechen, basiert entweder auf einem unangerührten stalinistischen Starrsinn oder setzt ein hohes Maß an ideen- und realhistorischer Reflexion voraus, die im politischen Alltag kaum auffindbar ist, die aber unbedingt geleistet werden muss. Nur über eine solche (Selbst-)Kritik sind die Begriffe von der Welt aus einer herrschaftslegitimierenden Instrumentalisierung zu befreien. Ein weiterer Grund: Durch die Ablösung linker Intellektueller von den sozialen und politischen Kämpfen und vom gewöhnlichen Alltag gab es praktisch keine Zufuhr neuer oder aktualisierter utopischer Bilder mehr. Als Kernaufgabe der Wissenschaft galt die kritische Analyse, nicht die Erzeugung eines »Wärmestroms« (Bloch) an utopischen Bildern. So war das Feld den Idealbildern des Wirtschaftwunders, der Sozialpartnerschaft, dem Marktradikalismus, den Mächten der Warenästhetik und der Unterhaltungsindustrie überlassen. Der Rohstoff des Politischen Doch es gibt den Bedarf. Es gibt die Träume und Hoffnungen, geboren aus der Not des Alltags, der Arbeit, der Geschlechternormierung und sozialen Lage, aus der Enge von Familie, Erziehung und instrumentalisierter Bildung – sie sind der »Rohstoff des Politischen« (Negt/Kluge 1992, 42). In der Arbeitswelt (und in der Ausbildung) wird von den Beschäftigten zunehmend Phantasie und Kreativität gefordert, selbst wenn es dabei nur um eine den betrieblichen Interessen angepasste Phantasie und um eine umsatzfördernde Kreativität geht. Warum also stoßen selbst die wenigen existierenden Ansätze für utopisches Denken kaum auf Resonanz? Zunächst ist ein Perspektivenwechsel notwendig, weg von den utopischen Objekten hin zu den subjektiven Bedingungen und Formen der Auseinandersetzung damit. Sich mit der Konzeption des »Alltagsverstandes« vertraut zu machen, ist dabei hilfreich. Antonio Gramsci versteht darunter ein fragmentarisches, widersprüchliches Bewusstsein, das sich aus unterschiedlichen Teilen zusammensetzt, aus verschiedenen Quellen speist. Ihm gehören »Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft« an (Gef. 6, 1376). Charakteristisch für den Alltagsverstand ist das Denken in »Abteilungen«, seine Inkohärenz. Der Alltagsverstand ist nicht einfach zufällig, sondern durchaus funktional, um sich in einer widersprüchlichen Welt bewegen und die unterschiedlichen Herausforderungen bewältigen zu können. Damit überwindet Gramsci die verhängnisvollen Vorstellungen von einem ›falschen Bewusstseins‹, das es (im besten Fall) aufzuklären galt. Statt nach ›falschen‹ oder ›richtigen‹ beziehungsweise ›wahren‹ Inhalten zu suchen, liegt der Fokus der Betrachtung nun auf der Leistung des Alltagsverstandes. Seine Inhalte werden als Momente von Vergesellschaftung verstanden.

Von den Abteilungen des Alltagsverstands ...

Hier vermag eine befreiende Politik anzusetzen: Es kommt nicht darauf an, die Menschen ›von oben‹ herab zu belehren, sondern sie bei der ›Inventur‹ ihres Alltagsverstandes zu unterstützen. Im Alltagsverstand finden sich eben auch Elemente, die – reflektiert man sie im Zusammenhang – kritisch werden können. Dabei handelt es sich nicht nur um bloße Gedanken: Vielmehr ist der Alltagsverstand als ein vorrangig praktisches Verhältnis zu sich, zu anderen und der Welt zu begreifen. Wenn sich Politik auf ihn beziehen will, darf sie die Praxen des Alltags nicht ausblenden. Vielmehr nimmt sie ihren Ausgangspunkt beim Verhalten und fragt nach seiner Interpretation, den Widersprüchen und Perspektiven. Wie ist nun das Verhältnis zur ­sozialen Utopie? Zunächst mögen utopische Vorstellungen, genau wie die von Gramsci erwähnten »Elemente des Höhlenmenschen«, einen Platz in den vielen Abteilungen des Alltagsverstandes finden. Hier stehen sie unverbunden mit vielen anderen Ideen und Gedanken als Wünsche und Phantasien, als Sehnsüchte und Hoffnungsmomente – immer mal wieder gebraucht, das heißt mit anderen Menschen geteilt, oftmals aber auch ohne jede gedankliche oder gar praktische Relevanz, weil andere Herausforderungen des Alltags andere Themen und Zusammenhänge favorisieren. In diese ›Abteilung Utopie‹1 gehört auch die Vorstellung von der glücklichen Liebe, von dem eigenen Haus, von der Verdopplung des Gehalts und der Sorglosigkeit in der eigenen und der familiären Lebenssicherung, vielleicht auch der Spaß an der TV-Serie Raumschiff Enterprise. Gewiss könn(t)en diese Wünsche auch in politische Forderungen übersetzt werden. Als ›Abteilung‹ sind sie aber gerade privat und durch den Gegensatz zum Gesellschaftlichen bestimmt. Sie stehen neben vielen anderen Abteilungen. In diesem Sinn sind Utopien dem Alltagsverstand durchaus zugänglich beziehungsweise ist dieser bereit, sie in seine disparaten Weltauffassung(en) zu integrieren.

