Zum Glück gibt es Paul Mason. Nicht, weil mich seine Kapitalismus-Analyse herausragend überzeugt, aber in »Postkapitalismus« (2016) bringt er Neoliberalismus und DDR zusammen. Es ist nur eine Metapher, in dem Sinne, dass beide dem Untergang geweiht (gewesen) seien. Eine freundliche Erinnerung an die Historizität alles Gesellschaftlichen. Aber immerhin: ein Ansatzpunkt.

Denn natürlich ist es ein Graus, dass mal wieder die Rechten »Vollende die Wende« und ähnliche Slogans vereinnahmt haben. Vergessen wird so, dass die Kritik an einer nur »halben« Wende, die eine ökonomische und soziale Erneuerung weitgehend ausgespart hat, längst zuvor von links engagierten Ex-DDR-lern ausgesprochen worden war. Übel ist auch, dass es heute querdenkende Bürger*innen sind, die auf Demos den an und für sich ganz wunderbaren Satz sagen: »Wir haben als Ostdeutsche eine Diktatur erlebt, wir haben also ein Feingefühl dafür, in welche Richtung es heute laufen könnte, laufen wird.« (Stern TV 2022)

Ich meine, es ist nötig, das Narrativ einer drohenden »Rückkehr der DDR-Diktatur« aus der rechtslastigen oder direkt rechtsextremen Hegemonie herauszulösen, und zwar nicht nur wegen deren widerlichen xenophoben Nationalismen. Die antidemokratischen Erfahrungen von gestern und heute müssen auf eine Art und Weise verbunden werden, die nicht ihrerseits autoritärem Denken Vorschub leistet. Blickt man etwa auf die Äußerungen des Schriftstellers Uwe Tellkamp, so zeigt sich, dass seine Rede von der damaligen und heutigen Diktatur keineswegs zum Ziel hat, breite politische Handlungsfähigkeit oder gar ökonomische Umgestaltung des gesellschaftlichen Ganzen zu erreichen. Die Ausrichtung der DDR-Opposition auf demokratischen Sozialismus tut er ab, sie sei an der Realität und »am Volk« völlig vorbeigegangen (3Sat 2022, 18ff). Stattdessen proklamiert er noch im Nachhinein ein Ankommen, ein Sich-endlich-Einrichten in den materiellen und politischen Möglichkeiten der »freiheitlichen Ordnung« der BRD der 1990er-Jahre. Seine Vorstellung von Freiheit zielt auf gute private Lebensführung als das, wo »wir« angeblich schon immer hinwollten. Dieser individualistische Freiheitsbegriff korreliert nicht nur bei Tellkamp, sondern im rechten und Querfront-Lager insgesamt mit Anrufungen an den Staat als Ordnungsfaktor, der diese Freiheit absichern und im Zweifel gegen eine vermeintliche äußere Bedrohung (durch Migrant*innen, Feminist*innen etc.) abwehren soll (vgl. Bologna 2022). Die Beschwörung einer Wiederkehr des diktatorischen Damals gerät so zu einer autoritativen Manifestation des »kleinen Mannes«, der sein Dasein in der Welt der besseren Möglichkeiten fristen will. Angesichts zunehmender sozialer Unsicherheit klagt er »Ordnung« und seinen Platz in dieser ein – statt darüber hinauszugehen und mit (allen) anderen für strukturell erweiterte gesellschaftliche Handlungsfähigkeit zu streiten.

DDR und autoritärer Neoliberalismus

Wie kann nun die in den Biografien vieler Ostdeutscher lebendige autoritäre Verbindungslinie von »damals« und »heute« jenseits reaktionärer Ansätze diskutiert werden – und zwar ohne diese Erfahrung zu bestreiten und den Ossis mangelndes Bewusstsein für die vermeintlich hervorragend funktionierenden Institutionen der »westlichen Demokratie« zu bescheinigen?[1] Der ehemalige DDR-Oppositionelle Bernd Gehrke formuliert in einem Interview 2004 ganz nebenbei den so irritierenden wie erhellenden Satz: »In der DDR hatte diktatorische Herrschaft eben ein etwas anderes Aussehen als im westdeutschen Kapitalismus.« (Gehrke u. a. 2004) Wie also können wir uns den erlebten Autoritarismen annähern, ohne in fatale Sprechchöre von der »Merkel-Diktatur« einzustimmen, wie können wir eine Kritik an der Diktatur damals und an der marktkonformen Demokratie heute in einer Perspektive breiter demokratischer Selbstermächtigung formulieren?

