Der Machtwechsel in China im kommenden Jahr rückt näher und Politiker und Wissenschaftler spekulieren, welches Thema die Politik des Landes in den folgenden acht Jahren bestimmen wird. Wohin der Präsidentschaftsanwärter Xi Jinping neigt, ist nach wie vor nicht ersichtlich. Eine Vielzahl von Vorschlägen sind von aufstrebenden Kadern entwickelt worden, die sich Hoffnung auf das Führungsgremium der Kommunistischen Partei, den Ständigen Ausschuss des Politbüros, machen. 

Die meisten Vorschläge sind Variationen bereits bewährter Ideen, doch Parteisekretär Bo Xilai aus der südwestlichen Metropole Chongqing hat mit einer originellen Variante »roter Kultur« einen neuen politischen Weg eingeschlagen und mit bemerkenswert kühnen Kampagnen versucht, Einfluss zu gewinnen. Bo ist das führende Parteimitglied des Verwaltungsgebiets Chongqing, das eine Fläche in etwa von der Größe Österreichs umfasst. Dazu gehören die Stadt Chongqing mit ihren 10 Millionen Einwohnern und ein riesiges agrarisch geprägtes Umland mit über 1200 Kleinstädten und Dörfern. In den vergangenen Jahren ist Bo mit Initiativen wie der Kampagne »Rotes Lied« und der Abschaffung von Werbung im lokalen Fernsehsender ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit gerückt. Doch die Bedeutung seiner Politik reicht über solche Spielereien hinaus: Sein Angriff auf die ökonomische Ungleichheit und die Ausweitung der ökonomischen Rolle des Staats versuchen eine Neufassung des Gesellschaftsvertrags von Chongqing. Es heißt, in China habe die Politik auf der Stelle getreten, während die Ökonomie nach vorne gestürmt sei. Doch unter der ruhigen Oberfläche der Ein-Parteien-Herrschaft finden in der Kommunistischen Partei angeregte Debatten über die Zukunft Chinas statt. Politische Experimente auf lokaler Ebene liefern Argumente, die die Gestalt des chinesischen Sozialismus in der nächsten Regierungsperiode und darüber hinaus bestimmen werden; ihre Protagonisten »bewerben« sich damit für höhere Ämter. Diese Debatte steuert nicht immer in eine marktliberale Richtung. Chinas Neue Linke hat sich Bos Ideen zu eigen gemacht und wirbt für eine radikale Abkehr von der marktorientierten Politik der Reform- und Öffnungsperiode. Chongqing führt sie als Beweis dafür an, dass Wachstum mit ökonomischer Gleichheit verknüpft werden kann, ihre Vision des Sozialismus knüpft an einer stärker staatsorientierten Vergangenheit an. Vertretern der Neuen Linken zufolge bilden die in Chongqing gemachten Erfahrungen den Anfang eines Entwicklungswegs für China, der radikal mit den unter Deng Xiaoping begonnenen kapitalistischen Reformen brechen wird. Ihre Hoffnung ist, den Staat wieder ins Zentrum des ökonomischen Systems in China rücken zu können mit einem Schwerpunkt auf Armutsbekämpfung und einer Wiederbelebung maoistischer Politik. Dies zusammen bildet ihrer Ansicht nach die Blaupause für eine neue Ära in der chinesischen Geschichte.

