Gestützt auf Raya Dunayevskaya (1982) darf die These vertreten werden, dass keine Revolutionärin, die zugleich Theoretikerin war, kein Theoretiker und Revolutionär außer Engels sich so umfassend und intensiv mit Marx befasst hat wie Rosa Luxemburg. Unentwegt hat sie in Marx’ Schriften und Notizen gesucht – um sein Denken, seine Methode, sein politisches Agieren und sein Leben zu verstehen und zu erklären, um Probleme zu erfassen und sich mit ihnen radikal auseinanderzusetzen. Luxemburg suchte auch Anregung, Trost und Ermutigung bei Marx. Sogar in ihren Liebesbriefen war Marx präsent:
»[W]enn Du Dich einmal erfrischen willst, so lies in dem Nachlass von Marx-Engels, Band III (1848-50), die Artikel in der ‚Neuen Rheinischen Zeitung‘. Manches, fast alles dort ist Unsinn oder Überholtes. Aber diese Frische, diese Urwüchsigkeit und vor allem diese Kühnheit des eigenen Urteils! […] es war mir ein geistiges Bad, wo ich die Fetzen des Kautsky‘schen Spinnwebs abgespült habe.« (1908, 190)
Luxemburg hat bei Marx Halt gefunden, den sie in den fortwährenden Kämpfen auch brauchte – nicht zuletzt in der eigenen Partei, wo ausgerechnet ihr vorgeworfen wurde, Marx nicht richtig verstanden zu haben, insbesondere als sie die Marx’schen Akkumulationsschemata kritisierte und die dominierende Parteipolitik in der Frage der Kriegskredite und des »Patriotismus« politisch angriff. Erregt und selbstbewusst schrieb sie Kautsky und Genossen:
»Indessen es kommt doch ein wenig darauf an, wie man Marx, Engels und Lassalle liest. Man hat erlauchte Beispiele, dass man dreißig oder vierzig Jahre über Marxens Werken brüten, jedes Komma darin auf die Goldwaage legen, aber in der Stunde der Entscheidung, wo es wie Marx zu handeln gilt, sich nur wie ein trillernder Wetterhahn um sich selbst drehen kann.« (1917, 1045)
In diesem Beitrag interessiert, wie Luxemburg Marx las und warum beispielsweise Georg Lukács (1923, 43) meinte, sie habe – mehr als andere – sozialistische Politik im Marx’schen Sinne weitergedacht, sie »seinem Geiste gemäß« entwickelt. Außerdem interessiert, was heute aus Luxemburgs Marx-Lektüre gelernt werden kann.
Luxemburgs Anliegen
Früh hatte die junge Rosa Luxemburg von Marx gelernt, dass in dem wechselseitigen Zusammenwirken der Menschen unter kapitalistischen Produktionsbedingungen und ihren Verhältnissen zur Natur gesetzmäßig die Möglichkeit entsteht, dass die unter fremdem Kommando Arbeitenden frei von Ausbeutung, Fremdbestimmung und Anarchie werden. Diese Möglichkeit erwächst, wenn die Kapitalisten für die Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion nicht mehr gebraucht werden, weil die Manager ihre Funktion übernehmen, und wenn die Lohnarbeitenden und Unterdrückten sie erkennen und zur demokratischen Machtergreifung fähig werden. Dafür wollte Luxemburg wirken. Dafür hat sie sich als Lehrende, Forschende und Politikerin engagiert.
