Als Schwarze Frau lebe ich in einem Land, das noch immer unter den Folgen des Kolonia­lismus und einer mehr als 300 Jahre andau­ernden Sklaverei leidet, das von strukturellem Rassismus geprägt ist und in dem der Staat von Beginn an vor allem die Interessen einer räuberischen Elite vertritt. Die allermeisten Schwarzen, insbesondere Frauen, haben keinen Zugang zum Reichtum des Landes und auch nicht zu den politischen Institutionen. Viele ihrer Wohnviertel werden von einer militarisier­ten Polizei kontrolliert, ihre Kinder haben kaum Chancen auf höhere Bildung und leben täglich mit der Gefahr, umgebracht zu werden. All das ist in diesem Land schon sehr lange so.

Doch 2018 mussten wir einen neuen Höhepunkt dieser menschenverachtenden und ausbeuterischen Herrschaft erleben: die Machtübernahme von Jair Bolsonaro. Damit hatte sich ein extrem rechter Politiker, dessen Wahlkampf von misogynen, rassistischen, ho­mophoben und ultraneoliberalen Äußerungen sowie vom massiven Einsatz von Fake News geprägt war, an die Spitze des Landes gesetzt. Es fällt schwer, sich einen Schlimmeren in der Funktion des Präsidenten vorzustellen. Dieser Schlag ereilte uns in einer Situation, als wir noch fassungslos und voller Trauer waren über den Verlust von Marielle Franco. 2016 war Marielle zur Stadträtin in Rio de Janeiro gewählt worden, als eine der wenigen Schwar­zen Frauen in einer solchen Position. Am 14. März 2018 wurde sie zusammen mit ihrem Fahrer Anderson Gomes brutal ermordet.

Ihre Geschichte steht exemplarisch für den gegenwärtigen Kampf Schwarzer Frauen in Brasilien: den Kampf um Anerkennung, um Rechte und auch um Sichtbarkeit – ein Kampf, der letztlich eine Form der Selbstverteidigung ist. Aber es ist nicht nur ein Abwehrkampf, es ist auch ein Angebot: Wir bringen die brasi­lianische Gesellschaft dazu, über Rassismus, über Schwarzen Feminismus, über Transfeind­lichkeit und über Kinderrechte zu sprechen, über die Wirtschaft und über die aktive Rolle, die Schwarze Frauen darin einnehmen. Wir entwerfen eine alternative Erzählung für diese Gesellschaft, die sich auf das Konzept Bem Viver (»das gute Leben«) stützt. Die Situation in unserem Land wäre, auch was das Ausmaß an Gewalt angeht, noch viel dramatischer, wenn es keinen starken Widerstand gegen all diese Missstände gäbe, der von verschie­denen sozialen und politischen Bewegungen angeführt wird. Schwarze Frauen spielen in dieser Mobilisierung von unten eine zentrale Rolle. Wir folgen damit einem Pfad, den bereits unsere Vorfahr*innen, die als Sklav*innen nach Brasilien gekommen waren, vor Jahrhun­derten beschritten. Dieser Weg ist geprägt von Widerständigkeit und Resilienz1. Als Schwarze Frauenbewegung ist uns immer bewusst, dass unsere Schritte von sehr weit her kommen.

Warum Marielle?

Marielle Franco steht für das Schicksal und den täglichen Kampf Schwarzer Frauen in dieser Gesellschaft. Sie war Schwarz, Mutter, bisexuell und kam aus der Favela da Maré in Rio de Janeiro. Zur Aktivistin wurde sie, nach­dem sie eine Freundin durch Polizeigewalt verloren hatte. Sie gab Kurse, die Schwarze Jugendliche auf die Aufnahmeprüfungen an den staatlichen Universitäten vorbereiten, stu­dierte Soziologie, trat der Partei Sozialismus und Freiheit (PSol) bei und wurde einige Jahre später zur Stadträtin gewählt, mit dem damals fünftbesten Ergebnis in ganz Brasilien.