Eine Neue Linke

In einem politischen System, in dem Losungen eine große Bedeutung beigemessen wird, gerät die Einführung eines neuen Schlagworts zu einer diffizilen Angelegenheit. Folglich hat sich Bo alle Mühe gegeben, seine Politik in der Geschichte der Kommunistischen Partei zu verankern: »Manche behaupten, ›rote Kultur‹ wäre ein Linksruck«, sagte Bo 2009 auf einer kommunalen Parteiversammlung. »In Wahrheit geht es einfach darum, dem Volk zu dienen. Dafür wurde die Kommunistische Partei gegründet.« Mit der Präsentation seiner eigenen Leistungen und Ansichten läuft Bo Gefahr, jene Politbüromitglieder gegen sich aufzubringen, denen ein kollektives Auftreten der Führung wichtig ist, um im Machtzentrum ein einträchtiges Bild abzugeben und die Möglichkeit politischer Spaltungen zu minimieren. Doch führende Köpfe der Neuen Linken beginnen, über die Leitidee der chinesischen Politik der letzten 30 Jahre hinauszublicken. Wang Shaoguang, ein in der Volksrepublik gebürtiger Politikprofessor an der Chinesischen Universität Hongkong, hat in einem unveröffentlichten Artikel, der sich hauptsächlich mit Chongqing befasst, diese neue Ära »Sozialismus 3.0« getauft und sieht sie in der Nachfolge sowohl von Maos radikalem Egalitarismus als auch von Dengs Reform- und Öffnungspolitik. Der umstrittene Politikwissenschaftler Pan Wei von der Peking-Universität sieht seinerseits Chongqing als Beweis dafür an, dass China sich in Richtung einer »PostReform-und-Öffnungs-Ära« bewegt und zur traditionellen sozialistischen Betonung der Gleichheit zurückkehrt. Weil die wachstumsorientierte Politik der jüngsten Jahrzehnte eine inakzeptable Kluft zwischen Reich und Arm geschaffen hat, sei die Zeit für ein radikales Umdenken in der chinesischen Politik gekommen – allerdings ist er nicht sicher, ob auch schon die Zeit dafür gekommen ist, sich in diesem Sinne öffentlich zu äußern. Der Machtwechsel naht und Bo ist von einigen seiner provokativsten Aussagen abgerückt. Auf einem Treffen mit den Herausgebern staatlicher Publikationsorgane Anfang November gab sich Bo große Mühe, seine »Rote-Kultur«-Initiativen mit zustimmungsfähigeren Entwicklungszielen der Partei in Einklang zu bringen, und argumentierte, dass Wirtschaftswachstum und Aufbau des »verwirklichten Kommunismus« für alle Parteiführer bis zurück zu Deng Xiaoping und Mao zwei Seiten derselben Medaille gewesen seien. Bo erklärte seine Politik als natürliche Fortführung von Chinas modernem Entwicklungsweg, vermutlich als Vergewisserung gegenüber Mitgliedern des Ständigen Ausschusses des Politbüros, dass sie von ihm als Mitglied keine politischen Spaltungen zu befürchten haben. Seine Politik auf die »Rotes-Lied«-Wettbewerbe zu reduzieren, wies er als »ein völliges Missverständnis« seiner Pläne zurück; sie seien Teil einer breiter angelegten Initiative zur Bildung der Bevölkerung in chinesischen Klassikern, zu denen das kommunistische Liedgut ebenso zähle wie die konfuzianischen und daoistischen Schriften. Politische Bildung sei elementar für die Aufrechterhaltung von »gesundem Wachstum« und Patriotismus in Zeiten wirtschaftlicher Expansion. Eher bizarr ist, dass er sich damit rühmt, Henry Kissinger habe sich auf einem Besuch im Juli dieses Jahres von der »Rotes-Lied«-Kampagne beeindruckt gezeigt. Bos Chongqing ist zur Hauptstadt für Chinas Neue Linke geworden, aber es ist nicht das einzige Modell, das die Aufmerksamkeit von Chinas Führungsspitze auf sich zu ziehen versucht. Auch Marktliberale und global orientierte Modernisierer haben sich von Lokalregierungen inspirieren lassen, insbesondere von der Reformpolitik in Shenzhen und der Provinz Guangdong. In Shenzhen wird mit westlich orientierten politischen Reformen in Richtung Gewaltenteilung experimentiert; Premierminister Wen Jiabao hielt im vergangenen August eine kontroverse Rede, in der er sich deutlich für politischen Wandel aussprach. Wang Yang, Guangdongs führender Politiker und Bos Konkurrent um einen Sitz im Ständigen Ausschuss des Politbüros, konzentrierte sich auf den eingängigen Slogan »Glückliches Guangdong« und schlug vor, Wachstum mit einem »Glücksindex« zu messen. Trotz offensichtlicher reformistischer Neigungen hat sich Wang an ein sehr viel traditionelleres Drehbuch gehalten als Bo, er hat stillschweigend für Wachstum gesorgt, ohne seinen Kopf zu weit herauszustrecken. Selbst die Idee eines »Glücksindex« ist ein recht direkter Verweis auf die Maxime des 11. Fünfjahresplans, das bip-Wachstum mit Umweltschutz und der Verbesserung der Lebensqualität in eine Balance zu bringen.

