An einer Stelle ihres Werkes bemerkt die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak, dass es darum gehen müsse, Privilegien als einen Verlust zu betrachten. Dies dreht die Vorstellung um, dass es vor allem darum gehe, Privilegien abzugeben und/oder sich dieser zu schämen. Die Idee, Privilegien als Verlust zu betrachten, erkennt, dass diese, bleiben sie unreflektiert, das kritische Denken vernebeln und die Imaginationshorizonte einschränken. Wer etwa von der heteronormativen sozialen Ordnung profitiert und dabei nie ein Gefühl des Verlustes verspürt hat, verpasst die Mannigfaltigkeit sexuellen Begehrens. Privilegien versperren die Möglichkeit, andere Horizonte zu erspüren. Nicht von ungefähr beneidet die Mehrheit die Minderheiten, obschon diese beständig Zielscheibe von Diskriminierung und Gewalt sind. Wer Privilegien als Verlust reflektiert, wird marginalisierte Gruppen weder viktimisieren noch romantisieren – und gleichzeitig dazu in der Lage sein, die eigenen sozialen Vorteile geschichtlich einzuordnen. Bei Spivak steht dies im Zusammenhang mit einer politisch-pädagogischen Praxis, bei der es nicht nur darum geht, anderes Wissen zu akkumulieren, sondern auch darum, hegemoniale Wissensproduktionen zu hinterfragen.
Pädagogik ist weder neutral noch harmlos, sondern eine zentrale Macht- und Herrschaftstechnik, die etwa mittels der Regulierung von Bildungszugängen die gesellschaftliche Ordnung stabilisiert. So wirken schulische Praxen auf einige Schüler_innen ausgrenzend, weil sie diese entweder nicht verstehen, oder weil sie ihnen widerstehen müssen, wollen sie nicht von diesen permanent verletzt werden. Die Sprache, die verlangt wird, und die Disziplinierung der Körper schließen Schüler_innen aus, die nicht bereits vor dem Eintritt in die Schule »Hochdeutsch« sprechen und mindestens 30 Minuten ruhig und konzentriert sitzen können. So wird Schule vom ersten Tag an zur Tortur. Es geht dabei nicht nur um den »heimlichen Lehrplan« (Zinnecker 1975), also das Erlernen von Herrschaftswissen, sondern auch um die Erfahrung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Lernen ist darin, wie Nora Sternfeld schreibt, »Ergebnis hegemonialer Verhältnisse« (Sternfeld 2014, 10). Und eigentlich ist Lernen sogar mehr als das, nämlich ein wichtiges Instrument für die Aufrechterhaltung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen – und zugleich trotzdem eine praktische Aneignung sozialer Zusammenhänge.
Legen wir eine postkoloniale Perspektive an, so erweist sich das Konzept der epistemischen Gewalt als zentral, um Bildungsprozesse als wichtiges Element der Aneignung von Verhältnissen und der Hegemoniesicherung wahrzunehmen. Spivak hat dies einmal kraftvoll als mindfucking beschrieben. Denn epistemische Gewalt umfasst die gnadenlose Missachtung und Auslöschung subalternen Wissens. Und sie beschreibt zugleich die hegemoniale Wissensproduktion, die beispielsweise koloniale Herrschaft legitimierte und stabilisierte. Über Jahrhunderte hinweg wurden so eurozentrische Sichtweisen kanonisiert, die Europäer_innen eine zentrale Stellung im Wissensuniversum einräumen und die Reproduktion imperialistischer Subjekte sicherten. Boaventura de Sousa Santos (2014) fordert deshalb zu Recht die kognitive Gerechtigkeit. Diese verlangt nach der Berücksichtigung der Gewalt bei der Etablierung eines Wissenskanons und zielt auf die Wahrnehmung eines Wissens, welches jahrhundertelang disqualifiziert wurde. Kognitive Gerechtigkeit greift damit in hegemoniale Kanonisierungsprozesse ein und fokussiert die epistemische Marginalisierung, die die materielle, körperliche begleitet und legitimiert. Wenn das Wissen, über das ich verfüge, nicht als Wissen anerkannt ist, werde ich auch nicht als wissende Person erkannt, sondern als ignorant markiert. Damit bleibe ich ungehört. Während diejenigen, die das hegemoniale Wissen griffbereit haben, immer schon als klug und wissend gelten. Die Karten beim Bildungsspiel sind gewissermaßen gezinkt, und doch wird so getan, als hätten alle dieselben Chancen.
In diesem Zusammenhang muss Edward Saids Orientalismus (1978) Erwähnung finden. Diese erste koloniale Diskursanalyse stellt den bemerkenswerten Versuch dar, die Herstellung kolonialen Wissens zu veranschaulichen, welches einer optimierten Beherrschung der Kolonien diente und gleichzeitig das ›Andere‹ erschuf. Der Orient wurde in dieser Bewegung zum Antagonismus des Okzidents – das konstitutive Außen, welches bei der Herstellung des imperialistischen Subjekts eine notwendige Rolle spielte (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015). Mithilfe von Michel Foucaults Konzept des »Macht/Wissen« als einer dynamischen Herrschaftstechnologie skizziert Said, wie Macht von den Kolonialmächten eingesetzt wurde, um Wissen hervorzubringen, und wie Wissen instrumentalisiert wurde, um Macht und Herrschaft zu sichern. Innerhalb dieses Prozesses wurde nicht nur bestimmtes Wissen vernichtet und disqualifiziert, sondern der Westen vereinnahmte auch erhebliches Wissen und gab es als eigenes aus. Es ist eine andere Form von Raub – ein epistemischer Raub. Während die geraubten Kunstwerke, die in den Museen Europas präsentiert werden, noch identifizierbar sind, so ist das appropriierte Wissen der ›Anderen‹ nahezu unsichtbar – etwa so wie die menschenverachtende Arbeit, die in die Produktion unserer liebsten Gadgets geflossen ist, nicht mehr auf der Oberfläche zu erkennen ist. Wir benötigen die Analyse.
Dekolonisierung1 bedarf eines epistemischen Wandels, dessen Ziel unter anderem ist, denjenigen, die bisher systematisch von Bildung ferngehalten wurden, eine Bildung zu ermöglichen. Diese Bildung muss sie in die Lage versetzen, an Demokratie aktiv teilzunehmen – anders gesagt: sich selbst zu regieren. »Es ist wichtiger, einen kritischen Geist zu entwickeln, als unmittelbares materielles Wohlbefinden zu sichern.« (Spivak 2012a, 65) Das sagt Gayatri Chakravorty Spivak bewusst provokativ, um auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass Kritik auch Widerstand gegen falsche Kompromisse bedeutet.