Anfang Januar wollte die Berliner Schulsenatorin Sandra Scheeres überraschend die Schulen öffnen – es gab spontanen Protest von Lehrer*innen und Eltern. Was war der Grund? 

Die Ministerpräsident*innen hatten am 5. Januar beschlossen, die Maßnahmen zum Infektionsschutz zu verlängern und auch die Schulen geschlossen zu halten. Einen Tag später verkündete die Bildungsverwaltung, dass Berlin bereits ab dem 11. Januar zum Präsenzunterricht zurückkehren würde. Das war auf dem Höhepunkt des Infektionsgeschehens, in Berlin hatten wir damals Inzidenzwerte von 130 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner*innen – eine verantwortungslose Fehleinschätzung. 

Und dann? 

Viele Kolleg*innen hatten Angst um ihre Gesundheit. Entsprechend waren sie bereit, schnell und entschlossen zu handeln, um eine Öffnung der Schulen unter diesen Bedingungen zu verhindern. Es gab eine Petition, die innerhalb von zwei Tagen über dreißigtausendmal unterschrieben wurde. Viele Kolleg*innen verfassten gemeinsame Brandbriefe an die Senatsverwaltung. Einige Schulleiter*innen stellten Eilanträge, von der zentralen Linie abweichen zu dürfen oder kündigten gar Ungehorsam an. Am Ende musste die Senatorin zurückrudern. Freitag Nachmittag kündigte sie an, dass die Schulen am Montag doch zubleiben würden. 

Nun hat am 22. Februar der Unterricht in den Klassen 1–3 wieder begonnen. Wie schätzt du die Situation jetzt ein? 

Die Neuinfektionen sind seit Januar zurückgegangen, die Maßnahmen des Teil-Lockdowns wirken, wenn auch sehr langsam. Allerdings wird die Situation für die Kinder und Jugendlichen von Woche zu Woche schwieriger. Viele Pädagog*innen machten sich Sorgen, weil sie einige Kinder nur schlecht, manche gar nicht mehr erreichen. Gerade an Grundschulen spüren wir deshalb auch eine Erleichterung, dass es wieder losgeht. 

Was hat die Senatsverwaltung in der Zwischenzeit unternommen? 

Sie haben sich bemüht, einige Maßnahmen, die spätestens nach den Herbstferien 2020 hätten ergriffen werden müssen, nachzuholen: Es werden mehr Luftfilter angeschafft. Anfang des Jahres kamen die ersten Geräte bei uns an, jetzt werden sie auf etwa fünf pro Schule aufgestockt – das reicht natürlich längst nicht, ist aber ein Anfang. Präsenzunterricht wird zunächst nur im Wechselmodell stattfinden und neben den Klassen 1–3 erst einmal nur für die Abschlussjahrgänge. 

In Österreich werden alle Kinder morgens mit einem Schnell-Test versorgt? Wäre das auch für hier ein Baustein? 

In Berlin sollen jetzt Pädagog*innen und Schüler*innen zumindest zweimal pro Woche getestet werden. Es gibt auch hier noch ein paar ungeklärte Fragen, aber das wird nun anscheinend ernsthaft angegangen, denn ohne symptomunabhängige Tests kann es nicht gehen. Allerdings ist das tatsächlich nur ein Baustein, denn für positiv Getestete ist es dann ja schon zu spät. Der Test schützt nur noch andere. Insofern wären weiter reichende Maßnahmen nötig. 

Welche könnten das sein?

Es gibt eine Reihe struktureller Probleme, die gar nicht ad hoc zu beheben sind und eher auf eine langfristig verfehlte Bildungspolitik verweisen. Die Belastung der Lehrkräfte hat beispielsweise in der Pandemie stark zugenommen – sie war aber auch vorher schon hoch. Die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden für Lehrer*innen liegt beispielsweise seit Jahren auf einem überhöhten Niveau. Und jenseits des Unterrichts kommen dauernd weitere Aufgaben dazu. Entlastung ist hier nicht in Sicht. Insgesamt haben wir seit Jahren einen großen Personalmangel. Lehrkräfte, die zu Risikogruppen gehören, können nun teilweise nicht mehr in Präsenz unterrichten – das verschärft die Situation. Hier hätte viel mehr investiert werden müssen. Wir bräuchten eine Arbeitszeitreduzierung, eine zehnprozentige Vertretungsreserve und kleinere Lerngruppen. Dass diese Problemen kaum angegangen wurden, fällt uns jetzt in der angespannten Situation richtig auf die Füße. 