Die Ökonomie in der Post-Reform-Ära

Wie stellen sich die Denker der Neuen Linken denn nun die nächste Phase des chinesischen Sozialismus vor? Zunächst einmal, sagen sie, wird er deutlich weniger wie Kapitalismus aussehen. Sie fordern eine Rückkehr des Staats in die ökonomische Sphäre im großen Stil. Chongqing gilt ihnen als Beweis, dass ein großer öffentlicher Sektor neben einem dynamischen Markt existieren kann. Über die letzten Jahre ist Chongqing zu einem attraktiven Standort für Unternehmen geworden, die aufgrund steigender Löhne und Kosten ihre Produktion aus den entwickelteren Küstenprovinzen abziehen. In diesem Zeitraum lag das BIP-Wachstum Chongqings bei ungefähr 14 Prozent pro Jahr – viel höher als der nationale Durchschnitt – und lieferte linken Akademikern ein eigenes Wachstumsmodell. Den Politikwissenschaftlern der Neuen Linken dient Chongqing mit seiner Förderung der staatlichen Unternehmenskultur als Antwort auf das von vielen marktorientierten chinesischen Ökonomen vorgebrachte Argument, dass staatliche Investitionen private Unternehmen verdrängen (guo jin min tui). Cui Zhiyuan, Professor an der Pekinger Qinghua-Universität, hat einen Großteil des vergangenen Jahres mit Feldforschung in Chongqing zugebracht und kommt zu dem Ergebnis, dass dort »der Staat nicht private Unternehmen verdrängt. [...] Tatsächlich entwickeln sich Staat und Markt gemeinsam (guo jin min ye jin).« Laut Wang hat die private Unternehmenstätigkeit in der Stadt die staatlichen Investitionen sogar überholt. Er weist die Vorstellung einer Verdrängung zurück: »Diese Idee hat nicht nur absolut keine theoretische Grundlage, sondern ist auch durch die praktische Erfahrung in Chongqing widerlegt worden. […] Während die Staatstätigkeit in Chongqings Wirtschaft in absoluten Zahlen zugenommen hat, ist ihr relativer Anteil an der Wirtschaft zurückgegangen.« Im Modell Chongqing sind allerdings Armut und Ungleichheit die Bezugsgrößen, auf die alles bezogen wird. Chongqings Regierung hat die Profite staatlicher Unternehmen in traditionelle sozialistische Projekte gelenkt, in sozialen Wohnungsbau und öffentlichen Nahverkehr. Es ist kaum überraschend, dass Bos größter Erfolg die Initiative für bezahlbare Wohnungen für den ärmsten Teil der Bevölkerung ist. Das gewaltige Wohnungsbauprogramm soll ein Drittel der 30 Millionen Einwohner des Verwaltungsgebiets mit günstigen Appartements versorgen. Es hat landesweit Aufmerksamkeit erregt; die Zentralregierung legt nun als Bestandteil des 12. Fünfjahresplans ein ähnliches Programm auf nationaler Ebene auf. Bo präsentiert seine Agenda als Fortschritt gegenüber der einseitigen Orientierung am bip, durch die die chinesische Politik seit Deng bestimmt war: »Es geht nicht darum, wie viele Hochhäuser man hat, es geht darum, wie glücklich das Volk ist«, sagte er in einer Rede 2009 vor Chongqinger Parteimitgliedern. Solche Aussagen erinnern an die Rede vom glücklichen Guangdong, doch die staatsorientierte Politik steht in scharfem Gegensatz zu den Vorschlägen des Rivalen Wang Yang. Die jüngsten Reformen in dessen exportorientierter Provinz weisen über die Landesgrenzen hinaus und fügen sich glänzend in die aktuellen Debatten westlicher Politikern über die Verbesserung städtischer Lebensqualität. Bos kann sich so von der vom Reichtum angetriebenen Kultur der großen Küstenstädte wie Shanghai und Kanton absetzen, die als Flaggschiffe der Reform-und-Öffnungs-Ära ökonomisches Wachstum mit beträchtlichen sozialen Ungleichheiten erkauft haben.

