In der Schweiz gilt die Pflege älterer Menschen als Privatangelegenheit. Familienangehörige übernehmen einen hohen Anteil informeller Pflege und Betreuung. Diese Gratispflege – geleistet vor allem durch Töchter, Schwiegertöchter und Partnerinnen – ist heute jedoch immer weniger eine Selbstverständlichkeit. Der Anteil der erwerbsarbeitenden Frauen ist in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen. 76,5 Prozent der Frauen zwischen 15 und 64 Jahren gehen in der Schweiz einer bezahlten Arbeit nach – das ist im europäischen Vergleich eine sehr hohe Quote. Die stärkere Vertretung der Frauen in der Erwerbssphäre geht jedoch nicht mit einer egalitären Verteilung der Haushalts- und Care-Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern einher, denn nur wenige Männer leisten unbezahlte Care-Arbeit. Viele Frauen geraten deshalb mit der Pflege von Angehörigen in einen zweiten Vereinbarkeitskonflikt. Die Folgen sind chronischer Stress, Verzicht und Überlastungen. Das informelle Pflegepotenzial in der Familie stößt immer mehr an Grenzen, was die Nachfrage nach Angeboten im privaten Betreuungs- und Haushaltssektor steigen lässt.

Demgegenüber steht ein wachsendes Bedürfnis, möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu leben. Dies gilt insbesondere für Demenzkranke: Nur 40 Prozent leben in Pflegeheimen. Die Zahl der älteren Menschen wird aufgrund des Alterns geburtenstarker Nachkriegsjahrgänge (Babyboomer) deutlich ansteigen. Weil mehr Menschen ein sehr hohes Alter erreichen, wird es mehr an Demenz Erkrankte geben. Dabei entsteht ein Wachstumsmarkt: Betrugen die Ausgaben für Alters- und Langzeitpflege im Jahr 2005 rund 6 Milliarden Euro pro Jahr (ohne Einberechnung des Werts der unbezahlten Arbeit), werden sie im Jahr 2030 nach Schätzungen des Gesundheitsobservatoriums 14,7 Milliarden Euro ausmachen (OBSAN 2008).

Ökonomisierung und Privatisierung des Pflegesektors

Gleichzeitig führen aktuelle Rationalisierungsund Privatisierungstrends im öffentlich (mit-) finanzierten Care-Sektor zu weiteren Versorgungsengpässen und -lücken. In Krankenhäusern werden durch das neu eingerichtete System der Fallkostenpauschalen Patienten früher entlassen (sogenannte blutige Entlassungen). Auch die ambulante Pflege ist einem rigiden Spardiktat unterworfen, ökonomische Effizienzkriterien gewinnen an Bedeutung. Ambulante Pflegerinnen berichten, wie sie ihre Arbeit inzwischen im Akkord zu verrichten haben. Mit einer mobilen Stechuhr ausgerüstet müssen sie alle zehn bis 15 Minuten die gerade erbrachte Pflegeleistung dokumentieren (Quasi-Taylorisierung). Für ein persönliches Gespräch bleibt wenig Zeit; Bedürfnisse der Pflegeabhängigen außerhalb des stark reglementierten Aufgabenkatalogs können kaum berücksichtigt werden. Denn die Krankenkassen übernehmen nur Pflegeleistungen (nursing). Die Kosten für haushaltsbezogene Dienstleistungen und Betreuungsdienste (social care) hat der Nutzer – sprich der Kunde – zum überwiegenden Teil aus der eigenen Tasche zu bezahlen.

Die Ausgaben für die Langzeitpflege sind zwar in der Schweiz im Vergleich der OECDStaaten relativ hoch – sie liegen hier etwa gleichauf mit denen von Dänemark, Finnland, Norwegen und Holland. Doch der Anteil der öffentlich finanzierten Langzeitpflege liegt mit weniger als 40 Prozent sehr deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von rund 85 Prozent (OECD 2011).

Sorgearbeit neoliberal: Ein neuer Niedriglohnsektor für Pendelmigrantinnen

In der Schweiz zeichnet sich ein Trend hin zu einer vermehrten Delegierung von Care-Arbeit an den Markt ab. Ähnlich wie in Deutschland (vgl. Karakayali 2010) ist so ein neuer Niedriglohnsektor im Privathaushalt entstanden, der stark ethnisiert und vergeschlechtlicht ist.