Während ihrer Zeit im Stadtrat prangerte sie unermüdlich die Gewalt und den Macht­missbrauch der Militärpolizei in den Armen­vierteln von Rio de Janeiro an. Sie brachte Gesetze zum Schutz von Schwarzen Frauen, Marginalisierten, Favela-Bewohner*innen und der LGBTQI+-Community voran und kämpfte für soziale Gerechtigkeit. Marielle wusste, dass sie mit ihren politischen Aktivitäten eine Community repräsentierte, die von der insti­tutionellen Politik vernachlässigt wird. Neben 51 weißen Männern und einer weißen Frau war sie die einzige Schwarze in diesem Stadtrat. Auch deshalb nutzte sie ihr Mandat, um eine radikale Politik zu machen. In ihrer letzten Rede erklärte sie: »Der Angriff des Staates gilt denen, die aus der Favela stammen. Wir werden immer wieder verletzt und vergewal­tigt. Wenn der Staat mit militärischen Mitteln diese Community schikaniert, frage ich mich, wie geht es den Eltern und den Verwandten dieser Kinder? […] Wie geht es den Frauen, die keinen Zugang zu dieser Stadt haben? Davon gibt es viele. Es sind Schwarze Frauen, lesbi­sche Frauen, Transfrauen, Frauen vom Land, Frauen, die diese Stadt am Laufen halten.«

Marielles Präsenz an den Schaltstellen der institutionalisierten Macht war das Ergebnis einer Bewegung, die einen Bruch mit der rassistischen, patriarchalen Politik bedeutet, in der whiteness als System der Unterdrückung und Ausbeutung fungiert. Marielle stand für eine andere Erzählung, für eine neue politi­sche Perspektive, die beansprucht, kollektives Handeln zu repräsentieren; eine Perspektive, die nah bei den Menschen und ihren Be­dürfnissen ist und auf schlagkräftige Weise ihre Rechte verteidigt: antirassistisch und intersektional. Die Mächtigen fühlten sich von ihrem Aktivismus bedroht. Die Auftraggeber ihrer Mörder dachten wohl, dass sie auf diese Weise auch das Projekt zerstören können, für das sie stand. Doch da haben sie sich geirrt. Die Schwarze feministische Bewegung ist gut organisiert, sie leistet Widerstand. Sie ist viel zu tief verwurzelt, um auseinanderzubrechen. Aus dem Leid und der Trauer über den Verlust von Marielle ist neuer Mut entstanden, auch wenn die Umstände ihrer Ermordung bis heute nicht aufgeklärt sind.

Kollektive Mandate: Demokratie von unten

Die alltägliche ökonomische, physische und psychische Gewalt, der wir ausgesetzt sind, kann nur durch einen grundlegenden Umbau der Machtverhältnisse und der damit zusam­menhängenden Institutionen beendet werden. Die Vorstellung, dass dies überhaupt möglich sein könnte, diesen Samen der Hoffnung hat Marielle gesät. So kam es, dass an demselben Wahltag, an dem Bolsonaro an die Macht kam und die hasserfüllte Politik der extremen Rechten gestärkt wurde, auch eine ganze Reihe Schwarzer Feministinnen auf nationaler Ebene und in den Bundesstaaten Mandate in den Parlamenten errang. Dies hat vielen Kraft und Hoffnung gegeben.

Für Schwarze Frauen ist es ein großer Er­folg, in diesen politischen Strukturen vertreten zu sein. Das bedeutet auch, mit ihren Schwar­zen Körpern in den weißen Parlamenten präsent zu sein. Nach Jahrhunderten der Gewalt und Unterdrückung hat dies eine große symbolische Bedeutung. Gleichzeitig ist klar, dass wir in diesen Institutionen nicht einfach nur nach den geltenden Regeln agieren können. Unsere Auf­gabe ist es, sie von innen heraus zu transformie­ren, um wirkliche Veränderungen zu erreichen. Ein Ansatz, der in diese Richtung weist, ist die Einführung von kollektiven Mandaten. Sie sind der Versuch, die Verfahren der parlamentari­schen Repräsentation zu demokratisieren und Politik im Sinne der Marginalisierten zu betrei­ben, in enger Zusammenarbeit und im strategi­schen Austausch mit den Basisbewegungen. Die Politiker*innen, die solch ein Mandat ausüben, stehen in einem Dialog mit denjenigen, die sonst kaum gehört werden, sie demokratisieren die Repräsentation selbst.