Mein Vorschlag lautet, nicht nochmals auf die Positionierung »der«[2] Ostdeutschen als »Bürger*innen zweiter Klasse« abzuheben, so wichtig Erfahrungen massiver Lohnunterschiede und geringer Repräsentation in den gesamtdeutschen Institutionen sind. Dies ist aus guten Gründen vielfach analysiert worden, verbleibt aber in einer Perspektive, die Ostdeutschen als das »Besondere« gegenüber vermeintlich allgemeingültigen Standards anzusehen, inklusive der Forderung nach Angleichung an dieses Allgemeine. Demgegenüber ist es kein Zufall, wenn die junge Leipziger Initiative »Aufbruch Ost« das Thema Ostdeutschland mit einer Kritik des »Turbokapitalismus« und der autoritären europäischen Politik des Sozialstaatsabbaus und der Massenverarmung verbindet, durchgesetzt beispielsweise in Griechenland nach der Finanzkrise 2008 (Rubach 2020): Gegen die herrschende totalitarismustheoretische Gegenüberstellung von Diktatur und Demokratie muss die Art und Weise der sogenannten Wiedervereinigung und der (ost-)europäischen Transformationen als ein Bestandteil des Aufstiegs neoliberaler Vorherrschaft in Europa (und darüber hinaus) angesehen werden. Wir haben es also – auch im vormaligen Westen – mit einer dezidiert autoritären Entwicklungstendenz zu tun.

Der autoritäre Neoliberalismus ruft demokratische Entscheidungsprozesse zwar noch rhetorisch auf, stellt ihnen aber immer offensiver ökonomische »Sachzwänge« der Konkurrenzfähigkeit und Profitabilität gegenüber, die als nicht verhandelbar gelten. Bekanntermaßen stimmte eine Mehrheit der Griechen im Referendum 2015 mit Nein gegen das sogenannte europäische Rettungspaket und seine Maßnahmen zur Aushebelung sozialpolitischer Rechte – es wurde trotzdem umgesetzt. Während ich diese Zeilen schreibe, finden in Frankreich Massenproteste gegen die geplante Renten-»Reform« (mit Erhöhung des Renteneintrittsalters) statt. Obwohl Umfragen mehr als 70 Prozent Ablehnung in der Gesamtbevölkerung und 92 (!) Prozent unter (Lohn-)Arbeiter*innen zeigen, drückt Macron seine Pläne, die letztlich im europäischen wettbewerbsstaatlichen Kontext zu verorten sind, per Verfassungsdekret durch. Er beruft sich auf das Mantra einer nachhaltigen Finanzierbarkeit der Sozialsysteme, selbstredend ohne den schleichenden Ausstieg der Unternehmen aus dieser Finanzierung zu erwähnen oder die Besserverdienenden und Vermögenden in die Verantwortung für das beschworene Gemeinwohl zu nehmen. In vielen europäischen Ländern erlauben Notstandsgesetze die Umgehung des Parlaments, und für die lokale Ebene zeigt die Forschung eine global standardisierte, autoritäre Technokratisierung etwa von Stadtentwicklungs- oder Wohlfahrtspolitiken, die mitunter zwar noch die »Anhörung« der Betroffenen vorsieht, deren reale Mitsprache aber faktisch aushebelt (Vogelpohl 2018).

»Der autoritäre Neoliberalismus ruft demokratische Entscheidungsprozesse zwar rhetorisch auf, stellt ihnen aber immer offensiver ökonomische ›Sachzwänge‹ gegenüber.«

Kurz: Wenn wir vom Begriff eines (gesamtdeutsch und europäisch) verallgemeinerten autoritären Neoliberalismus ausgehen, dann stellt sich die Frage nach den biografischen Erfahrungen politischer Subalternisierung und Entmündigung und nach einem Ringen um Handlungsfähigkeit in derartigen Strukturen. Entsprechend lohnend wäre es, diese Reflexionen in ihrem sozial, räumlich und zeitlich ungleichen Charakter zusammenzuführen.

Verfall der Infrastruktur und soziale Reproduktion

Ich lebe und arbeite seit vielen Jahren »im Westen«, doch die DDR lässt einen natürlich nicht los. Und des Öfteren und schon länger gibt es dieses Gefühl: Das kennst du doch! Das ist doch wie – in der DDR! Ich nenne hier nur drei ganz unterschiedlich gelagerte Beispiele.