... zur ›echten‹ Utopie

Schwierig wird es hingegen, wenn es sich um ›echte‹ soziale Utopien handelt und nicht um private Träume und kommerzielle Spielzeuge. Diese echten sozialen Utopien sind, wie auch kritische Theorien, ›totalitär‹, das heißt, sie betreffen ein gegliedertes gesellschaftliches Ganzes, sind weltumfassend, reflektieren und argumentieren gesamtgesellschaftlich. Dass sie die Welt zusammenhängend denken, macht gerade ihren Reiz und ihre Kraft aus. Genau das blendet der Alltagsverstand jedoch weitgehend aus. Da er seine Kraft aus den getrennten Abteilungen bezieht, die jeweils Antworten und Handlungen in spezifischen Situationen ermöglichen, ergibt der Alltagsverstand die Kompetenz, sich in den gespaltenen Welten des Kapitalismus zu bewegen: mal als Konsument oder Vater, mal als ›Arbeitnehmer‹, Steuerzahler oder Verkehrsteilnehmer. Die damit verbundenen Widersprüche werden verdrängt, um ausgehalten werden zu können. Soziale Utopien bedrohen diese Kompetenz des Alltagsverstandes, sich durch sein Abteilungsdenken in einer widersprüchlichen Welt bewegen zu können. Sie bedrohen die Sicherheit, sich unterschiedlichen Gruppen zuordnen zu können und an deren Problemlösungen zu partizipieren. Insofern sind echte Utopien zunächst einmal eine Gefährdung aktueller Handlungsmöglichkeiten. Sie sind nicht ›kleinzureden‹ und so in Abteilungen des Alltagsverstandes zu integrieren. Deshalb müssen sie im Interesse der eigenen Handlungssicherheit abgelehnt werden; umso heftiger, je größer die Bedrohung empfunden wird. Für eine emanzipatorische Politik stellt dies zwar ein enormes Hindernis dar, zugleich aber gibt diese Problemskizze erste Hinweise, wie damit umgegangen werden kann. Zunächst ist klar, was gar nicht geht: Auch die wohlmeinende Vermittlung fertiger Utopien muss scheitern. Zu glauben, man brauche die Ideen einer Parteizentrale, einer Redaktion oder eines Thinktanks nur zu verbreiten, und sie würden dann mit den Effekten aufgenommen, die sich bei den Erfindern damit verbinden, ist, wie Gramsci früh erkannte, »ein ›aufklärerischer‹ Irrtum« (Gef. 1, 94).

Nur was selbst gedacht ist, zählt!