Solche kollektiven Mandate gab es etwa im Staat Minas Gerais und in Juntas im Bun­desstaat Pernambuco. In São Paulo wurde Erica Malunguinho 2018 mit einem sehr guten Ergebnis ins Landesparlament gewählt. Erica ist eine Schwarze Transfrau – in dieser machistischen Gesellschaft ist das an sich ein Erfolg. Solche Posten zu erringen ist zentral, um eine andere politische Wirksamkeit zu er­reichen. Der Raum der institutionellen Politik ist von Repräsentanten des weißen Patriarchats dominiert. Nun wird er zum Feld der strategi­schen Auseinandersetzung. Die Debatte um Intersektionalität ist in Brasilien nicht einfach Teil von Identitätspolitik, sondern bildet die Grundlage für die Verteidigung politischer Rechte. Die Soziologin Vilma Reis betont, dass es gerade die Schwarzen Frauen sind, die lin­ke Parteien weiter nach links treiben. Wir sind es, die für eine Radikalisierung des Diskurses sorgen und uns zugleich für die Rechte der Bevölkerungsmehrheit einsetzen.

Die öffentliche Debatte um die zu­nehmende Präsenz Schwarzer Frauen in der offiziellen Politik ist wichtig und etwas Hoffnungsvolles, das aus der Flut an schlech­ten Nachrichten hervorsticht. Der Weg, der noch vor uns liegt, ist lang und steinig, er verlangt Mut und Entschlossenheit, denn die reaktionären Teile der Bevölkerung und die politische Rechte wollen diesen Fortschritt um jeden Preis verhindern.

Ein langer Kampf

Im November 2020 wurden in Brasilien er­neut Stadträt*innen und Bürgermeister*innen gewählt und wir konnten einen historischen Erfolg erzielen: Noch nie zuvor wurden im ganzen Land so viele Schwarze Frauen gewählt. Viele von ihnen nehmen erneut kol­lektive Mandate wahr. Ein Beispiel hierfür ist die Gruppe Quilombo Periférico in São Paulo, in der sich Schwarze Männer und Frauen aus der Peripherie zusammengeschlossen haben. Erika Hilton, eine junge Transfrau, erhielt die allermeisten Stimmen in der Stadt. Auch wenn die Vertreter*innen der alten Politik weiterhin die politischen Räume besetzen, sind diese Wahlergebnisse strategisch wichtig für den politischen Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen. Es ist von enormer Bedeutung, in den Stadträten präsent zu sein. Dennoch möchte ich vor allem die Prozesse hervorheben, die uns dorthin gebracht haben: die vielen kollektiven Debatten, die Kämpfe um gesellschaftliche Teilhabe und die gemein­samen Lernprozesse. Lokale und regionale Wahlen in Brasilien bieten dabei für Weiße, die sich als antirassistisch verstehen, die Gelegen­heit, ihrer Haltung Nachdruck zu verleihen.

Der Aktivismus Schwarzer Frauen in Bra­silien wird andauern und nicht nachlassen. Wir kämpfen an vielen Fronten und diese Kämpfe ergänzen und verstärken sich gegenseitig. Die institutionalisierte Politik ist eine dieser Fronten – ein strategisch wichtiger Ort, der es uns erlaubt, in anderen Bereichen weitere Fortschritte zu erzielen. Es ist ein langwieriger Prozess, der nicht so schnell voranschreitet, wie wir es gerne hätten und wie es notwendig wäre, um das Vordringen der extremen Rech­ten aufzuhalten. Doch die konkrete Hoffnung entsteht im Alltag, wo die eigene Existenz an sich schon ein Akt des Widerstands ist.

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Caroline Kim und Oliver Precht

1 In BPoC Communities bezieht sich das Konzept der Resilienz auf die kollektive Fähigkeit, eine Widerstands­fähigkeit gegenüber (intergenerationalen) Traumata, Unterdrückung und Ausgrenzung zu entwickeln. Dabei wird auf das Wissen und auf (körperliche) Erfahrungen vorangegangener Generationen Bezug genommen. Resilient sein ist dabei keine Wahl, sondern eine Überlebensstrategie und selbst ein Akt des Widerstands [Anm. d. Übers.]

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