Das erste bezieht sich auf den Verfall sozialer Infrastruktur. Kaputte Straßen und unsichere Brücken, völlig verdreckte, späte oder ausfallende Züge, Zusammenbruch von Wasser- und Elektrizitätsversorgung (vor allem in Großbritannien), marode Schulgebäude, ein mangelhaftes medizinisches Versorgungssystem oder auch hohe Smog- bzw. Ozon-, Feinstaub- und Plastikpartikelbelastung. Wir kennen das. Natürlich ist die soziale Form heute eine andere, sie ist sozial massiv fragmentiert: Wer (viel) Geld hat, kann sich Privatversorgung kaufen und in die besseren Stadtteile ziehen. Demgegenüber war der sozialökologische Verfall in der DDR, trotz des Gefälles zur Hauptstadt, ein relativ allgemeiner. Ein weiterer, kaum zu überschätzender Unterschied ist selbstredend, dass wir uns heute einigermaßen informieren und in Protestbewegungen zusammenschließen können, ohne sofort im Gefängnis zu landen. Wobei es auch hier Abstufungen gibt, wenn wir etwa an die angedrohten langen Haftstrafen für Baumbesetzungen denken (von massenmedialer Hetze gegen »Klima-Terroristen« begleitet), von Abschiebeknästen für Migrant*innen zu schweigen.

Trotz der Unterschiede ist die Verbindung von damals und heute aus mindestens zwei Gründen wichtig: erstens, um daran zu erinnern, dass die »Wende« keineswegs für »die Banane« losgetreten worden ist, sondern sich vor allem gegen den dramatischen Verfall der Betriebe und Städte richtete. Die eigene Gesundheit war elementarer Bestandteil der illegal oder halblegal artikulierten Kritik daran. Doch die Forderung nach »Freiheit«, wie sie im Herbst 1989 von Tausenden Westkameras aufgezeichnet wurde, meinte keineswegs nur den eigenen Bauchnabel, sondern die Freiheit eines dringend notwendigen gesellschaftlichen Umbaus für ein anderes Zusammenleben und -arbeiten. Dass die mutig gewordenen DDR-Demonstrant*innen auch von Linken diskurspolitisch zu »Konsumdeppen« gemacht wurden, muss im Nachhinein als Beförderung des aufsteigenden gesamtdeutschen autoritären Neoliberalismus gelesen werden. Dessen Wesensmerkmal ist gerade die begriffliche und politische Überführung demokratisch eingreifenden Handelns in »freies« ökonomisches Markthandeln, die Überführung des (alltags-)politischen Gestaltungssubjekts in ein Marktsubjekt.

Die sozialökologischen, infrastrukturellen Nöte als zentralen Gegenstand und Auslöser der »Wende« zu erinnern, ist zweitens wichtig, um sich über den heutigen autoritären Charakter westlich-demokratischer Gesellschaften zu verständigen. Slogans wie »Lügenpresse« und »Corona-Diktatur« führen hier in die Irre. Nicht, weil die demokratische Öffentlichkeit heute ganz prima funktionieren würde, sondern weil das demokratische Moment, um das es ging und gehen sollte, sich nicht in der bloßen Manifestation von Meinung erschöpft. Die Freiheit, zu schreiben, was er denkt, die Tellkamp in Gefahr sieht, sie trifft sich aufs Wunderbarste mit der (neo-)liberalisierten Reduktion von demokratischen Rechten als pure (Ent-)Äußerung eines schon vorausgesetzten Ich- und Gruppen-Selbst: Auf der Straße, in Schriftstücken und Pamphleten, in öffentlichen Diskussionen solle doch die Meinung »jedes Einzelnen« frei kundgetan, Unwille und Kritik geäußert, unzensiert geschrieben und gedacht werden. Allerdings bleibt diese (Ent-)Äußerungsfreiheit private »Kundgabe«, wie Axel Honneth (2015) formuliert, wenn sie sich nicht als notwendig gemeinsame, kollektive Gestaltungsfreiheit der sozialen Strukturzusammenhänge realisiert. So verstandene gesellschaftliche Gestaltungsfreiheit bedeutet deshalb sofort, die Arbeits- und Lebenswirklichkeiten der »einfachen Leute« oder auch direkt Ausgegrenzten zum Gegenstand zu machen, das heißt der Vielen, für die in der sozial-elitären Hierarchie der kapitalistischen class-race-gender-order eine verändernd-eingreifende Sprecherposition nicht vorgesehen ist. Diese muss nicht nur als politisches Recht, sondern auch als materiale Möglichkeit erstritten werden. Mit einer derart umfassenden Selbstermächtigung, die aufs gesellschaftliche und damit auch ökonomische Ganze zielt, haben weder Neoliberale noch AfD und Co. etwas am Hut. Denn beide sind zutiefst autoritär verfasst. In beiden Ansätzen wird es immer Menschen geben, die »leider unten stehen« und nichts zu sagen haben, in beiden Ansätzen wird der herrschende ökonomische Sozialdarwinismus affirmiert (»multikulturell« hier, völkisch dort), in beiden wird der Kampf um einen Platz an der Sonne innerhalb vermeintlich unveränderbarer kapitalistischer (Re-)Produktionsverhältnisse und konkurrenzieller Ausscheidungskämpfe propagiert. Die bellenden Diktatur-Rufe auf rechten Demos und die empörten Zurechtweisungen lupenrein elitärer Demokraten sind die hohle Kehrseite einer Freiheit, die zur Attitüde verkommt, wenn ihr sozial reproduktiver Unterbau nicht grundlegend infrage gestellt wird.