Mit Marx hat sie aber auch die Tendenzen gesehen, dass diese Möglichkeit nie Realität werden könnte und stattdessen die Gewalt gegen die Menschen und die Natur weiter eskaliert. Es ist nicht selbstverständlich, dass die Lohnarbeitenden Klassensolidarität entwickeln, denn unter der Herrschaft des Kapitals stehen sie in Konkurrenz zueinander. Noch schwieriger ist es, Solidarität mit den Kolonialisierten zu leben, wenn man selbst von der internationalen Arbeitsteilung profitiert. Die Kapitalakkumulation bindet die Lohnarbeitenden immer komplexer an das Kapital. So schrieb Marx (1867, 765) beispielsweise:
»Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt. […] die beständige Erzeugung einer relativen ›Übervölkerung‹ hält das Gesetz der Zufuhr von und Nachfrage nach Arbeit […] in einem den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter.« Einer solchen Gesellschaft der Konkurrenz und Spaltung wohnt die Tendenz zur Selbstvernichtung inne, argumentierte Luxemburg und folgerte, »die Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Produktion [machen] durch ihre eigne eherne Logik […] den Untergang der Kapitalherrschaft und die Verwirklichung des Sozialismus unvermeidlich, wenn […] die ganze Kulturgesellschaft nicht ihrer Vernichtung entgegengehen soll« (Luxemburg 1913a, 181).
Mit Marx setzte sie auf die Anziehungskraft des Ideals einer Gesellschaft der Freien und Gleichen für die Unterdrückten und Fremdbestimmten, insbesondere für die Lohnabhängigen, auf ihren Willen zu Emanzipation und Solidarität, auf ihre Lern-, Organisations- und Handlungsfähigkeit und in diesem Kontext auf die sozialistische Arbeiterpartei.
Drei Etappen der Marx-Lektüre
Mit Marx in radikaler Kritik an Bernstein und Co.
Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich Luxemburg insbesondere mit den Schriften Eduard Bernsteins auseinander, der behauptet hatte, Marx’ Analyse der kapitalistischen Produktionsweise sei überholt. Der Weg zur sozialistischen Gesellschaft könne über Genossenschaften, Gewerkschaften und Demokratisierung ohne politische Revolution erfolgen, in deren Konsequenz die Eigentumsverhältnisse gesprengt werden. Luxemburgs Kritik richtete sich nicht gegen die Integration von Genossenschaften, Gewerkschaften und Demokratisierung in sozialistische Strategien, sondern gegen den Verzicht auf eine radikale Kritik und die Bekämpfung kapitalistischer Ausbeutung – also gegen den Verzicht auf die ständige Orientierung am sozialistischen Ziel. Ihre Argumentation beruhte wesentlich auf der Marx’schen Auseinandersetzung mit Widersprüchen einerseits und ihrer eigenen Kritik an verkürzten MarxInterpretationen andererseits: beispielsweise an der auch heute noch vertretenen Behauptung, Marx habe in seiner Akkumulationstheorie eine Verelendungsthese entwickelt und diese zum Ausgangspunkt für die Begründung des Klassenkampfes gemacht. Luxemburg (1899a, 404) erklärte, ökonomische Verelendung bei Marx sei »ein Symptom der kapitalistischen Entwicklung, wie sie sich […] auf Kosten eines Bruchteils der Arbeiterklasse äußert. Die Verelendung trifft nie das Proletariat im Ganzen, aber ihr verfällt immer ein größerer oder geringerer Teil des Proletariats«, was sie mithilfe von Statistik bewies.
Die erforderliche Klassensolidarität begründete sie jedoch insbesondere damit, dass viele von Verelendung betroffen seien. Sie befürwortete Kämpfe zur Verbesserung der sozialen Lage der Lohnabhängigen insgesamt. Beides verband sie stets mit der Perspektive einer möglichen sozialistischen Entwicklung. Mit Marx warnte sie davor, auf eine Zuspitzung gesellschaftlicher Widersprüche zu hoffen und auf den Umschlag zu warten. Immer wieder offenbarte sie, wie sehr es sie beeindruckte, dass und wie der junge Marx mit seinem Mitgefühl und Engagement für die Geknechteten zum einen und seiner Hegel-Kritik zum anderen zum radikalen Gesellschaftskritiker geworden war: »Er hat eine Deduktion des Sozialismus geschaffen«, den »Ariadnefaden« geliefert, um durch »das Labyrinth der alltäglichen Tatsachen der heutigen Gesellschaft den Weg« (Luxemburg 1901, 140f) zu finden, wie diese Gesellschaft überwunden werden kann. Sie lehnte genau wie er eine Politik ab, die Unterdrückte über Terror zu aktivieren versucht, und stellte beim Blick auf das Massenelend und die Repressionen im Russischen Zarenreich fest: »Um das Regime zu fällen, muss an seine Wurzel die Axt gelegt werden, die Wurzel des Absolutismus aber, das ist der politische Stumpfsinn der Volksmasse.« (Luxemburg 1902, 277) Das Zarentum könne nur durch eine »zielbewusste Volkserhebung gestürzt werden, die aber ihrerseits nur durch eine dauernde aufklärende und organisatorische Arbeit vorbereitet werden kann« (ebd.). Sie verwarf jede Politik, die diesen »Stumpfsinn« bedient oder ausnutzt, also Menschen manipuliert, kommandiert und instrumentalisieren will.