Wie steht es mit den räumlichen Bedingungen? 

Genau, wir brauchen nicht nur mehr Personal, sondern auch mehr Platz, um die Abstandsregeln einhalten zu können. Aber auch das ist kein neues Problem. Schon vor Corona war der Raummangel groß. Berlin kommt nicht hinterher, neue Schulen zu bauen. Jetzt müssten schnell zusätzliche Räumlichkeiten angemietet werden. Das passiert aber nicht. Über den Zustand der Schulgebäude ist ja in den letzten Jahren viel gesprochen worden. Da kommen mit Corona neue Anforderungen hinzu. Aus meiner Sicht müssten alle Klassenräume mit Luftfiltern ausgestatten werden – das ist aber in den meisten Schulgebäuden schon wegen des immensen Strombedarfs mit den bestehenden Leitungen gar nicht zu machen. Last not least hingen wir bei der Digitalisierung der Schulen auch schon vor der Pandemie weit hinter den Erfordernissen her. Teilweise wurden Schulen zwar mit Smartboards ausgestattet, aber bei den personellen Ressourcen für IT-Administration und Wartung wurde dann wieder gespart. Nach wie vor sind die Schulen unzureichend mit dem Internet verbunden. 

Aber gibt es nicht auch ein paar Dinge, die akut möglich wären, oder die über den Sommer 2020 hätten vorbereitet werden können? 

Ja, klar, aber im Sommer war offenbar die Hoffnung vorherrschend, dass sich das Problem angesichts der niedrigen Inzidenzwerte weitgehend erledigt haben würde. Die Bildungsverwaltung ist es gewohnt, Probleme auszusitzen und auf die Betroffenen vor Ort abzuwälzen. In der Pandemie ist das aber fahrlässig. Schon im letzten Frühjahr hätte sie ihrer Fürsorgepflicht als Arbeitgeberin nachkommen und beispielsweise Masken bereitstellen müssen, die auch die Träger*innen schützen. Stattdessen haben alle Schulbeschäftigten einmalig 16 Euro überwiesen bekommen, um zwei waschbare Stoffmasken anzuschaffen. Erst im Dezember haben wir zwei FFP2-Masken erhalten und jetzt im Februar ein paar mehr. Im Herbst wäre es außerdem problemlos möglich gewesen, den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts zu folgen und ab einer Inzidenz von 50 pro 100.000 Einwohner*innen auf Wechselunterricht umzustellen. Das ist nicht erfolgt, obwohl die Schulen am Anfang des Schuljahres Konzepte dafür erarbeitet hatten. Es gab den klaren politischen Willen, die Betreuungsfunktion der Schulen aufrechtzuerhalten, damit die Eltern arbeiten gehen können. 

Und wie ist es bei der Ausstattung mit digitaler Technik? 

Bei der Digitalisierung kommt jetzt viel in Bewegung, vor allem weil die Beschäftigten sich dafür engagieren. Nun werden Schüler*innen mit Endgeräten ausgestattet und Lehrkräfte sollen in den kommenden Monaten folgen. Hier hätte viel mehr passieren können, zum Beispiel wären die personellen Ressourcen für die landeseigene Plattform „Lernraum Berlin“ massiv aufzustocken. Die Arbeit mit dem Lernraum empfinden viele Lehrkräfte immer noch als Zumutung. Viele Schulen steigen deshalb auf Angebote von Privatfirmen um, weil die stabiler laufen. 

Wie so oft im Bereich sozialer Dienstleistungen trifft der Protest von Beschäftigten nicht in erster Linie die Verantwortlichen, sondern diejenigen, die von der Arbeit abhängen, in eurem Fall die Kinder. Deren Bildungsinteressen werden in der Debatte oft gegen Gesundheitsschutz ausgespielt. Wie diskutiert ihr das? 