Nonkonformistische (Selbst-)Verständigung

Das zweite Beispiel einer gefühlten Wiedererscheinung der DDR ist eine Betriebsversammlung an der Universität. Auf der Versammlung des Fachbereichs, inklusive technischem und administrativem Personal, hält der Chef, allen anderen vorgesetzt und weisungsbefugt, einen Powerpoint-Vortrag, der uns in schneidigem Sprech auffordert, unsere Pro-Kopf-Performance in puncto Forschungsgeldakquise sowie Lehre und Veröffentlichungen zu steigern; unsere bisherige Punktzahl liege nur im Mittelfeld. »Da ist mehr drin!«, tönt es von vorn. Wir sollten uns »zusammenreißen« und endlich mit aller Kraft unser Ranking verbessern: Indem wir mehr Studierende zulassen (mehr Anzahlpunkte), auch sehr schlechte Studierende durchlassen (mehr Prüfungsabschlusspunkte), für positives Lehr-Feedback sorgen (mehr Evaluationspunkte) und natürlich mehr Papers raushauen, selbstredend nur in high impact journals (mehr Veröffentlichungspunkte). »Wir schaffen das«, nimmt er den berühmten Merkel’schen Satz in Anspruch, um uns, im Wechsel von Drohung und Ansporn, auf den jährlich zu steigernden Output in den einzeln vermessenen Scores unserer Arbeitstätigkeiten einzuschwören (vgl. Münch 2011).

Das DDR-verwandte dieser Sitzung ist nicht nur die digital wiederkehrende Tonnenideologie, die Gratifikation von schier quantitativer Masse. Über die hatten sich in den 1990er-Jahren in Bezug auf die DDR viele sogenannte Transformationsforscher*innen gern lustig gemacht, von denen heute nicht wenige selbst an akademischer Tonnenproduktion beteiligt sind. Das DDR-verwandte dieser Sitzung war vor allem, dass niemand laut lachte. Es war wie beim Fahnenappell früher in der Schule, bei den wöchentlichen Politversammlungen, bei den großen Reden in engen Traditionskabinetten: Einige, die Nachdenklichen und eigentlich mal ernsthaft Engagierten, wussten schon aus Erfahrung, dass Kritik abprallen oder schließlich an ihnen selbst haften bleiben würde; die anderen waren sowieso von nichts anderem ausgegangen. Und also schwieg man und wartete einfach nur darauf, dass es endlich aufhörte. Dabei lag durchaus Spannung in der Luft. Wer einander besser kannte, grinste sich kurz an, andere starrten auf das zerkratzte Hörsaaltischchen vor sich. Denn klar war auch: einige Getreue würden, weil sie noch was werden wollten, in das autoritäre Eintrichtern mit einstimmen, vielleicht würden sie sogar ausgewählte Kolleg*innen öffentlich zu mehr Performance auffordern.

Was lernen wir daraus? Die bürokratisch-administrative Kommunikationsform autoritärer Macht ist damals wie heute in ihrer Entfernung von und in ihrer Überformung der alltäglichen Lebenspraxen gleichermaßen lächerlich wie bedrohlich. Entsprechend reicht das private, halb verdeckte Augenzwinkern untereinander nicht, um die dahinterliegenden Verhältnisse zu verändern. Dafür muss ein eigener Verständigungs- und Sprachraum geschaffen werden, der sich von den autoritären Zumutungen emanzipiert.