Kompromisslos gegen Marx-Verflachung und solidarisch im Kampf
Am Anfang des 20. Jahrhunderts machte Luxemburg (1903, 364) »einen Stillstand im Marxismus« aus. Angesichts von »Marx-Revision« durch Bernstein und Co. einerseits und der vielfach flachen Marx-Popularisierung andererseits fragte sie: »[H]aben wir ein Bedürfnis nach theoretischer Weiterführung der Lehre über Marx hinaus?« (Ebd.) Die unfertigen »Kapital«Bände 2 und 3 und vor allem die Marx’sche Forschungsmethode lägen brach. Dieser Stillstand aber könne überwunden werden, wenn die Arbeiterklasse »sich die geistigen Waffen zu ihrem Befreiungskampfe schafft« (ebd., 367). Zum 20. Todestag von Marx schrieb sie: »Die erste Bedingung einer erfolgreichen Kampfpolitik ist das Verständnis für die Bewegungen des Gegners«, und der »Schlüssel zum Verständnis der bürgerlichen Politik« sei die Analyse der »Klassenund Gruppeninteressen« (ebd., 372). Dafür gelte es, politische Ökonomie zu betreiben und den Marx’schen Ansatz so fortzuschreiben, dass deutlich wird, »wie die politische Kleinarbeit des Alltages zum ausführenden Werkzeug der großen Idee« werden kann – »sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist« (ebd., 373). Am bürgerlichen Parlamentarismus teilzuhaben könne folglich nicht im Zentrum sozialistischer Arbeiterpolitik stehen. Parlamentarische Arbeit sei nur dann der Bestandteil revolutionärer Realpolitik, wenn sie »über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in der sie arbeitet, hinausgeht« (ebd., 374).
Im ständigen Marx-Studium und in der Kritik der eigenen, teilweise noch mechanistischen Reflexionen sowie durch die Erfahrungen im politischen Alltag ist Luxemburg gereift. Um 1905 begrüßte sie die Kämpfe des russischen Proletariats für bürgerliche und soziale Freiheiten, insbesondere um sie »als Kampfmittel gegen die Bourgeoisie in die Hände […] zu bekommen« (Luxemburg 1906, 179). Sie würdigte die Massenstreiks und die hier bewiesene Klassensolidarität als Vorbereitung eines unvermeidlichen »Volksaufstandes gegen den Träger des absolutistischen Regimes« (ebd., 180). Angesichts der Vorgänge in Russland forderte sie, sich vorzubereiten auf Kämpfe, »in denen die Massen den Ausschlag geben«, sowie auf die Entwicklung einer revolutionären Macht, die »nicht allein abhängig ist von der Zahl der organisierten Sozialdemokraten« (ebd.).