Als Bildungsgewerkschaft arbeiten wir mit dem Anspruch, das Bildungswesen im Interesse der Lernenden und der Beschäftigten gleichermaßen umzugestalten. Die Kolleg*innen arbeiten im Lockdown mit großem Engagement und unter hoher Belastung. Sie versuchen die Kinder zu erreichen und ihnen trotz der widrigen Bedingungen gute Bildung zu ermöglichen. Viele waren auch schon im Januar in Präsenz an ihrer Schule, ob in der Notbetreuung oder in kleinen Fördergruppen für diejenigen, die die Unterstützung besonders brauchen. Auch hier haben wir es mit einem Problem zu tun, das durch Corona nicht entstanden ist, sondern nur offensichtlicher wird: Bildungsgerechtigkeit. 

Was schlägst du vor? 

Selbstverständlich können die Schulen nicht endlos geschlossen bleiben, es summieren sich dadurch weitere Probleme und Defizite, mit denen wir noch Jahre zu kämpfen haben werden. Aber das kann nicht auf Kosten der Pädagog*innen gehen. Wir erwarten als Beschäftigte, aber auch für die Kinder und ihre Familien, dass sichere Bedingungen für Schulöffnungen geschaffen werden! Auch Eltern brauchen dringend Entlastung. Da sind Schulöffnungen aber nicht der einzige Weg. Sie müssen freigestellt werden, um sich bei voller Entgeltfortzahlung um ihre Kinder kümmern zu können. Außerdem müssten Angebote der Familienhilfe und der aufsuchenden Sozialarbeit aufgestockt werden. 

Siehst du Möglichkeiten, für die Kinder, die auf die Schule am stärksten angewiesen sind, spezifische Angebote zu machen, statt ein allgemeines Wechselmodell zu wählen? 

Die Pädagog*innen vor Ort wissen, wer wie viel Hilfe braucht. Einige Schulen sind schon im Januar gezielt auf Eltern zugegangen und haben Unterstützung in kleinen Gruppen angeboten. Gleichzeitig gibt es, besonders an den Oberschulen, auch viele Jugendliche, die mit dem Distanzunterricht gut klarkommen und noch länger in dieser Form lernen könnten. Insofern wäre ein flexibleres Vorgehen möglich und wünschenswert. Dazu bräuchten die Schulleitungen und die Beschäftigten mehr Spielräume, die Öffnung je nach Situation und konkretem Bedarf flexibel zu gestalten. Dann wäre es auch möglich Lösungen zu finden, ohne dass Präsenz- und Distanzunterricht parallel zu leisten sind und das zu weiteren Belastungen führt. Politisch gibt es allerdings einen hohen Druck von Seiten der Wirtschaft und von Teilen der Eltern, die überlastet sind, schnell wieder in den regulären Betrieb zu gehen. 

Könnten die Diskussionen um Gesundheitsschutz in der Pandemie auch ein Ansatzpunkt für gewerkschaftliche Organisierung im Bildungsbereich insgesamt werden? 

Ja, unbedingt! Es gibt hier einige sehr positive Erfahrungen in anderen Ländern, zum Beispiel in UK oder USA. Und auch die Berliner Kollegien haben Anfang Januar aus dem Homeoffice heraus eine große politische Handlungsfähigkeit bewiesen und in zwei Tagen sehr viel Druck aufgebaut. Das wurde nicht von der GEW angestoßen, sondern kam aus den Schulen. Wir haben den Protest aber öffentlichkeitswirksam aufgegriffen. Dort, wo wir aktive Gruppen haben, gelingt es besser, schnell gemeinsam zu handeln. Als GEW brauchen wir eine Strategie, die über Lobbyarbeit hinausgeht und auf kämpferische Organisierung und Veränderung des Bildungssystems zielt. Nicht nur in Krankenhäusern, auch im Bildungswesen ist „mehr von uns besser für alle“. Die GEW Berlin bereitet eine Tarifkampagne für kleinere Klassen vor. In einem Tarifvertrag Gesundheitsschutz soll das Verhältnis von Schüler*innen und Lehrkräften verbindlich fixiert und verbessert werden. Ich denke, dass wir auch unter Pandemiebedingungen streikfähig sind. Gerade jetzt bewegt die Kolleg*innen die Frage des Gesundheitsschutzes. 

Das Gespräch führte Barbara Fried.