Der Ansatz sozialistischer Politik ist in Sachen Utopie (und nicht nur an diesem Punkt) nicht isoliert an bestimmten Inhalten zu messen, sondern an der damit verbundenen Funktion der Vergesellschaftung. Politische Bildung funktioniert nur als kollektive Bildung, die neue gemeinsame Weltsichten und gemeinsame Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Dabei ist der umfassende Charakter zu betonen: Es geht nicht nur um die traditionellen, institutionalisierten Felder politischen Handelns, sondern auch, wenn nicht sogar vorrangig, um die Handlungskompetenz im Alltag. Emanzipatorische politische Bildung soll dabei nicht zu einer bunten Mischung aus Stiftung Warentest, Automobilclub, Erziehungsberatung und Jugendhilfe werden (das gibt es ja schon alles), sondern fragt nach den Zusammenhängen und Hintergründen von scheinbar privatem Alltag und gesellschaftlichen Strukturen. Damit kann sie leisten, was die Abteilungen des Alltagsverstandes nicht vermögen, nämlich eine inhaltliche und soziale Kohärenz zu erzeugen. Dieser Weg erfordert Geduld. Es braucht ein gerütteltes Maß an Toleranz, besser noch an Bereitschaft, zuzuhören und zu lernen, um den zunächst naiven, individualistischen, widersprüchlichen und bizarren Ideen und Vorstellungen Raum zu geben, sich ausdrücken zu lassen, ja, sie dabei zu unterstützen. Selbst wenn die pädagogisch-politischen BegleiterInnen2 solcher Unterfangen auf alle Probleme und Fragen schon durchdachte und überlegene Antworten und Lösungen haben, sollten sie der Versuchung nicht nachgegeben, gleich zu sagen, wie es denn ginge und was richtig wäre. Was für die BegleiterInnen geht und richtig ist, ist nicht auch für die anderen TeilnehmerInnen passend. Zur Erinnerung: Die krude Mischung des Alltagsverstandes ermöglicht es, den eigenen Alltag zu bewältigen und Gruppen anzugehören, die Probleme und Lösungen teilen. Erst wenn diese soziale Leistung auch mit anderen Ideen und Konzepten erbracht werden kann, werden diese Vorstellungen relevant. Das aber kann nur von den Betroffenen selbst erarbeitet und erprobt werden. Soziale Utopien als Gedankengebäude entwickeln sich nicht in der Systematik und Methodik professioneller DenkerInnen, sondern in den sozial und kulturell je spezifischen Herausforderungen und Möglichkeiten der Lebensbewältigung. Was die (mehr oder weniger) professionellen DenkerInnen leisten müssen, sind Angebote zu machen: zum Beispiel Begriffe, Theorien, Materialien bereitstellen, die geprüft und aufgegriffen oder verworfen werden können. Den Prozess der Selbstbildung subalterner Gruppen befördern diese Materialien dann, wenn die Angebote bearbeitbar sind, Diskussionen und Praxistests erleichtern sowie die eigenen Ideen und Umarbeitungen herausfordern.

Politik als Bildungsangebot begreifen

Auch wenn Utopien menschliche Zukünfte antizipieren, tun sie dies doch immer auf der Basis der Gegenwart und der damit verbundenen historisch-biografischen Prozesse. Die Auseinandersetzung mit der Gegenwart (und ihren Problemen und Chancen) ist Voraussetzung für Zukunftsentwürfe. Letztere wiederum können in all ihrer Vorläufigkeit Fragen und Kritik an der aktuellen Situation provozieren. Die politisch-pädagogischen BegleiterInnen dieser Prozesse arbeiten dabei moderierend und unterstützend, ohne eigene Interessen und Positionen zu verschweigen. Diese sind Teil eines Dialogs gegenseitigen Lernens (vgl. Mayo 2006). Geduld bedarf es auch in anderer Hinsicht. Eine emanzipatorische politische Bildung, die an der Utopie arbeitet, hat in anderen Zeitdimensionen zu denken als politische Programme und Maßnahmen. Selbstbestimmte Lernprozesse haben ihre eigenen Zeiten. Kulturelle Praxen, gar Mentalitäten ändern sich nicht in wenigen Augenblicken, sondern bewahren ihre Kontinuität, oftmals über historische Umbrüche hinaus. Politischen Organisationen mag es gerade noch gelingen, auch wenn es angesichts der dringlichen Probleme und Tagesordnungen schwer fällt, Freiräume für die organisierte politische Bildung zu schaffen, aber die eigene Politik als Bildungsangebot zu begreifen und zu gestalten, ist bislang kaum möglich. Und doch ist eben gerade das die unverzichtbare Utopie. Es ist einfacher, die schwierigen Dinge in besondere Abteilungen (!) abzuschieben. Aber das bestätigt den Alltagsverstand und führt auch in einer linken Organisation nicht zu einer kohärenten »Philosophie der Praxis« (Gramsci). Umso mehr sind die entsprechenden Überlegungen zu Kultur und Bildung im Papier der Vorsitzenden zur Parteientwicklung der LINKEN (Kipping/Riexinger 2013) positiv hervorzuheben. Sie werden dann produktiv, wenn sie für alle Aktivitäten gültig werden, wenn Bildung als Politik und Politik als Bildung begriffen und betrieben wird.

