Warum Marielle?
Marielle Franco steht für das Schicksal und den täglichen Kampf Schwarzer Frauen in dieser Gesellschaft. Sie war Schwarz, Mutter, bisexuell und kam aus der Favela da Maré in Rio de Janeiro. Zur Aktivistin wurde sie, nachdem sie eine Freundin durch Polizeigewalt verloren hatte. Sie gab Kurse, die Schwarze Jugendliche auf die Aufnahmeprüfungen an den staatlichen Universitäten vorbereiten, studierte Soziologie, trat der Partei Sozialismus und Freiheit (PSol) bei und wurde einige Jahre später zur Stadträtin gewählt, mit dem damals fünftbesten Ergebnis in ganz Brasilien.
Während ihrer Zeit im Stadtrat prangerte sie unermüdlich die Gewalt und den Machtmissbrauch der Militärpolizei in den Armenvierteln von Rio de Janeiro an. Sie brachte Gesetze zum Schutz von Schwarzen Frauen, Marginalisierten, Favela-Bewohner*innen und der LGBTQI+-Community voran und kämpfte für soziale Gerechtigkeit. Marielle wusste, dass sie mit ihren politischen Aktivitäten eine Community repräsentierte, die von der institutionellen Politik vernachlässigt wird. Neben 51 weißen Männern und einer weißen Frau war sie die einzige Schwarze in diesem Stadtrat. Auch deshalb nutzte sie ihr Mandat, um eine radikale Politik zu machen. In ihrer letzten Rede erklärte sie: »Der Angriff des Staates gilt denen, die aus der Favela stammen. Wir werden immer wieder verletzt und vergewaltigt. Wenn der Staat mit militärischen Mitteln diese Community schikaniert, frage ich mich, wie geht es den Eltern und den Verwandten dieser Kinder? […] Wie geht es den Frauen, die keinen Zugang zu dieser Stadt haben? Davon gibt es viele. Es sind Schwarze Frauen, lesbische Frauen, Transfrauen, Frauen vom Land, Frauen, die diese Stadt am Laufen halten.«
Marielles Präsenz an den Schaltstellen der institutionalisierten Macht war das Ergebnis einer Bewegung, die einen Bruch mit der rassistischen, patriarchalen Politik bedeutet, in der whiteness als System der Unterdrückung und Ausbeutung fungiert. Marielle stand für eine andere Erzählung, für eine neue politische Perspektive, die beansprucht, kollektives Handeln zu repräsentieren; eine Perspektive, die nah bei den Menschen und ihren Bedürfnissen ist und auf schlagkräftige Weise ihre Rechte verteidigt: antirassistisch und intersektional. Die Mächtigen fühlten sich von ihrem Aktivismus bedroht. Die Auftraggeber ihrer Mörder dachten wohl, dass sie auf diese Weise auch das Projekt zerstören können, für das sie stand. Doch da haben sie sich geirrt. Die Schwarze feministische Bewegung ist gut organisiert, sie leistet Widerstand. Sie ist viel zu tief verwurzelt, um auseinanderzubrechen. Aus dem Leid und der Trauer über den Verlust von Marielle ist neuer Mut entstanden, auch wenn die Umstände ihrer Ermordung bis heute nicht aufgeklärt sind.
Kollektive Mandate: Demokratie von unten
Die alltägliche ökonomische, physische und psychische Gewalt, der wir ausgesetzt sind, kann nur durch einen grundlegenden Umbau der Machtverhältnisse und der damit zusammenhängenden Institutionen beendet werden. Die Vorstellung, dass dies überhaupt möglich sein könnte, diesen Samen der Hoffnung hat Marielle gesät. So kam es, dass an demselben Wahltag, an dem Bolsonaro an die Macht kam und die hasserfüllte Politik der extremen Rechten gestärkt wurde, auch eine ganze Reihe Schwarzer Feministinnen auf nationaler Ebene und in den Bundesstaaten Mandate in den Parlamenten errang. Dies hat vielen Kraft und Hoffnung gegeben.