»Wir beginnen dort, wo die öffentlichen Angebote enden.« Die Angestellten der ambulanten Pflege hätten für das Zwischenmenschliche oft zu wenig Zeit – »und da springen wir ein«. So wirbt Home Instead Senior Care, eine US-amerikanische Franchise-Firma, die den Schweizer Care-Markt in den letzten Jahren aufgemischt hat.

Werden für stundenweise Einsätze in der Schweiz ansässige Betreuerinnen eingesetzt, sind es in der Rundum-Betreuung ausschließ- lich Pendelmigrantinnen, wie die Geschäftsleiterin einer Agentur darlegt: »Für 24 Stunden Betreuung findet man keine Schweizerin. Sie muss ja im Haushalt der pflegebedürftigen Person leben, also die müssen immer da sein. Und das macht keine Schweizerin. Und zudem verdienen sie ja nicht so wahnsinnig viel, eine Schweizerin würde dafür nicht arbeiten, das ist sicher.« 1

Gesucht werden Migrantinnen, die im Rhythmus von zwei Wochen bis drei Monaten zwischen Herkunftsland und Arbeitsplatz pendeln. Durch die erweiterte EU-Personenfreizügigkeit erschließt sich den Agenturen ein großes Reservoir an flexiblen Arbeitskräften. Seit dem 1. Mai 2011 erfordern Kurzaufenthalte bis zu 90 Tagen keine Bewilligung mehr; die Betreuerinnen müssen von den Agenturen lediglich beim Arbeitsamt gemeldet werden.

Die Migrantinnen, die in Schweizer Haushalten von Pflegebedürftigen arbeiten und leben, kommen hauptsächlich aus Osteuropa, insbesondere aus Polen, Ungarn, Litauen und der Slowakei, zunehmend aus Rumänien und Bulgarien, aber auch aus Deutschland. Als Bürgerinnen der EU-25 verfügen sie über einen aufenthaltsrechtlichen Status, sind aber nicht immer bei den Behörden als Arbeitskräfte angemeldet. Viele Frauen sind 45 Jahre oder älter und haben bereits jugendliche oder erwachsene Kinder. Wegen hoher Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen im Herkunftsland suchen sie in der Schweiz nach Arbeit, um ihre Familien zu ernähren, den eigenen Kindern eine Universitätsausbildung zu ermöglichen oder die zu erwartenden spärlichen Renten aufzubessern. Sie bringen in der Regel eine hohe Berufsqualifikation mit. Gefragt ist aber eine andere Fähigkeit, die den Frauen von Natur aus qua Geschlecht zugeschrieben wird: sogenannte Care-Arbeit zu leisten, also ältere bedürftige Menschen pflegen und betreuen, für sie kochen, putzen und waschen.

Pendelmigration – das bedeutet für die Care-Arbeiterinnen eine »Lebenspraxis der zwei Standbeine« (Hess 2005). Trotz Niedriglohn verdienen die Frauen oft ein Mehrfaches dessen, was sie in ihrem Herkunftsland erwirtschaften können. Das Pendeln ermöglicht ihnen, das Leben im eigenen Land fortzuführen, auch wenn sie dort nur schwer ein Auskommen finden. Sie migrieren nicht, um das Land zu verlassen, sondern um bleiben zu können (Morokvasic 1994). Der Arbeitseinsatz in der Schweiz wird als eine Übergangssituation gesehen. Der Familiennachzug steht meistens außer Diskussion – allein schon deswegen, weil der prekäre Lohn für ein Leben in der Schweiz nicht existenzsichernd ist.

Verschiebungen sozialer Ungleichheiten im transnationalen Raum

Die Arbeit in der 24-Stunden-Betreuung ist höchst prekär. Die Frauen verdienen mehrheitlich zwischen 820 und 2400 Euro (plus Kost und Logis), dies aber nur temporär, da sie während der Zeit im Herkunftsland kein Einkommen haben. Ein Monatslohn muss also im Normalfall für zwei Monate reichen.