Parteientwicklung als Verallgemeinerung von Intellektualität

Wenn Bernd Riexinger und Katja Kipping davon sprechen, ein Ziel der Parteientwicklung sei die »Verallgemeinerung von Intellektualität« (13), dann hat das ganz in der Tradition Gramscis zwei Dimensionen: Zum einen geht es um die Frage individueller Selbstbestimmung: Will man seine Positionen und Zusammenhänge bewusst gestalten oder nicht? Zum anderen geht es um die gesellschaftliche Verallgemeinerung dieser individuellen Selbstbestimmung. Beides bedingt sich gegenseitig. Was die Dimensionen verbindet, sind die Probleme des Alltags und die zu erarbeitenden Perspektiven. Zutreffend weisen Kipping und Riexinger darauf hin, dass gesellschaftliche Zusammenhänge nicht nur behauptet werden können, sondern »Gegenstand von ­Diskussions- und Bildungsprozessen sein« müssen, »in denen es den Leuten möglich wird, ihre eigenen Verallgemeinerungen zu schaffen« (ebd.). Wenn es der Partei gelingt, einen solchen Bildungsprozess zu organisieren, dann ist dies nicht nur ein Lernprozess der beteiligten Individuen, sondern auch und vor allem ein Bildungsprozess der Partei selbst. Wie kann man sich das praktisch vorstellen? Und was hat es mit Utopie zu tun? Wenn wir die Arbeit an sozialen Utopien als eine Arbeit an der kollektiven Erweiterung der Möglichkeiten selbstbestimmter Handlungskompetenzen verstehen (und nicht als eine Verbreitung utopischer Ideen), dann ist dies sicherlich der politisch angemessene Ansatz – aber erst einmal nur der Ansatz. Was aus diesen Prozessen entsteht, hat nicht nur praktische politische Folgen (ein Jugendhaus wird z.B. nicht geschlossen), sondern immer auch eine mediale Ebene der Selbstverständigung und der Auseinandersetzung. Es ist eine Aufgabe der Politik (wie der Bildung), die Dokumentation der Lernprozesse, der Aktionen, der Fragen, der Argumente und Diskussionen so zu gestalten, dass sie bestimmte praktische Positionen kenntlich machen, zugleich aber offen bleiben für abweichende, individuelle oder kollektive Interpretationen. Einheitliche Handlungsperspektiven verlangen keine Uniformität, im Gegenteil: Sie gewinnen ihre Stärke aus der Bündelung verschiedener Zugänge und Absichten.

Utopie als Parteiprogramm?

Diese können ihren Ausdruck im Ästhetischen finden. Im Vergleich zum analytisch-rationalen Diskurs, der – mit ausreichend Inbrunst betrieben – am Ende rationalistisch wird und dabei die Unterschiede stark und die Subjekte schwach, also handlungsunfähig (weil vereinzelt) macht, bietet die relative Unbestimmtheit des Ästhetischen einen gemeinsamen Nenner, der trotz unterschiedlicher Interpretationen und Konnotationen geteilt werden kann und so die Menschen stark macht. Das ist kein Plädoyer gegen Ratio und Analyse. Im Gegenteil: Es ist ein Zeichen der Vernunft, deren Grenzen zu kennen. Wenn die Linke immer wieder bis zur Zersplitterung diskutiert, dann wohl auch, weil die Alternativen (oder Ergänzungen) wenig entwickelt sind. Das Kulturelle und das Ästhetische sind eigenständige Dimensionen menschlicher Praxen und sollten politisch in ihrem Wert erkannt und gefördert werden. Dies gilt umso mehr, als sich Utopisches gar nicht anders präsentieren kann. Die Arbeit an der Utopie muss Bilder entwerfen – jedes einzelne im Detail ›falsch‹ (weil historisch sofort überholt), in der Summe aber eine vielfältige Vorstellung eines anderen, besseren Lebens. Utopie als Parteiprogramm ist so unmöglich wie als Hoffnung unerlässlich. Utopie und Ästhetik bedingen sich im politischen Kampf, wenn er denn produktiv alternative Hegemonieperspektiven erzeugen soll, gegenseitig.

