TV-Comedian Jan Böhmermann (ZDF-Neo) gab im Sommer 2019 bekannt, in das Rennen um den SPD-Parteivorsitz einsteigen zu wollen: »Ich, Jan Böhmermann, möchte Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands werden. Liebe SPD, das ist kein Scherz.« Er präsentierte eine eigene Kampagne für seine Kandidatur unter dem Namen #neustart19, in deren Rahmen er in den folgenden Wochen sieben sozialdemokratische Ansprachen, sogenannte Montagsreden, als Videoclips veröffentlichte. Die Verunsicherung war perfekt: Will Jan Böhmermann wirklich Vorsitzender, also Politiker, werden? Oder ist die SPD nur noch gut für Scherze?

Im Unterschied zu Satirikern wie Martin Sonneborn (DIE PARTEI), Beppe Grillo (5-Sterne) und Wolodimir Selenski in der Ukraine gründete Böhmermann keine eigene Partei, sondern besetzte interventionistisch und »parasitär« den Wahlvorgang einer etablierten Volkspartei. Völlig unerwartet kaperte er die massenmediale Aufmerksamkeit und betrieb so ein performatives Adbusting. Adbusting bezeichnet das klandestine Verändern oder Überkleben von Werbung im öffentlichen Raum. Böhmermann macht Ähnliches: Er eignet sich den medialen Raum an, der für die SPD-Kandidat*innen vorgesehen war, und transformiert ihn. Damit stehen andere Fragen im Raum: Wer kann eigentlich Vorsitzender werden? Was macht einen Menschen zum Politiker? Leben wir in einer Zeit, in der Clowns Politiker werden und Politiker Clowns, wie es Böhmermann selbst formuliert? Und was sollte eine Sozialdemokratie auf der Höhe unserer Zeit leisten?

Letztlich blieb es für die SPD bei einer Signalstörung. Böhmermanns Kandidatur scheiterte in dem aufwendigen Auswahlprozess mit 23 Regionalkonferenzen an Formalien, die aufgrund der Kurzfristigkeit nicht mehr eingehalten werden konnten. #neustart19 lief trotzdem neben dem Wahlprozedere her. Die »Montagsreden« sollen aus der Feder eines SPD-Mitglieds stammen. Ob das stimmt oder nicht, ist nicht wichtig. Das Gelingen eines künstlerisch-satirischen Sprechaktes hängt nicht von Wahrheit, Unwahrheit oder persönlicher Intention des Künstlers ab, sondern davon, ob Rezipient*innen und Produzent*innen auf einen gemeinsamen Wissenshorizont zugreifen können. Ob die Reden wirklich von einer anonymen Sozial­demokratin geschrieben wurden und ob Jan Böhmermann wirklich den SPD-Vorsitz übernehmen wollte, ist irrelevant für die Beurteilung der ästhetischen Funktion und der Wirkung von #neustart19 als politischer Aktionskunst.

Verunsicherungstaktiken

Um zu begreifen, warum #neustart19 abseits des medialen Coups für Verwirrung gesorgt hat, lohnt es sich genauer anzuschauen, wer eigentlich wann sprach, und die verschiedenen Stimmen im Werk aufzudröseln: Auf der ersten Ebene haben wir es mit der Figur des Kandidaten für den SPD-Vorsitz zu tun, die von Böhmermann verkörpert wurde. Diese Figur war aber keine Rolle im herkömmlichen Sinne, da sie mit ihrem Autor identisch war und in einer satirisch-parodistischen Sprechweise dargestellt wurde. Auf einer zweiten Ebene war sie untrennbar mit der öffentlichen Person Jan Böhmermann, Moderator, Künstler und Satiriker, verbunden, der für seine Interventionen in politische wie auch in kulturindustrielle Prozesse Bekanntheit erlangte. Beispiele hierfür sind sein Schmähgedicht über den türkischen Präsidenten Erdoğan, der Clip über Varoufakis’ Stinkefinger oder das #Verafake zur RTL-Serie »Schwiegertochter gesucht«. Auf einer dritten Ebene wurde #neustart19 durch einen Beitrag in Böhmermanns Sendung »Neo Magazin Royale« flankiert, in dem Böhmermann selbst mit einer Pro-Contra-Argumentation eine kritische Einordung der Aktion vornahm. Ein solcher selbstreflexiver Kommentar ist für Satire oder Parodien untypisch.