Mit diesen Einsichten las Luxemburg auch Marx neu und stellte klar, dass es bei ihm kein Konzept einer Avantgarde-Partei gebe. Die Arbeiterpartei müsse sensibel sein für Stimmungen und Organisationsprozesse in der Masse, auf die sie reagieren sollte, um Solidarisierung und rationales Handeln zu befördern bzw. Entsolidarisierung, Irrationalität und destruktive Gewalt zu bekämpfen. Auch müsse sie stets fähig sein, die eigenen Organisationsformen zu kritisieren (Luxemburg 1903/04, 396). Schließlich sah Luxemburg in der Russischen Revolution 1905 eine Bestätigung von Marx’ Überlegung, Revolutionen seien Lernprozesse der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten. Gerne zitierte sie aus dem »18. Brumaire«:
»Proletarische Revolutionen […] kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend […], kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von vorne anzufangen, verhöhnen […] die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge […] bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: ›Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!‹.« (Marx 1852, 118)
Ihr Lieblingszitat richtete Luxemburg nun allerdings auch zunehmend gegen Karl Kautsky, der einst fundiert gegen den Revisionismus von Bernstein und Co. polemisiert hatte. Sein Marxismus sei der eines Gelehrten, der Marx’ Erbe zu einem abgeschlossenen theoretischen System führen wollte. Er bekämpfte eine MarxRezeption, die darauf zielte, neue politische und gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären, um die von Marx aufgezeigte historische Möglichkeit einer Gesellschaft der Freien und Gleichen zu verwirklichen. So wurde er zum Opportunisten und zu Luxemburgs Gegner.
Marx-Kritik und Politik im Marx‘schen Sinne
Mit ihrer »Akkumulation des Kapitals« wollte sie die ökonomischen Grundlagen des Imperialismus erklären: Gesetzmäßig würde ein Kapitalüberschuss produziert, der nur realisiert werden könne, wenn anderswo eine neue »ursprüngliche Akkumulation des Kapitals« stattfinde. Das bedeutete Kolonialpolitik, Eroberung und Krieg. Diese Tendenz wird allerdings von Marx’ Reproduktionsschemata im unfertig gebliebenen zweiten Band des »Kapital« nicht erfasst. »Prüft man das Schema der erweiterten Reproduktion gerade vom Standpunkte der Marx’schen Theorie, so muss man finden, dass es sich mit ihr in mehreren Hinsichten im Widerspruch befindet«, argumentiert Luxemburg (1913b, 285). Marx habe mit seiner Akkumulationstheorie die Tendenz zur Kapitalüberschussproduktion selbst begründet.
Ausgehend von seinen wissenschaftlichen Intentionen zur Erklärung der Kapitalzirkulation im zweiten Band hatte er jedoch ein im ersten Band des »Kapital« aufgeworfenes Problem nicht weiterbearbeitet. Das war legitim. Aber legitim war auch, diese Lücke zu schließen. Luxemburg wollte in ihrer Lehre der Politischen Ökonomie mit den Reproduktionsschemata die im ersten Band dargelegte Akkumulationstheorie vollständig untersetzen, was ohne eine Marx-Korrektur nicht möglich war.
Luxemburgs Marx-Kritik bedeutete keinesfalls, dass sie seine Leistung nicht ausreichend würdigte. Zu seinem 30. Todestag schrieb sie (1913a, 182): Mit
»der Lehre vom Klassenkampf hat Marx dem Proletariat einen untrüglichen Wegweiser für seine Tageskämpfe mitten durch die Wirrnis der Politik und durch den Mummenschanz der Parteien gegeben. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken. Mit diesen Worten verwies Marx die revolutionäre Arbeiterklasse auf die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen ihres Tuns, auf das geschichtlich Mögliche, an das ihr Streben jederzeit gebunden ist. Mit dieser Lehre hat er ihr auch die Orientierung über die wirklichen Interessen, Bestrebungen, Wege und Ziele ihrer Gegner, der bürgerlichen Klassen und Parteien, ermöglicht. Endziel wie Tageskampf des Proletariats, Programm wie Taktik des Sozialismus sind durch Marx zum ersten Mal auf die eherne Basis des Prinzips der wissenschaftlichen Erkenntnis gestellt, der Gesamtbewegung der internationalen Arbeiterklasse dadurch die Festigkeit, Wucht und Stetigkeit verliehen worden.«
