Die ukrainische Wirtschaft befindet sich auf rasanter Talfahrt, verbunden mit dramatischen sozialen Folgen. So prognostiziert die Weltbank der Ukraine einen Wirtschaftsrückgang um 7,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr (Argumenty i Fakty, 29.4.2015), in dem das BIP bereits um 6,8 Prozent geschrumpft war.1 Unterdessen erklärte Wirtschaftsminister Abromavičius, dass „die für die Ukraine schwierigste ökonomische Periode schon vorbei“2 sei. Für die Bevölkerung ist die anhaltende Krise jedoch unmittelbar spürbar. Sie zeigt sich insbesondere in der wachsenden Schere zwischen Preis- und Lohnentwicklung: So sind die Reallöhne (die bereits 2014 deutlich gesunken waren) im ersten Quartal 2015 um durchschnittlich ein Fünftel geschrumpft, in der Luhansker Region gar um ein Drittel. Während der nominelle Durchschnittslohn, an den auch die Höhe der Renten gekoppelt ist, von Januar bis April um nicht einmal zwei Prozent erhöht wurde, sind allein im März die Preise für Konsumgüter um elf Prozent gestiegen.3 Besonders gravierend ist auch der Anstieg der Energiepreise: Die Gaspreise werden sich gegenüber dem Herbst 2014 verdoppeln, die Strompreise um etwa 50 Prozent steigen.4 Mitte April warnte die Internationale Energieagentur vor einer „beispiellosen“ Energiekrise, denn der Kohleindustrie geht es schlecht; und Russland will weg von den Gastransiten via Ukraine. Zugleich werden weitere Zumutungen verkündet: Das gerade erhöhte Renteneintrittsalter soll wohl weiter angehoben werden. Jene Rentnerinnen und Rentner, die noch etwas dazu verdienen, haben nun plötzlich 15 Prozent weniger Geld in der Tasche.
Ressourcenreichtum und Armut
Ökonomische Talfahrten sind nichts Neues für die Ukraine, wenngleich immer wieder von Neuem schmerzlich. So liegt die Wirtschaftsleistung des Landes mittlerweile statistisch betrachtet etwa um ein Drittel unter der Bilanz der ehemaligen Ukrainischen Sowjetrepublik zum Zeitpunkt der Auflösung der UdSSR. Der Anteil der Ukraine am globalen Bruttoinlandsprodukt hat sich inzwischen sogar halbiert. Dabei verfügt das Land über umfangreiche ökonomische Ressourcen, hieß es doch einst: „Die Ukraine ernährt die Sowjetunion“. Mehr als ein Viertel der sowjetischen Agrarproduktion stammte von den fruchtbaren ukrainischen Schwarzerde-Böden. Die diversifizierte Schwerindustrie der Region versorgte die gesamte UdSSR mit Rohren, Bohrausrüstungen und Industrierohstoffen sowie mit Flug- und Schiffstechnik. Dies war die Basis eines relativen Wohlstands in der Ukraine: Noch 1990 lag der Human Development Index5 über dem Russlands, Polens und Rumäniens. Heute, nach mehr als zwei Jahrzehnten des ökonomischen Strukturwandels, liegt er wesentlich darunter, wobei der Abstand zu den genannten Ländern weiter wächst. Offiziell leben 25,6 Prozent der Bevölkerung unter dem Existenzminimum. Akut von sozialer Ausgrenzung betroffen sind nahezu 40 Prozent der Haushalte, vor allem diejenigen mit Kindern oder nicht (mehr) Erwerbstätigen.
Eine Schlüsselstellung nehmen hierbei die – aktuell umkämpfen – östlichen Regionen des Landes ein. Hier liegen bekanntlich mit den metallverarbeitenden, kohle- und stahlgewinnenden Betrieben die Kernindustrien der Ukraine, die für die relativ hohe amtlich kommunizierte Beschäftigungsquote sorgen (Die offizielle Arbeitslosigkeit bewegte sich in den letzten Jahren meist um 9 Prozent, wobei die Jugendarbeitslosigkeit mit 17 Prozent deutlich höher liegt).6 Gerade das Donezker Gebiet, das bevölkerungsreichste der Ukraine, war schon häufig der Schauplatz sozialer Konflikte, mit einer organisierten und selbstbewussten Arbeiterschaft. Hier hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter schon zu späten Sowjetzeiten höhere soziale und demokratische Standards gefordert. Zwar sind die meisten Betriebe mittlerweile durch fehlende Investitionen veraltet und nicht nur nach westlichen Kriterien weitgehend unrentabel. Aber sie bilden immer noch das industrielle Rückgrat der Ukraine: Das Donbass erwirtschaftete im Jahr 2011 fast 17 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und 22 Prozent des Gesamtexports des Landes. Die Orientierung nach Russland ist hier ökonomisch begründet: Die energieintensive regionale Stahl-, Bergbau- und Chemieindustrie ist in starkem Maße von den russischen Energielieferungen und Aufträgen abhängig, ihre Produkte gingen oftmals in erster Linie nach Russland.
