"Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden.“
(Friedrich Engels: Zur Wohnungsfrage, 1872)
Die Worte von Friedrich Engels klingen merkwürdig aktuell. Als vor 150 Jahren Engels’ „Wohnungsfrage“ im Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei „Der Volksstaat“ erschien, rauchten in den Städten die Schlote. Die Stadt des 19. Jahrhunderts stand für Schmutz und Rauch und das Versprechen des Fortschritts. Im Laufe der Industrialisierung siedelten sich immer mehr Arbeiter*innen um die städtischen Fabriken an. Sie wohnten in von Fabrikbesitzern errichteten Mietwohnungen. Ein enormes Bevölkerungswachstum und der Zuzug in die kapitalistischen Zentren beförderten eine große Wohnungsnot. Enge und die hygienischen Verhältnisse machten das Leben in den häufig überbelegten Wohnungen unwürdig.
Engels reagiert polemisch auf die von der Bourgeoisie und kleinbürgerlichen Sozialisten angebotenen Lösungen:
„[N]icht die Lösung der Wohnungsfrage löst zugleich die soziale Frage, sondern erst durch die Lösung der sozialen Frage, d.h. der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, wird zugleich die Lösung der Wohnungsfrage möglich gemacht“.
In dieser Kritik an einem Reformismus, der bei einer bloßen Verbesserung der Wohnsituation stehen bleibt, klingt das Primat einer sozialen Revolution in der Produktionssphäre an.
Deshalb „tut sich ein großer Teil der traditionellen Linken schwer, was die Auseinandersetzung mit dem revolutionären Potential urbaner sozialer Bewegungen angeht“, so der marxistische Geograph David Harvey (2013, 16).
Die Wohnungsfrage stellt jedoch einen zentralen Kristallisationspunkt einer sich zunehmend organisierenden städtischen Bevölkerung dar. Änderungen im Mietrecht sind dringend nötig und nicht zu verachten. Wege aus der Wohnungsnot dürfen dort jedoch nicht stehen bleiben. Die Eigentumsfrage soll gestellt werden. Die Kritik an der Ideologie und Praxis der Eigentumsförderung ist weiterhin gültig. In seinen Aufsätzen zur Wohnungsfrage positioniert sich Engels entschieden gegen Ansätze, die Wohnungsnot dadurch überwinden zu wollen, dass Arbeiterinnen und Arbeiter zu Eigentümer*innen ihrer Wohnungen werden. Er argumentierte: Mieter*innen zu Eigentümer*innen zu machen, ist der Versuch, sie zu untertänigen Kleinbürger*innen zu machen. Eine Aktualisierung seiner Thesen ist lohnenswert und angebracht, bestimmt doch die Förderung von Wohneigentum auch heute die kleinbürgerliche Politik der Bundesregierung und von weiten Teilen der SPD. Eine Politik, die vorgibt Mieter*innen zu Eigentümer*innen machen zu wollen, funktioniert nicht und kann die soziale Frage nicht lösen.
Die Klassenfrage als Wohnungsfrage heute
Die Abschaffung der von der Arbeiterbewegung errungenen Wohnungsgemeinnützigkeit im Jahr 1990 stürzt immer größere Teile der Lohnabhängigen in existenzielle Nöte. Der organisierte Kampf gegen Mieterhöhungen oder für mehr sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbau ist ein Kampf um die Bedingungen sozialer und gesellschaftlicher Reproduktion. Insofern ist die Transformation des Wohnungssektors ein zunehmend wichtiges Feld des heutigen Klassenkampfes. Dass dies auch die Gegenseite so sieht, zeigen aktuell die zugespitzten Auseinandersetzungen um die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“[1] und um die Einführung eines Mietendeckels in Berlin.