Figur und Performer waren also auf allen drei Ebenen dieselbe Person. Jedoch sollte man nicht den Fehler machen, die Figur des Kandidierenden als mit ihrem Autor identisch zu denken und diesen mit seiner Kommentarfunktion als Moderator gleichzusetzen. Vielmehr ist die Unklarheit darüber, wer eigentlich genau spricht, Teil der Verunsicherungstaktiken, derer sich Satire bedient: Wer spricht wann? Wollte »der echte« Jan Böhmermann tatsächlich Vorsitzender, also Politiker, werden? Oder machte er die Politik als solche verächtlich? Oder ging es darum, Bildungsfernsehen mit sozialdemokratischen Inhalten zu machen, quasi »echte Sozialdemokratie« zu simulieren? Satire braucht aktive Zuschauer*innen, die angesichts dieser Irritationen ins Rätseln kommen, Verbindungen suchen, abwägen und den Status quo reflektieren.

Zitate über Zitate 

Satire setzt das Bestehende und das Wissen darum voraus. Sie reproduziert es, indem sie sich daran abarbeitet, es zitiert, umwandelt, karikiert, kritisiert. Auch die Ansprache-Videos von Böhmermann folgen diesem Muster, sie sind mit Verweisen und Zitaten der sozial­demokratischen Geschichte gespickt. Er greift diese auf und kodiert sie um. So erinnert die Ansprache »Deutscher Herbst 2019« an Helmut Schmidts Rede nach der Geiselnahme von Hanns Martin Schleyer. Nur geißelt Böhmermann nicht den Terrorismus, sondern spricht davon, dass die SPD »international denken und dabei Unbequemes ansprechen« müsse. In dem Video »Proklamation der überfälligen Entschuldigung vom Balkon des Reichstags durch Jan Böhmermann« werden in Schwarz-weiß-Optik, die auf Philipp Scheidemann anspielt, eine Reihe von Entschuldigungen verlesen: für Waffenexporte, Hartz IV oder die Ermordung Rosa Luxemburgs. Der Clip »Darf dieser Männerverein gemeinnützig bleiben?« greift die Forderung des Kandidaten Olaf Scholz auf, Männervereinen die Gemeinnützigkeit zu entziehen, und radikalisiert diese Forderung in Bezug auf die SPD selbst: »Die Abwertung junger Frauen ist eine Kultur, die sich strukturell vom Ortsverein bis in den Bundestag zieht.« Es gelte, einen »radikalen Wandel der Parteikultur« durchzusetzen.

Form und Inhalt der Videoclips beziehen sich aber nicht nur auf die SPD, sondern auch auf die sozioökonomische Situation und ihre politischen Herausforderungen, zu der die Partei Stellung beziehen müsse. In der Ansprache »Keine Kompromisse mehr«, die einer Trump-Wahlkampf-Rallye nachempfunden ist, macht Böhmermann die ganz große Perspektive auf. Er verknüpft Fluchtgeschehen mit Klimawandel und Produktionsweise und zieht daraus Schlüsse, die eigentlich die SPD ziehen müsste: »Für Deutschland bedeutet das eine grundsätzliche Umstrukturierung unserer alten Industrie.« Bis 2035 müsse Klimaneutralität erreicht, Kohle bis 2025 abgeschaltet, müssten Arbeiter*innen in Konversionsprogrammen weitergebildet werden – verbindende Klassenpolitik eben, die »bedingungslose Grundsicherung, bedingungslose Infrastruktur« zur Grundlage hat und einen »Strukturwandel, der den ­Interessen des Kapitals mit breiter Brust entgegentritt«, durchsetzt. Böhmermann eignet sich das überwältigende, ästhetisiert-erhabene Moment des populistischen Trump-Gestus an, bedient sich darin aber der Botschaft eines Bernie Sanders und transformiert es dadurch.