Politik für die Massen

Westliche Medien haben Wens Forderung an seine Kollegen, politische Reformen einzuleiten, in den Vordergrund gestellt. Befürworter des Chongqing-Modells greifen statt auf Anleihen bei westlichen Demokratien auf das politische Denken Maos zurück – etwa dass Kader unter dem Volk leben und die Ansichten der Massen teilen sollten. Dagegen hätten die Kader durch den in der Reform-und-ÖffnungsPeriode angehäuften Reichtum die Verbindung zum Volk verloren. Und Bo hat sich mithilfe des maoistischen Konzepts der »Massenlinie« nun des Problems des Parteielitismus angenommen. Er hat lokale Parteimitglieder angewiesen, »wieder in Kontakt zu kommen« mit armen Bewohnern ihrer Bezirke, er hat Regularien mit spezifischen Instruktionen erlassen, die Parteisekretäre in Dörfern verpflichten, wenigstens einmal pro Woche einen halben Tag lang für Bürgerversammlungen zur Verfügung zu stehen. Die Parteileute sind verpflichtet, auf diesen Treffen die Arbeit der Regierung zu erklären und aufmerksam und geduldig die Ansichten der Bevölkerung anzuhören. Kreisvorsitzende müssen außerdem wenigstens einmal im Monat auf das Land fahren, um dem Volk die Möglichkeit zu eröffnen, Petitionen einzureichen. Doch diese »Wiederbelebung der Moral« erstreckt sich nicht nur auf Kader und Bürokraten. In Bos Chongqing spielt auch die »geistige Gesundheit« des Volks eine Rolle: Rote Kultur wird als Antwort auf alle möglichen Probleme von Korruption über Spielsucht bis zu sozialer Entfremdung gefördert. In Chongqing wurde mit öffentlichkeitswirksamen Initiativen wie dem »Rotes-Lied«-Wettbewerb oder SMS mit Zitaten von Mao an jeden der 17 Millionen Handybesitzer versucht, die gesamte Bevölkerung in diese Kampagne einzubinden. Tatsächlich geht die sozialistische Kultur Hand in Hand mit der Förderung chinesischer Tradition, Maos Abscheu gegenüber »feudalen Sitten« zum Trotz. Die Bevölkerung wurde ermutigt, chinesische Klassiker zu lesen und traditionelle Erzählkunst-Veranstaltungen zu besuchen – abgeraten wurde hingegen von der traditionellen sichuanesischen Freizeitbeschäftigung des Mah-Jongg-Spiels. Das Chongqing-Modell wurde von Denkern der Neuen Linken als gelungenes Beispiel für hausgemachte politische Reformen bejubelt – als Beweis, dass China seine Regierungsform verbessern kann, ohne ausländische Modelle zu kopieren. Doch Bo selbst ist ein etwas undurchsichtiger Maoist: Der Sohn des Altrevolutionärs Bo Yibo verbrachte einen Großteil der Kulturrevolution im Gefängnis, nachdem sein Vater in Ungnade gefallen war, und ist bekannt für seinen üppigen Lebensstil; seinen Sohn Bo Guagua schickte er nach England auf die vornehme Harrow School und nach Oxford. Joseph Cheng Yu-Shek, ein Experte für chinesische Führungsfiguren an der Städtischen Universität Hongkong, argumentiert daher, dass Bo fürchtet, als privilegierter Sohn eines großen Parteiführers gebrandmarkt zu werden: »Bo ist der typische Prinz im Schatten des Vaters, er neigt eher populären und maoistischen Politiken zu.« Ist Rot das neue Schwarz? Bo ist jetzt 62 Jahre alt, er wird also regulär nach dem übernächsten Parteitag 2017 zurücktreten müssen. Welche Position ihm auf dem kommenden Parteitag im Oktober 2012 auch zugewiesen wird, es wird aller Wahrscheinlichkeit nach seine letzte sein. Bo hat alle Schleusen geöffnet, um Unterstützung in der Bevölkerung zu gewinnen, und damit mit dem zurückhaltenden, bürokratischen Stil gebrochen, der die chinesische Politik seit Deng Xiaopings Rückzug dominiert hat. Auch wenn Xis Besuch in Chongqing Ende vergangenen Jahres zeigt, dass Bo die Führungsspitze auf sich aufmerksam machen konnte, bleibt ungewiss, ob er auch ihre Zustimmung gewonnen hat. Bos jüngste Initiativen waren weniger auf die Wiederbelebung kommunistischer Ideen aus der Mao-Zeit ausgerichtet als auf Bo Xilai selbst. Die New York Times (vom 2.11.2011) berichtete, dass Chongqings Regierung Bos Kampf gegen die lokale Mafia in eine Medien-Marke, nach Selbstauskunft im Stile von Der Pate, verwandelt: Dazu gehören eine vierbändige Populärgeschichte, eine Großproduktion fürs Kino sowie eine Fernsehserie. In Chongqing sind derzeit in jeder Zeitung der Stadt dieselben Fotos in der täglichen Berichterstattung über Bo auf Seite 3 zu finden. Bo ist es gelungen, eine leidenschaftliche Debatte über die Zukunft des Sozialismus in China zu entfachen. Ob er sich damit einen Sitz im Ständigen Ausschuss des Politbüros erworben hat, werden wir erst im kommenden Oktober erfahren. 

Der Beitrag ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung des Beitrags »Socialism 3.0 in China«, online erschienen in The Diplomat vom 25.4.2011. Aus dem Englischen von Daniel Fastner