Da es sich in den meisten Fällen um befristete Arbeitseinsätze handelt, ist die Kündigungsfrist kurz und Arbeitsplatzsicherheit gering – die betreute Person kann von einem Tag auf den anderen sterben, und die Beschäftigung entfällt. Lohnfortzahlung bei Krankheit ist nur ungenügend oder gar nicht gewährleistet.

Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit ist fließend und eine Abgrenzung schwierig, da die Betreuerin im Haushalt der Pflegebedürftigen lebt und dementsprechend während 24 Stunden abrufbereit ist. Häufig arbeiten die Care-Arbeiterinnen lange und sehr zerstückelt. Von vielen Agenturen wird als Freizeit gewertet, was eigentlich als Arbeitsleistung gilt, etwa der Spaziergang mit der rollstuhlgängigen Patientin. Für den Bereitschaftsdienst – das heißt die Standby-Stunden, in denen die Care-Arbeiterinnen im Haushalt anwesend sein müssen (z.B. in der Nacht) – wird in den meisten Fällen kein Entgelt bezahlt. Mehr noch als die niedrige Entlohnung beklagen die Care-Arbeiterinnen mangelnde Nachtruhe und die kurzen Erholungszeiten. Mit der fehlenden Freizeit und der permanenten Anwesenheitspflicht geht häufig ein Mangel an Privatsphäre und sozialen Kontakten außerhalb des Haushalts einher. Auch psychisch sind die Care-Arbeiterinnen häufig am Anschlag, insbesondere bei schweren Pflegefällen wie fortgeschrittener Demenz.

Inzwischen hat sich in der Schweiz die Bezeichnung Senio-Pair für die 24-Stunden-Betreuerinnen etabliert. Die Firma Hauspflegeservice, die Care-Arbeiterinnen vermittelt, beschreibt diese beschönigend als »eine Person, die Zeit hat für Spaziergänge, fürs Einkaufen, für den Erhalt der sozialen Beziehungen und für alles, was der Haushalt und die Menschen darin so brauchen. Sie wohnt bei Ihnen zuhause und soll ein ›Familienmitglied‹ sein, genauso wie es für ›Aupairs‹ in jungen Familien ist.« (www.hauspflegeservice.ch)

Im Gegensatz zum Schweizer Au-PairReglement, nach dem eine Au-Pair in einer Familie täglich höchstens fünf Stunden Kinderbetreuung und leichte Hausarbeiten verrichten darf, sind die Voraussetzungen bei Senio-Pairs aber ganz andere: Auf ihnen lastet die Hauptverantwortung für die Pflege und Betreuung einer Person rund um die Uhr.

Viele Betreuungsunternehmen werben mit diesem familiären Modell, das flexibler auf die individuellen Bedürfnisse eingehen könne als die unter Rationalisierung und Effizienzdruck stehende ambulante Pflege. So wirbt auch eine Vermittlungsagentur namens »Gute Wesen«, die in der Schweiz und in Deutschland 24-Stunden-Betreuung anbietet, mit traditionellen Familienwerten:

»Helferinnen aus Polen sind nicht nur günstiger, sondern können sich auch besser um Sie kümmern, weil sie mit Ihnen unter einem Dach wohnen. Es liegt in ihrer Natur, fürsorglich, warmherzig und liebevoll zu sein.«

Die Altenbetreuerin wird nicht primär als »Arbeiterin« (mit sozialen Rechten und einem gesellschaftlichen Status), sondern als »Haushaltshilfe«, als »gutes Wesen«, »Fee« oder als die »Perle der Familie« bezeichnet. Dabei bedienen sich die Betreuungsunternehmen ethnischer Stereotypen: Polinnen werden als besonders fürsorglich und warmherzig, als anspruchslos, willig und dankbar dargestellt.