Von der ästhetisch sozialisierten Aggression...

Böhmermann spricht aber nicht vom Standpunkt eines Bernie Sanders und auch nicht von dem eines etablierten SPD-Politikers, der den Linksruck vollziehen will. Er spricht als Satiriker und TV-Moderator. Wenn er dann in dem flankierenden Beitrag im »Neo Magazin« (dritte Ebene) behauptet, dass doch alles eigentlich ganz einfach sei, man habe schlicht »das genaue Gegenteil von dem getan, was die SPD seit Jahrzehnten macht«, und damit mehr Klicks und Kommentare generiert als das Kandidatur-Video von Olaf Scholz, dann unterschlägt Böhmermann, dass er qua Position auf völlig andere kulturelle Kanäle zugreifen kann als eine politische Partei. Die SPD war zwar in ihrer Geschichte redlich bemüht, durch Arbeitergesangs- oder sozialdemokratische Turn- und Frauenvereine diesen vorpolitisch-kulturellen Bereich zu erobern, das gehört jedoch der Vergangenheit an. Aber auch jenseits dessen hilft es nicht, #neustart19 schlicht als die »bessere Sozialdemokratie« zu interpretieren. Dass Böhmermann einfach nur die SPD übernehmen müsse, damit alles gut wird, ist ein Trugschluss. Denn eine Kunstaktion unterliegt anderen Logiken als eine politische Kampagne.

In Böhmermanns Ansprachen wird vielmehr deutlich, was auch als »ästhetisch sozialisierte Aggression« (Jürgen Brummack) von Satire bezeichnet wird. Satirische Sprechweisen haben immer einen uneigentlichen, komischen, nicht ernst gemeinten Charakter, hinzu kommt auch ein aggressiver Grundgestus. Satire bedient sich der Provokation, macht durch Animalisierung oder Typisierung Personen des öffentlichen Lebens lächerlich. Satire greift an. Sie kanalisiert die Wut der Subalternen auf die Herrschenden und verleiht ihr einen ästhetischen Ausdruck, indem sie sich lustig macht, kritisiert oder denunziert. Satire darf das, wie Kurt Tucholsky anmerkte, sie ist eine künstlerisch-literarische Gattung und spricht somit konsequenzvermindert. Sie spricht im Modus des »als ob«, unter dem Schutzschild der Kunstfreiheit. Zwar befand und befindet sie sich darüber immer wieder im Rechtsstreit – Böhmermann selbst kann ein Schmähgedicht davon singen. Nichtsdestotrotz ist Satire »ästhetisch sozialisiert«, das heißt gezähmt, vermittelt, akzeptiert in einem bestimmten Rahmen. In diesem Rahmen ist Aggression gesellschaftlich erlaubt, weil durch die Gattung selbst gedeckt.

...zur Subversion

Genau diesen Rahmen stellte Böhmermann infrage, womit die Aktion eine subversive Dimension erhielt. Subversive Praxen unterlaufen die Grenzlinien zwischen den gesellschaftlichen Bereichen, also die ­Definition dessen, was als Kunst, Politik oder Wissenschaft gilt. Verlässt eine Kunstaktion die ihr zugestandene Kunstsphäre und dringt in Bereiche der Realpolitik vor, wird aus ihr eine subversive Grenzverletzung, was wiederum Unruhe stiftet. Genau darum geht es bei der Subversion: Das bekannte und berechenbare Funktionieren wird unterlaufen, indem die üblichen Verhaltenserwartungen nicht erfüllt werden. Das Arrangement wird gestört und kann eben durch diese Verfremdung besser erkannt werden. #neustart19 funktionierte nach diesen Regeln, war der Ereignishaftigkeit, der Unterhaltung und der Unvorhersehbarkeit verschrieben. Damit musste die Aktion die Vorgänge zur Bestimmung des SPD-Vorsitzes durcheinanderbringen, deren Logik auf das genaue Gegenteil, nämlich auf die Wiederherstellung von Stabilität, Wiedergewinnung des Vertrauens der Basis und Wiedererlangung von Routinen gerichtet war. #neustart19 subvertierte das realpolitische Prozedere.

