Du bist vor über zehn Jahren in der LINKEN aktiv geworden. Welche Rolle hat das Thema Ostdeutschland gespielt?

Mich hat die Erfahrung meiner Familie geprägt, die nach der Wende viel Frustration und Verunsicherung erlebt hat und ohne Job und Perspektive dastand. Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit hat mich darum früh politisiert. In die Partei bin ich zwar wegen anderer Themen eingetreten, doch DIE LINKE ist und bleibt für mich die einzige Partei, die das Gerechtigkeitsproblem zwischen Ost und West ernsthaft aufgreift.

DIE LINKE hat den Status als ostdeutsche Volkspartei aber vielerorts verloren. Woran liegt das? 

Die Partei ist in ihrer Existenz insgesamt bedroht, und daran tragen wir selbst Schuld. Das heißt aber auch, dass wir es in der Hand haben, daran etwas zu ändern. Im Osten war der demografisch bedingte Verlust an Wähler*innen schon lange absehbar. Doch fatalerweise wurde es versäumt, eine neue Generation für die LINKE zu gewinnen. 

Warum ist das nicht gelungen?

Im Osten wurden die Strukturen trotz der Parteigründung 2007 nicht weiterentwickelt. Um 2009 gab es große Wahlerfolge, sie waren getragen von der Mobilisierung gegen Hartz IV und von den Krisen- und Bildungsprotesten. Dieser Erfolg hat die strukturellen Probleme lange überdeckt und statt einer Neuausrichtung galt eher »Weiter so«. Die Ostlinke hätte aufgrund ihrer Stärke und gesellschaftlichen Verankerung ein Motor der Erneuerung sein können. Doch bis heute fehlt vielerorts der Mut dafür, und das fällt uns jetzt auf die Füße.

Was müsste sich ändern?

An vielen Orten ist die Partei noch immer durch das Politik- und Organisationsverständnis der PDS geprägt. Das ist in fast jedem Kreisverband spürbar. Viele glauben, dass wir einfach die Praxis der PDS fortführen müssen, um wieder erfolgreich zu sein. Die gesellschaftlichen Bedingungen haben sich aber verändert. Der Anspruch, eine Kümmererpartei zu sein, reicht nicht mehr aus und wir haben auch nicht mehr die Kraft dazu. Wir müssen Stellvertreterpolitik überwinden und Menschen darin unterstützen, selbst aktiv zu werden.

Ist Stellvertreterpolitik auch der Regierungsbeteiligung geschuldet? In Brandenburg war die LINKE immerhin zehn Jahre lang in der Regierung.

Da liegt auf jeden Fall ein Problem. Wir haben anfangs sehr hohe Erwartungen geschürt, die wir nicht wirklich einlösen konnten. Spätestens in der zweiten Legislatur hat die Rollenverteilung zwischen Regierungsmitgliedern, Fraktion und Landespartei nicht mehr funktioniert. Wir waren nicht Impulsgeber oder Korrektiv, sondern haben uns vom Koalitionspartner treiben lassen und an Formelkompromissen herumgedoktert, statt offen zu diskutieren. Wir hätten selbstbewusst klarmachen müssen, was wir wollen und was mit der LINKEN nicht geht. Die Debatten um Braunkohle oder das Polizei- und Verfassungsschutzgesetz haben Spuren hinterlassen. Das müssen wir dringend selbstkritisch aufarbeiten.

Was ist aus dieser Erfahrung zu lernen?

Man darf nicht unterschätzen, wie viel Ablehnung den Genoss*innen in den 1990er-Jahren entgegenschlug. Da ist es nachvollziehbar, dass man die eigene Politikfähigkeit unter Beweis stellen will. Doch das hat auf den politischen Habitus abgefärbt. Wir müssen wieder rebellischer werden und sagen: Ja, wir wollen Wohnungskonzerne enteignen und den Kapitalismus abschaffen! Das wäre auch wichtig, um dem Vormarsch der Rechten eine starke linke Alternative entgegenzustellen.

Was wäre denn nötig, um wieder in die Offensive zu kommen?

Wir müssen die Idee einer sozialistischen Zukunft starkmachen. Nur wenn wir als Gesamtpartei eine solche Utopie vertreten, können wir andere begeistern. Denn wir sind die politische Kraft, die einen Weg aus den vielfältigen Krisen aufzeigt. Der Volksentscheid von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« hat gezeigt, dass man auch mit radikalen Forderungen Mehrheiten überzeugen kann. Bei der Wohnungs-, Gesundheits- und Energieversorgung wird die Unmenschlichkeit des Kapitalismus für viele Menschen spürbar und wir können mit ihnen für das Ziel der Vergesellschaftung streiten. Und zwar nicht nur in den Großstädten, sondern auch in den Kleinstädten und auf dem Land, wo Kliniken geschlossen oder Buslinien gestrichen werden. Die Kämpfe gegen Privatisierung waren hier bei uns in Potsdam die, die am meisten bewegt haben.

Welche Auseinandersetzungen waren das?

Mein Wahlkreis in Potsdam ist sehr bürgerlich und vergleichsweise wohlhabend. Doch es gibt enorme soziale Konflikte um die Frage »Wem gehört die Stadt?«. Ein Beispiel ist der Wasserzugang, der oft privatisiert ist. Wir haben mit anderen für öffentliche Badestellen protestiert, haben eine Badeaktion mit Banner gemacht. Denn es braucht nicht nur geschützte Grünflächen und eine Achtung von Denkmal- und Landschaftsschutz, sondern auch Räume für Freizeit und Erholung. Eine naturverträgliche, öffentliche Badeinfrastruktur könnte beides verbinden. In Städten wie Kopenhagen gibt es so etwas längst. Die Auseinandersetzung hat gezeigt, dass in Potsdam nur die LINKE eine sozial-ökologische Perspektive vertritt. Die GRÜNEN hier sind erzkonservativ und setzen sich vor allem für den Erhalt und Wiederaufbau der preußischen Herrschaftsarchitektur ein – selbst dann, wenn dafür Gebäude der DDR-Moderne abgerissen werden. Wir stehen hier als einzige Partei gegen Gentrifizierung, aber auch gegen die Unsichtbarmachung unserer Ostgeschichte und die marktgängige Totsanierung der Stadt. Damit gewinnen wir viel Zuspruch.