Erben zentralistischer Macht
Will man das heutige ökonomische wie politische Dilemma der Ukraine verstehen, so lohnt ein Blick in die Geschichte. Der sozialistische Versuch war vor allem aus drei miteinander verbundenen Gründen gescheitert: Zum einen zielte er nicht auf die demokratische Entwicklung hin zu einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, die solidarisch miteinander in intakter Natur leben. Zum anderen setzten die pyramidenförmigen politischen Machtstrukturen immer wieder gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, Hierarchien und informelle Verhältnisse. Zum dritten brachte er eine Wirtschaft voller Disproportionen hervor, die nicht fähig war, sich als Ganzes zu erneuern. Auf diese Weise konnten sich in den vorgeblich sozialistischen Gesellschaftsstrukturen Akteure herausbilden, die letztendlich die kapitalistische Produktionsweise wieder einführten und die Sowjetunion zerlegten. Sie saßen an den politischen und wirtschaftlichen Schalthebeln und wussten diese zu nutzen. Die Geschichte der heutigen Oligarchen und Oligarchien ist so auch ein Ergebnis der hochkonzentrierten und hochzentralisierten sowjetischen Wirtschaft. Netzwerke von Kapitaleliten bzw. Kapitaloligarchien hatte es bereits vor der Oktoberrevolution in den russischen Industriezentren gegeben, ähnlich wie in den USA, in Deutschland, England und Frankreich.
Dort wie in der UdSSR konnten die notwendigen Ressourcen für industrielle Großprojekte nur über stabile Kooperationen zwischen mächtigen Eliten in „Wirtschaft und Politik“ mobilisiert werden. Bei der Herauslösung der Ukraine aus dem sowjetischen Staatenbund spielten solche Eliten eine wichtige Rolle und konnten ihre Machstellung ausbauen – auch und gerade im Zuge des ökonomischen Niedergangs. Die offensichtlichen ökonomischen Probleme der Unabhängigkeit galten dabei als unvermeidlicher ›Kollateralschaden‹. Während sich eine Minderheit daran bereicherte, konnte sich die Mehrheit nicht dagegen wehren. Der Niedergang der Industrie und die drastisch zugenommene sozial und regional ungleiche Entwicklung prägten so die postsowjetische Zeit. Sie wurden wesentlich dadurch forciert, dass kurz nach Erlangung der Unabhängigkeit im August 1991 die erste ukrainische Regierung einen Großteil der Preise liberalisierte und eine breite Privatisierung einleitete . Die neoliberalen ›Reformprozesse‹ erfolgten jedoch wegen der Interessenkonstellationen schleppend. Zwar schaffte zum Beispiel die Regierung Juschtschenko Steuer- und Zollprivilegien ab, stärkte den ›Wettbewerb‹ und sagte öffentlich der Schattenwirtschaft den Kampf an – die versprochene umfassende ›Modernisierung‹ blieb jedoch aus. Die Regierenden mussten immer einen Konsens mit den untereinander rivalisierenden Oligarchen und ihren insbesondere regional gestützten Netzwerken suchen. Die Oligarchen wiederum buhlten um die Gunst von politischen Eliten, um ihren Machteinfluss zu festigen. Mit diesen Konstellationen wuchsen die soziale Ungleichheit und die Unzufriedenheit, besonders unter jenen in den Mittelschichten, denen der soziale Aufstieg verstellt blieb und die ihre Chance in der Hinwendung zur Europäischen Union sahen. Es expandierte auch die Wut der unter sozialen Problemen, Ungerechtigkeit und Repression Leidenden – eine Wut und Unzufriedenheit, die sich auch in den Ereignissen im Frühjahr 2014 entlud.
Ukraine im Fokus globaler Interessen
Die politischen Eruptionen haben das Feld für die global herrschenden Kapitaloligarchien eröffnet, denen es um die Um- bzw. Neuverteilung von Ressourcen, Märkten und Einflussgebieten geht. EU, USA und IWF hatten von der Ukraine seit Jahren ›Strukturanpassungen‹ erwartet – seit 1994 waren die Regierungen des Landes 12 Jahre auf den IWF angewiesen. Zugleich ist klar, dass auf Grund der Geographie und Demographie, der Geschichte, der gewachsenen Wirtschaftsbeziehungen und globalen Kräftekonstellationen das Verhältnis zu Russland mit seinen Kapitaloligarchien im Zentrum der verschiedenen Interessen steht. „Die Ukraine ist für die USA als Gegengewicht zu Russland interessant“, zitierte The Ukrainian Week Ende April den amerikanischen Historiker Alexander Motyl.7