Für Schwarze Frauen ist es ein großer Erfolg, in diesen politischen Strukturen vertreten zu sein. Das bedeutet auch, mit ihren Schwarzen Körpern in den weißen Parlamenten präsent zu sein. Nach Jahrhunderten der Gewalt und Unterdrückung hat dies eine große symbolische Bedeutung. Gleichzeitig ist klar, dass wir in diesen Institutionen nicht einfach nur nach den geltenden Regeln agieren können. Unsere Aufgabe ist es, sie von innen heraus zu transformieren, um wirkliche Veränderungen zu erreichen. Ein Ansatz, der in diese Richtung weist, ist die Einführung von kollektiven Mandaten. Sie sind der Versuch, die Verfahren der parlamentarischen Repräsentation zu demokratisieren und Politik im Sinne der Marginalisierten zu betreiben, in enger Zusammenarbeit und im strategischen Austausch mit den Basisbewegungen. Die Politiker*innen, die solch ein Mandat ausüben, stehen in einem Dialog mit denjenigen, die sonst kaum gehört werden, sie demokratisieren die Repräsentation selbst.
Solche kollektiven Mandate gab es etwa im Staat Minas Gerais und in Juntas im Bundesstaat Pernambuco. In São Paulo wurde Erica Malunguinho 2018 mit einem sehr guten Ergebnis ins Landesparlament gewählt. Erica ist eine Schwarze Transfrau – in dieser machistischen Gesellschaft ist das an sich ein Erfolg. Solche Posten zu erringen ist zentral, um eine andere politische Wirksamkeit zu erreichen. Der Raum der institutionellen Politik ist von Repräsentanten des weißen Patriarchats dominiert. Nun wird er zum Feld der strategischen Auseinandersetzung. Die Debatte um Intersektionalität ist in Brasilien nicht einfach Teil von Identitätspolitik, sondern bildet die Grundlage für die Verteidigung politischer Rechte. Die Soziologin Vilma Reis betont, dass es gerade die Schwarzen Frauen sind, die linke Parteien weiter nach links treiben. Wir sind es, die für eine Radikalisierung des Diskurses sorgen und uns zugleich für die Rechte der Bevölkerungsmehrheit einsetzen.
Die öffentliche Debatte um die zunehmende Präsenz Schwarzer Frauen in der offiziellen Politik ist wichtig und etwas Hoffnungsvolles, das aus der Flut an schlechten Nachrichten hervorsticht. Der Weg, der noch vor uns liegt, ist lang und steinig, er verlangt Mut und Entschlossenheit, denn die reaktionären Teile der Bevölkerung und die politische Rechte wollen diesen Fortschritt um jeden Preis verhindern.
Ein langer Kampf
Im November 2020 wurden in Brasilien erneut Stadträt*innen und Bürgermeister*innen gewählt und wir konnten einen historischen Erfolg erzielen: Noch nie zuvor wurden im ganzen Land so viele Schwarze Frauen gewählt. Viele von ihnen nehmen erneut kollektive Mandate wahr. Ein Beispiel hierfür ist die Gruppe Quilombo Periférico in São Paulo, in der sich Schwarze Männer und Frauen aus der Peripherie zusammengeschlossen haben. Erika Hilton, eine junge Transfrau, erhielt die allermeisten Stimmen in der Stadt. Auch wenn die Vertreter*innen der alten Politik weiterhin die politischen Räume besetzen, sind diese Wahlergebnisse strategisch wichtig für den politischen Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen. Es ist von enormer Bedeutung, in den Stadträten präsent zu sein. Dennoch möchte ich vor allem die Prozesse hervorheben, die uns dorthin gebracht haben: die vielen kollektiven Debatten, die Kämpfe um gesellschaftliche Teilhabe und die gemeinsamen Lernprozesse. Lokale und regionale Wahlen in Brasilien bieten dabei für Weiße, die sich als antirassistisch verstehen, die Gelegenheit, ihrer Haltung Nachdruck zu verleihen.
Der Aktivismus Schwarzer Frauen in Brasilien wird andauern und nicht nachlassen. Wir kämpfen an vielen Fronten und diese Kämpfe ergänzen und verstärken sich gegenseitig. Die institutionalisierte Politik ist eine dieser Fronten – ein strategisch wichtiger Ort, der es uns erlaubt, in anderen Bereichen weitere Fortschritte zu erzielen. Es ist ein langwieriger Prozess, der nicht so schnell voranschreitet, wie wir es gerne hätten und wie es notwendig wäre, um das Vordringen der extremen Rechten aufzuhalten. Doch die konkrete Hoffnung entsteht im Alltag, wo die eigene Existenz an sich schon ein Akt des Widerstands ist.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Caroline Kim und Oliver Precht