Gartenzwergidylle oder Gesellschaftsveränderung

Das dritte Beispiel zeigt, dass Schrebergarten und Entrechtung – damals wie heute – zusammengehören. Das derzeit gehypte Urban Gardening, der wohltuende eigene Gemüseanbau, die propagierte Wiederentdeckung der kleinen Alltagsfreuden sind die Kehrseite der um sich greifenden Erfahrung, das »große Ganze« kaum mehr gedanklich und noch weniger politisch-praktisch grundlegend umgestalten zu können. Sie spiegeln die wachsenden Ohnmachtserfahrungen, insbesondere mit Blick auf Arbeit und Sozioökonomie. Jenseits kleinerer Streit- und Streikerfolge gelingt es nicht, Neoliberalismus als Klassenprojekt, als massive, längst auch im globalen Norden völlig ungenierte Umverteilung von unten nach oben aufzuhalten.

Auch die DDR war nicht entweder eine privatgemütliche Rückzugsgesellschaft oder eine repressive Diktatur. In der konzeptionellen Perspektive von »Herrschaft als sozialer Praxis« ist es vielmehr auch tagtäglicher Bestandteil von Eigensinn, sich gegen Revolte und Widerstand zu entscheiden (Lindenberger 2014). Führten in der DDR vor allem die Erfahrungen blutiger Unterdrückung von (Arbeiter-)Protest 1953, 1956 und 1968 zu einer privatistischen Preisgabe seiner selbst als gesellschaftspolitisches Subjekt, so sind es heute die übermächtigen, scheinbar naturgewaltigen ökonomischen »Sachzwänge«, an denen alle Vorstellungen des so dringenden grundlegenden Umbaus immer wieder aufgerieben werden. Entsprechend kehrt das, was in Bezug auf die DDR als (angeblich!) »heile Welt der Diktatur« (Stefan Wolle) kritisch seziert wird, im autoritären Neoliberalismus in abgewandelter Form zurück, und zwar in Gestalt der scheinbar alternativlosen wie durchaus propagandistisch omnipräsenten Aufforderung, die eigene Resilienz innerhalb der gegebenen Verhältnisse zu stärken: sich nicht verrückt machen zu lassen von der leider unabänderlichen Unbill dieser Welt, von den kaum verhinderbaren Nöten und Krisen. Stattdessen gelte es, sich den schönen, kraftspendenden Dingen zuzuwenden, der Familie, Haus und Garten, vielleicht eine schöne Reise oder eine Therapie zu machen – um (und dies ist ein großer Unterschied zur DDR) sich dann umso besser Konkurrenz und Unsicherheit im Kampf um die eigene Lebenssicherung zu stellen (Graefe 2019). Beide Male bedingen das vermeintlich Unabänderliche der Gesellschaft und der privatistische Rückzug einander.

Es gibt aber noch eine weitere Erkenntnis, die wir gewinnen, wenn wir den Rückzug ins Private nicht – wie viele Linke – als Ausdruck vermeintlich »mangelnden Bewusstseins« begreifen, sondern ganz im Gegenteil als mit Blick aufs Gesamte durchaus vom Einzelnen gut begründbare »partikulare Handlungsorientierung« (Holzkamp 1979) verstehen. Dann sehen wir, dass die Ansprüche an ein universalistisch menschengerechtes, sinnvolles und auch ökologisches Zusammenleben und -arbeiten nicht einfach versiegen. Sie überdauerten in der DDR – sonst hätte es 1989 nicht gegeben – und sie werden auch heute keinesfalls einfach aufgegeben (Hürtgen 2020). Die Frage damals und heute ist, welche Rolle man glaubt, selbst und mit anderen einnehmen zu können, um Veränderung zu erstreiten.

[1] Gegen die Arroganz der bis heute reflexhaft beschworenen defizitären DDR-Mentalität schreibt Klaus Wolfram (2020, 3) überspitzt: »Kein Ostdeutscher verachtete je die Demokratie, weder vor 1989 und erst recht nicht danach – er erkennt sie nur genauer, er nimmt sie persönlicher. Sie bedeutet ihm handhabbare Lebensumstände.«

[2] Hier besteht natürlich ein »Wir-Problem« (vgl. Engler/ Hensel 2018, 85ff): »Die« Ostdeutschen existieren nicht en bloc, aber es gibt weitreichend geteilte Erfahrungen.

 

KORREKTUR: In der Printausgabe ist die Autorin an einer herausgehoben Stelle versehendlich sinnverfälschend wiedergegeben worden. Sie schreibt im Text auf S. 16, 2. Spalte: "Auch die DDR war nicht entweder eine privatgemütliche Rückzugsgesellschaft oder eine repressive Diktatur". In der Heraushebung S. 16, 1. Spalte steht dann aber fälschlicherweise: "Die DDR war weder eine privatgemütliche Rückzugsgesellschaft noch eine repressive Diktatur". Wir bitten um Entschuldigung. Diese Online-Fassung als auch die PDF-Fassung sind davon nicht betroffen.

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