Letztlich scheiterte Böhmermanns Kandidatur an diesen Strukturen. Es gelang ihm nicht, fünf Unterbezirke oder einen Landesverband zur Unterstützung seiner Kandidatur zu bewegen. Im Fernsehbeitrag proklamiert er, er habe lediglich Olaf Scholz verhindern wollen – und deutet die Aktion so nachträglich als erfolgreich. Im Anschluss will er sich für eine etwaige zukünftige Kandidatur disqualifizieren, indem er sich nackt auszieht, mit roter Farbe bespritzt und in ein Bühnenarrangement mit Sahra Wagenknecht, Oskar Lafontaine und Thilo Sarrazin stellt. Was muss man tun, um für eine seriöse politische Kandidatur nicht mehr infrage zu kommen? In Zeiten eines korrupten, sexistischen, rassistischen und möglicherweise unzurechnungsfähigen US-Präsidenten ist es schwierig, diese Frage abschließend zu beantworten. Fakt ist, dass Böhmermann sich wieder in die Grenzen seiner Wertsphäre (Max Weber) als »Spaßmacher« zurückzog. Die Ordnung schien wiederhergestellt.

Nachhaltigkeit?

Was bleibt von #neustart19? Böhmermann nutzte das damalige Momentum für seine Aktion, die parodistisch – parodia: daneben singen – neben dem Wahlprozedere der SPD herlief. Mit sozialdemokratischen Parolen erreichte und unterhielt er ein Publikum von Hunderttausenden. In dieser Hinsicht ist #neustart19 auch Funktionsträger politischer Bildung via kulturell-medialer Kanäle.

Fraglich bleibt, ob subversiv-satirische Aktionen dieser Art noch zeitgemäß sind. Die Produktions- und Herrschaftsverhältnisse sind selbst subversiv geworden. Der neoliberale Kapitalismus hat sich subversive (künstlerische) Praxen angeeignet und die Werbung nutzt sie längst für ihre Zwecke. Es stellt sich also die Frage nach deren Wirkmächtigkeit. Die lähmenden und korrumpierten Strukturen, die Böhmermanns Aktion bei der SPD anprangert, können nicht durch Satire, sondern nur durch einen langen Prozess der organisierten Mitglieder verändert werden. Einzelkämpfer*innen, die von außen nach dem Motto »Jesus war auch nicht in der Kirche« (so Böhmermann bei der Bekanntgabe seiner Kandidatur) die SPD verändern wollen, sind zum Scheitern verurteilt. Es bedarf organischer Intellektueller (Gramsci) innerhalb der SPD, um diese Erneuerung zu organisieren. Traditionelle Intellektuelle wie Künstler, Medienmacherinnen oder Autoren können bestenfalls helfen, wenn der Prozess in der Breite bereits angestoßen wurde. Auch Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans werden die SPD nicht im Alleingang »von oben« sozialdemokratisieren können. Ein Hegemoniewechsel, der einen neuen Kitt innerhalb der SPD schaffen könnte, kann nur durch einen langfristigen Kampf um die Basis und damit um die Köpfe der Vielen erreicht werden. Um es mit Böhmermanns Ansprache »Niemand braucht die SPD« zu sagen: »Wir sind ein Zusammenschluss der Niemande […] Es war die Hoffnung auf ein besseres Leben für die Niemande, die die Gründung unserer Partei bewirkt hat.« Die Niemande müssen sich also organisieren. Dazu kann das künstlerische Ereignis einen sinnlichen, identitätsstiftenden Beitrag leisten. Die Organisierung selbst ­dauert. Mit subversivem Satire-Sekundenkleber ist sie nicht zu machen.