Positiv erwähnen einige AgenturGeschäftsleiter, dass Polinnen häufig praktizierende Katholikinnen seien – ein Verweis, der wohl auf Nächstenliebe und Sittlichkeit hindeuten soll. Hellhäutige Europäerinnen, deren religiöse Bindungen im Christentum liegen, vermittelten zudem einen geringen Grad an Fremdheit. Dass die Frauen meist über 45 Jahre sind, sieht ein interviewter Geschäftsleiter als Vorteil, da »ältere Frauen sexuell nicht mehr so aktiv« seien. Im Unterschied zu Jüngeren hätten Ältere auch weniger das Bedürfnis, abends auszugehen – womit sie im Haushalt permanent verfügbar bleiben. Nach zwei oder drei Monaten Volleinsatz im Haushalt seien die Frauen dann auch »ausgepowert« und müssten sich in der eigenen Familie erholen.

Nicht nur die »Wiederherstellung« der Arbeitskraft, auch die Kosten der sozialen Sicherung werden in die Familien der Pflegerinnen und die Sozialsysteme ihrer Herkunftsländer ausgelagert. Den Migrantinnen werden keine Ausbildungen oder Erwerbsausfälle bezahlt, und im Alter müssen sie nicht in der Schweiz betreut werden. Es etabliert sich ein Modus transnationaler sozialer Reproduktion, der an das Gastarbeiter-Regime erinnert; Verwertung und Reproduktion der Arbeitskraft sind darin räumlich voneinander getrennt.

Care-Arrangements – eine Win-win-win-Lösung?

Die Anstellungsverhältnisse der Migrantinnen sind durch das weitgehende Fehlen gesetzlicher und gesamtarbeitsvertraglicher Regulierungen gekennzeichnet. »Eine stärkere Regulierung bringt für Angehörige und Pflegerinnen mehr administrativen Aufwand. Sie ist nicht nötig und treibt die Preise in die Höhe«, kommentiert der Tagesanzeiger (6. Juni 2012) die Forderungen gleichstellungspolitischer und gewerkschaftlicher Kreise, die 24-Stunden-Betreuung zu regulieren. Das Zitat steht für ein verbreitetes Argumentationsmuster in der Debatte. Care-Arrangements werden darin als Win-win-win-Lösungen dargestellt: Hausarbeiterinnen könnten dank der Beschäftigung in Privathaushalten den prekären Bedingungen in ihrem Herkunftsland entfliehen, finanzielle Autonomie erlangen und in ihrem Herkunftsland durch die Rücküberweisungen finanzielle Unterstützung leisten, gleichzeitig entlasteten sie in der Schweiz die Angehörigen von Pflegebedürftigen und ermöglichten den alten Menschen einen Lebensabend zuhause. Verbreitet wird davon ausgegangen, dass die Care-Krise durch Angebote auf dem freien Markt und die Rekrutierung von »bezahlbaren« Arbeitskräften in den Haushalt behoben werden könne.

Dabei wird ignoriert, dass diese Form der (neoliberalen) Krisenbearbeitung zu neuen Krisendynamiken und sozialen Ungleichheiten führt und traditionell als weiblich erachtete Tätigkeiten im Haushalt weiter abwertet. Care-Arbeit – schon immer prekäre Arbeit und meist unbezahlt geleistet – wird nun zwar entlohnt, aber äußerst schlecht.

Oft lassen die Pendel-Arbeiterinnen Angehörige zurück, für die wiederum gesorgt werden muss: Verwandte, Nachbarn oder Frauen, die aus noch ärmeren Verhältnissen oder Ländern stammen, übernehmen diese Aufgabe. Auf diese Weise kommt es zu globalen Abhängigkeiten, die Arlie Hochschild (2001; siehe auch in diesem Heft) als »globale Sorgeketten« bezeichnet. Sie entstehen analog zu globalen Produktionsketten und können ganze Erdteile umspannen. Die Metapher der Sorgeketten verdeutlicht ein koloniales Verhältnis, in welchem anstelle von Rohstoffen ein soziales Gut, nämlich emotionale Arbeit, von den Ländern des globalen Nordens angeeignet wird. Die Care-Krise in den westlichen Ländern wird um den Preis ihrer Auslagerung in die besagten Regionen entschärft.

1 Das empirische Material basiert auf einer Ethnographie im Rahmen meiner Dissertation. Ich habe dazu vielfältige Methoden angewendet, u.a. Interviews mit Care-Arbeiterinnen, mit Angehörigen von Pflegebedürftigen als auch mit GeschäftsleiterInnen von Agenturen geführt.

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