Verbindende Perspektiven: Politik und Kultur

Damit ergeben sich auch praktische Hinweise für die Parteipolitik: Will sie wirklich, wie es bei Kipping und Riexinger heißt, »emanzipatorische politische und kulturelle Ausdrucksformen entwickeln, die über den Horizont der bürgerlichen Kultur hinausgehen«, dann braucht sie den Mut zu Offenheit und Widerspruch, den sie so organisieren muss, dass die Menschen ›ihr eigenes Ding‹ in (oder im Kontext) der Partei machen können. Auch wenn die hier zu nennenden (möglichen) Schritte klein und unbedeutend erscheinen, so sind sie doch Teil eines vielfältigen Weges hin zu einer neuen Kultur. Schreibspiele und -wettbewerbe, Ausstellungen von Hobbymalerei, Filmfeste im Stadtteil, öffentliches Malen von Plakaten, Chöre und Straßentheatertreffen und vieles mehr – eingebettet in die übergreifenden Aktivitäten. Dabei sind diese soziokulturellen Maßnahmen so anzulegen, dass die Teilnehmenden sich nicht monadisch selbst genügen, sondern gegenseitig ins Gespräch kommen und Diskussionen mit anderen (z.B. Profis, Politikern, Backwarenfachverkäuferinnen und Steuerberatern) darüber führen, welche Ängste und Sehnsüchte, welche Probleme und Träume, welche Nöte und welche Hoffnungen man hat. Diese ›privaten‹ Gedanken öffentlich zu machen, ergibt noch keine parteipolitische Mobilisierung, sondern trägt erst mal nur dazu bei, sich als potenzielle Gesprächspartner zur Kenntnis zu nehmen.3 Dass dabei auch kleinbürgerlicher Kitsch zum Vorschein kommen wird, ist unabwendbar. Aber für eine linke Partei ist es politisch unverzichtbar, zu lernen, was die Menschen treibt, und ihre Sehnsüchte, auch wenn sie noch so bizarr sein mögen, ernst zu nehmen und Möglichkeiten einer Bearbeitung zu entwerfen. Das ist dann sehr wohl Politik, sicherlich eine Politik, die anderes politisches Handeln, insbesondere parlamentarische Politik, nicht überflüssig macht. Die eine Form gegen die andere auszuspielen, ist für beide schädigend. Der historische Erfolg einer gesellschaftlichen Linken wird davon abhängen, wie die Widersprüche zwischen den politischen Praxen gestaltet werden. Doch damit es überhaupt etwas zu gestalten gibt, damit da widersprüchliche Pole sichtbar werden, muss die Partei – will sie, gramscianisch gesprochen, »führend« werden – die institutionellen Einhegungen verlassen. Ohne die Möglichkeiten einer linken parlamentarischen Politik gering zu schätzen: Ohne kulturelle Basis wird es keine dauerhaften Erfolge geben.

Literatur

Gramsci, Antonio, 1991ff.: Gefängnishefte, 10 Bde., hrsg. v. Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg Hirschfeld, Uwe, 2005: Politische Bildung in der Sozialen Arbeit. Die Intellektuellen-Theorie Gramscis als Begründung und Orientierung, in: Störch, Klaus (Hg.), Soziale Arbeit in der Krise. Perspektiven fortschrittlicher Sozialarbeit, Hamburg, 142–157 Kipping, Katja et al, 2013: Verankern, verbreiten, verbinden. Projekt Parteientwicklung. Eine strategische Orientierung für DIE LINKE, www.die-linke.de/partei/parteientwicklung/projekt-parteientwicklung/texte/verankern-verbreiten-verbinden/ Mayo, Peter, 2006: Politische Bildung bei Antonio Gramsci und Paulo Freire, Hamburg Negt, Oskar und Alexander Kluge, 1992: Maßverhältnisse des Politischen, Frankfurt am Main Niggemann, Janek (Hg.), 2012: Emanzipatorisch, sozialistisch, kritisch, links? Zum Verhältnis von (politischer) Bildung und Befreiung, hrsg. im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Manuskripte 97, Berlin 

 

Anmerkungen

1    Der Begriff ist eine Hilfskonstruktion: Es gibt nicht die eine ›Abteilung Utopie‹, sondern Utopisches wird sich in ­vielen Themen unterschiedlich gewichtet finden: in politischen Kontexten vielleicht als ›unrealistisch‹, in Freizeitbelangen vielleicht als großes Hollywood-Kino usw. 2    Bewusst wird hier nicht einfach von Lehrenden oder TeamerInnen gesprochen. Die Anforderungen an MitarbeiterInnen in einer emanzipatorisch-politischen Bildung fallen aus den traditionellen Vorstellungen von ›Bildung‹ heraus (vgl. Hirschfeld 2005 u. Niggemann 2012). 3    Damit sollte eine Verwechslung mit schlechtem Agit-Prop ausgeschlossen sein: Es geht nicht um das Unterjubeln von Parolen, sondern um das Zuhören und Lernen der Organisation.  

Zum Weiterlesen

Katja Kipping und Bernd Riexinger: Verankern, verbreiten, verbinden: Projekt Parteientwicklung. Eine strategische Orientierung für DIE LINKE Weitere Texte aus der LuX zu Partei und DIE LINKE