Sind es vor allem jüngere stadtpolitisch Aktive, die die LINKE in solchen Kämpfen gewinnt?

Absolut nicht. Von Privatisierung und Verdrängung sind alle betroffen. Wir hatten hier auch eine Auseinandersetzung um privat betriebene Seniorenwohnungen, die Josephinen-Wohnanlage. Der Investor fand das Geschäftsmodell nicht mehr profitabel und hat den hochbetagten Bewohner*innen fristlos gekündigt, um Airbnb-Apartments einzurichten – mitten im Corona-Winter. Dagegen hat sich ein breites Bündnis aus Verbraucherzentrale, Mieterbund und Seniorenrat gebildet, das wir unterstützt haben. Dieser Kreis hat Beratungen für die Bewohner*innen organisiert, mit ihnen Kundgebungen gemacht. Schließlich kam aus der Verbraucherzentrale der Anstoß, die Enteignung zu sozialen Zwecken im Brandenburger Landesgesetz zu verankern. Auch wenn wir das im Landtag nicht durchsetzen konnten: Es war ein wichtiger gemeinsamer Kampf, in dem wir viele neue Verbündete gewonnen haben. 

Wie hat sich eure Parteiarbeit durch solche Auseinandersetzungen verändert?

Ganz viele Menschen aus kapitalismuskritischen und feministischen Bündnissen, aus Anti-AfD-Protesten und Geflüchteteninitiativen sowie aus der Krankenhaus- und Klimabewegung sind in den letzten Jahren bei uns aktiv geworden. Durch unsere Kundgebungen, aber auch durch den Haustürwahlkampf konnten wir neue Mitstreiter*innen finden. Damit die auch bleiben, müssen wir aber die Parteikultur insgesamt verändern und erneuern.

Was heißt das für dich?

Wir müssen über unsere Differenzen diskutieren und ein gemeinsames Organisationsverständnis erarbeiten. Sehen wir uns zum Beispiel als Kader- oder als Mitgliederpartei? Wir haben seit der Parteigründung versäumt, diese Debatte offen zu führen. Auch programmatische Konflikte, etwa zur Braunkohle oder Friedenspolitik, wurden viel zu lang mit Kompromissen überdeckt, statt sie produktiv zu wenden. Wir brauchen Zeit und Raum, um diese Punkte zu klären und dann Beschlüsse zu fällen. Das mag zunächst auf Kosten kurzfristiger Ziele gehen wie etwa gute Umfrageergebnisse, aber die Priorität muss jetzt sein, die Partei aufzubauen, Mitglieder zu gewinnen, politische Bildung zu leisten, kampagnenfähig zu werden.

Was heißt denn Parteiaufbau für dich vor Ort? Wie wird die Partei attraktiv für neue Mitstreiter*innen?

Entscheidend ist, dass die Mitglieder im Mittelpunkt stehen. Wir versuchen das durch mehr Debatte und Aktion und weniger Sitzungssozialismus. Neben den üblichen Sitzungen bieten wir zum Beispiel einen offenen feministischen Stammtisch an. Parteibüros können zu offenen Bürokollektiven werden, wie in Leipzig, Erfurt und Berlin und inzwischen auch hier in Potsdam. Statt die Büros leerstehen zu lassen, können wir lokalen Initiativen Raum bieten, von Politik über Kultur bis zu Sozialberatung und Volxküchen. Das stärkt die Kontakte und es zeigt: Bei der LINKEN ist noch Leben in der Bude.

Du hast den Haustürwahlkampf erwähnt. Was taugt das Instrument tatsächlich?

Meine Erfahrung ist: Es lohnt sich absolut, um als Partei sichtbar zu werden. Man kommt mit Menschen ins Gespräch, die uns vorher nicht kannten und von denen einige auch dauerhaft bleiben. Allerdings müssen wir den Haustürwahlkampf noch systematischer, noch strukturierter angehen. Uns nicht ziellos auf lange Gespräche einlassen, sondern klarhaben, wohin wir gehen und mit welchem Ziel. Wir müssen die Wahlkreise gut analysieren, die dort jeweils relevanten Themen identifizieren und die großen Fragen runterbrechen. Und wir müssen viel mehr Menschen einbinden, dabei mitzumachen, damit sich der Effekt vervielfacht.

Ist das an allen Orten möglich und realistisch?

Prinzipiell schon. Ich denke, man kann auch im ländlichen Raum Organizing machen, und das passiert auch zum Teil. Leute gehen dann eben an den Gartenzaun und nicht an die Tür. Häufig ist das Problem eher die Überwindung, solche neuen Dinge wirklich auszuprobieren, einfach anzufangen. Dafür braucht es nicht nur technische Skills und Leitfäden, sondern auch Motivation und Inspiration. Da könnte es helfen, wenn Multiplikator*innen vorbeikommen und vor Ort ihre Erfahrungen weitergeben, auf den jeweiligen Kontext, die Unsicherheiten und Fragen eingehen und Starthilfe leisten.

Das Gespräch führte Hannah Schurian.