Und in Würdigung Lassalles stellte sie den Marx-Satz um: »Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst!« (Ebd., 182f)
Obwohl mit ganzer Kraft gegen den Krieg argumentierend und mobilisierend, gelang es Luxemburg und den Linken in der SPD nicht, die Entwicklung aufzuhalten, die dazu führte, dass die Reichstagsfraktion der SPD im August 1914 den Kriegskrediten zustimmte. Dies war für sie »eine welthistorische Katastrophe: die Kapitulation der internationalen Sozialdemokratie« (Luxemburg 1916, 53). Und auch hier zitierte sie Marx: »[D]er Arbeiter tut, was normalerweise die Aufgabe des Kleinbürgers wäre, und die Aufgabe des Arbeiters, wer löst sie? Niemand.« (Ebd., 56) Die Arbeiter schossen auf Arbeiter, »eine brutalere Verhöhnung der Russischen Revolution und des Vermächtnisses von Marx lässt sich kaum denken« (ebd., 120). Luxemburg entschuldigte nicht »den verblendeten Arbeiter«, weil sie ihn ernst nahm. Aber ausgerechnet jene, die parlamentsfixierte Parteipolitik betrieben und die Kriegskredite bewilligt hatten, argumentierten nun als vorgebliche »Marx-Verteidiger« gegen die Kritik an den Marx’schen Reproduktionsschemata durch die Kriegsgegnerin Luxemburg. Diese resümierte kühl:
»Das Epigonentum, das im letzten Jahrzehnt die offizielle theoretische Führung innehatte, machte beim Ausbruch der Weltkrise Bankrott und lieferte die Führung an den Imperialismus glatt aus.« (Luxemburg 1915b, 523)
Luxemburgs Verhältnis zu Marx
Luxemburg war also ständig und »dreifach« bei Marx: nicht nur durch ihre wissenschaftliche Marx-Lektüre, wo sie unentwegt Fragen stellte und zu beantworten suchte: Wann hat Marx was warum gesagt? Inwiefern hat das die konkrethistorischen Probleme und Entwicklungen erklärt und wie verliefen diese warum mit welchen Folgen? Hat Marx sich selbst kritisiert – und wenn ja, warum? Wie hat er gearbeitet, sodass in ihm »der scharfe historische Analytiker und der kühne Revolutionär, der Mann des Gedankens und der Tat, unzertrennlich miteinander verbunden waren, einander unterstützten und ergänzten« (Luxemburg 1915a, 31)?
Aber Luxemburg war nicht nur oder vor allem Marx-Forscherin. Sie war auch in der politischen Bildung der Genossinnen und Genossen ständig bei Marx und hat eine weitere Frage gestellt und diskutiert: Was von seinen Arbeiten ist wie für die Theorie und praktische Politik verallgemeinerbar? Und erst recht war die Politikerin Luxemburg ständig bei Marx in ihrer Arbeit an der Strategie und Programmatik sozialistischer Politik wie im politischen Alltag. Hier war sie immer mit der Klärung befasst, was sofort, kurz-, mittel- und langfristig getan werden kann und muss, um unter den konkreten gesellschaftspolitischen Bedingungen wie Marx zu handeln – das Maximale zu tun, um der historischen Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft näherzukommen. Ausgehend von den zu ihrer Zeit aktuellen theoretischen und politischen Herausforderungen sozialistischer Politik hat sie sich die Herangehensweise von Marx kritisch angeeignet: Sie hat gezeigt, wie ein humanistisches Menschenbild, ein darauf basierendes Politikverständnis, kritisches Forschen, eine auf selbstbestimmtes Denken und solidarisches Handeln zielende politische Bildung, selbstkritische Reflexion und ein Neues ermöglichender Politikstil zusammengehen können.
Am 15. Januar 1919 brach mit dem Mord an Luxemburg und dem eingeleiteten Terror ihre Art und Weise, mit Marx Politik zu betreiben, ab. Die Tatsache, dass dieser »Ariadnefaden« noch immer nicht wieder aufgenommen ist, erklärt auch unsere politische Defensive. Nehmen wir also endlich diesen Faden kritisch und vor allem selbstkritisch wieder auf!