Das Verhältnis zu Russland war und ist in der Ukraine jedoch immer umkämpft – insbesondere von russischen und ukrainischen Nationalisten wie von jenen, die diese Nationalisten unterstützen, tolerieren, instrumentalisieren oder ablehnen. So ist es nicht verwunderlich, dass ›nach dem Maidan‹ und der Bildung einer ukrainischen Übergangsregierung vom Winter 2014 IWF, USA und EU beschlossen, sehr gezielt ›Hilfen‹ und Finanzressourcen in die ukrainische Wirtschaft zu pumpen. Dazu gehörte ein Ende März 2014 vertraglich geregeltes IWF-Paket in Höhe von 14 bis 18 Milliarden US-Dollar.8 Ihm folgten nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU und Poroschenkos gewerkschaftsfeindlicher „Agenda 2020“ im März dieses Jahres nochmals Zusagen für 17,5 Mrd. US-Dollar Kredite vom IWF und seinen Partnern. Im April wurde vom IWF erklärt, dass das angestrebte Privatisierungs- und Reformtempo sowie die Notwendigkeit der Schaffung von ›Verteidigungsfähigkeit‹ gegenüber Russland Kredite von 40 Mrd. US-Dollar in den nächsten vier Jahren rechtfertigen. 9 Dringliche IWF-Kredite gab und gibt es jedoch immer nur gegen Konditionen: die weitere Verbilligung von Arbeitsleistungen, die Absenkung sozialer und demokratischer Standards, den erweiterten Zugriff auf die Ressourcen und Märkte durch Unternehmen der global Herrschenden, die weitere wirtschaftliche Liberalisierung und Privatisierung, die Verbesserung der Rahmenbedingungen für transnationale Konzerne und Finanzmarktakteure. Unentwegt ist von Haushaltskonsolidierung, Finanzdisziplin beim Schuldendienst, von Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsreformen neoliberaler Art die Rede. Dieser Diskurs existiert zwar seit dem Ende der Ukrainischen Sowjetrepublik. Allerdings zeigt sich nach dem widersprüchlichen Machtwechsel von 2014 eine neue Qualität: Im Juli 2014 hatte Premierminister Jazenjuk ein Gesetzesprojekt zur größten Privatisierung seit zwanzig Jahren verkündet.10 Es folgte eine lange Liste von geplanten Verkäufen von Aktienpaketen und Unternehmen. Auch das nationale Energieunternehmen Naftogas ist laut Jazenjuk zu einer „Last“ geworden und soll privatisiert werden.11 Zugleich werden gesetzwidrig erfolgte Privatisierungen, etwa bei Wohnungen, sowjetischem Gewerkschaftseigentum und verschiedenen Unternehmen, nachträglich im Interesse genehmer Eliten korrigiert.
Folgen des Assoziierungsabkommens
Das Assoziierungsabkommen bedeutet einen tiefgehenden Eingriff in das gesellschaftliche Wirtschaftsleben, den indirekten NATO-Beitritt und eine weitgehende Einbindung in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Das muss in Russland Sorgen und Erregung wachsen lassen. Als Handelspartner erscheint die Ukraine für Russland auf den ersten Blick nicht zentral – der ukrainische Anteil am russischen Außenhandel beträgt ›nur‹ vier bis fünf Prozent. Doch erfassen diese Zahlen nicht die geopolitische Bedeutung der Ukraine für russische Energie-Transitleistungen. Darüber hinaus geht es um den wirtschafts- und globalpolitisch relevanten Erfolg des Freihandelsprojekts mit den GUS-Staaten. Und nicht zuletzt kommen die fünf Prozent des russischen Gesamtimports aus der Ukraine wesentlich aus den Regionen Luhansk, Saporischschja, Dnipropetrowsk, Poltawa Donezk, Charkiw und Kiew – also aus der Nachbarschaft. Sie betreffen Lokomotiven und Waggons, Lieferketten in der Rüstungsindustrie und Stahl. Wenn die Erzeugnisse nach EU-Normen gefertigt werden bzw. aus „Sicherheitsgründen“ nicht geliefert werden, ist der Schaden dramatisch. Wirtschaftlich profitieren wird die Ukraine vom Freihandel mit der EU nur in der Landwirtschaft, in der Lebensmittel- und in der schwachen Textilindustrie.
Das Freihandelsabkommen schafft keine Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber erleichtert die legale Beschäftigung von hochqualifizierten ukrainischen Arbeitskräften in der EU. Es verbessert die Bedingungen für die Auseinandersetzung mit Diskriminierung am Arbeitsplatz, aber senkt soziale Rechte, die insbesondere mit Schwangerschaft, Mütterurlaub und Betreuung verbunden sind. Vor allem unterstützt es Entlassungen und die weitere Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen. Die Schließung von Unternehmen und ein Beschäftigungsabbau infolge steigenden Konkurrenzdrucks sind vorprogrammiert.12 Für linke Politik bleibt in diesen Konstellationen bislang kaum Spielraum. Immerhin gibt es Ansätze, wie die im Mai in Kiew gegründete "Partei der sozialen Revolution", die Hoffnung machen. Die Linken in Deutschland und in der EU sollten gemeinsam mit den Linken in der Ukraine und in Russland verbindende Perspektiven identifizieren, Handlungsmöglichkeiten ausloten und gesellschaftspolitische Alternativen und Strategien konzipieren. Die müssen Wirtschaftsdemokratie, Regionalentwicklung, eine solidarische solare Energiewende und Konversion zu besonderen Schwerpunkten haben. Die Diskussionen haben begonnen. Sie bewegen sich zwischen Forderungen an den Staat und den Fokus auf die Organisation solidarischer Ökonomie. Es gibt also noch viel zu tun.