Politische Subjekte sind nicht gegeben, zumal in Zeiten organischer Krise. Ein Subjekt, das bewusst handelt und soziale Realität intentional gestaltet, auf der Grundlage der Verarbeitung von Erfahrungen, existiert nicht – weder als Individuum noch als Gruppe; zumindest nicht als beständiges Subjekt, das sich selbst bewusst und dauerhaft fähig ist, kritisch zu denken und danach zu handeln. Individuen und Gruppen wiederholen vorherige Erkenntnisse, die zu gewohnten Formen der Orientierung in der Welt geworden sind. Sie müssen in einer veränderten Welt Dinge verlernen, um Neues zu denken (ohne alles über Bord zu werfen, bevor eine neue Praxis erkennbar wird). Subjekte vergessen aber auch, was sie gelernt haben, weil sie mit zu vielen Informationen überlastet sind, oder weil sie bestimmte Dinge regelrecht verdrängen – beispielsweise wenn die Erinnerung sie zu Entscheidungen zwingt, die sie nicht anpacken können oder wollen. Bei kollektiven Subjekten passiert es oft, dass die unter ihnen herrschende Meinungen nicht mehr in die Lage versetzen, die Realität angemessen zu begreifen, abweichende Meinungen hingegen, sich noch keine Geltung verschaffen können. Oder es kommt vor, besonders bei politischen Subjekten, dass eine Vielzahl richtiger Erkenntnisse durch konkrete Entscheidungen für einen gewissen Zeitraum unbrauchbar geworden sind, und so keine gemeinsame Aktivierung zustande kommt.
Der eigentliche Gedanke, die Fähigkeit zur Selbstreflexion über die Voraussetzungen und die Folgen der eigenen Vorstellungen, ist ein seltenes Ereignis, das im Allgemeinen zu riskanten Situationen führt. Es zwingt das Subjekt, das Wissen um sich und die Welt neu zu definieren. Aber selbst wenn es zu einer solchen Reflexion des eigenen Denkens kommt, ist nicht gesagt, dass auf den Gedanken eine kohärente, wirksame Handlung folgt. Was Marcel Proust bezüglich des „Herzens“ geahnt hatte, gilt also auch für den „Geist“: Das Subjekt ist unstet, unbeständig: Die von den Gewohnheiten (für die Individuen) oder den Institutionen (für die Gruppen) gesicherte Kontinuität ist keine Folge einer rationalen Subjektivität, sondern habitualisierte Praxis. Wenn noch hinzukommt, dass auch die Welt ihre Realität und ihre Wahrheit unbeständig und unstet präsentiert (und dies gilt insbesondere für die Welt des Kapitalismus, dessen harte Wahrheiten normalerweise fetischisiert und verschoben werden), begreift man, dass das politische Subjekt ein seltenes Ereignis ist, weil es abhängt vom Zusammentreffen einer Subjektivität, die bereit zu denken ist, und einer Objektivität, die bereit ist, sich zu zeigen: Das Zusammentreffen der Krise des Kapitalismus mit gesellschaftlichen oder politischen Gruppen, die gezwungen sind, ihre Gewohnheiten infrage zu stellen. Seine unmittelbare und angebliche Subjektivität zu „äußern“, ist ziemlich leicht (es genügt ein Selfie); Subjekt zu werden, ist hingegen schwierig, es ist eine stets unabgeschlossene Errungenschaft.
Das Subjekt als Ergebnis
Gerade deshalb ist das revolutionäre Subjekt keine Voraussetzung, sondern das Ergebnis der politischen Aktion. Es entsteht aus einer Praxis, die die gesellschaftlich Handelnden zwingt, sich mit ihren Gegnern auseinanderzusetzen und schließlich die Realität klarer zu begreifen. Und es muss ständig durch eine politische Aktion erneuert und erhalten werden. Eine Politik, die die Subjekte an Orte drängt, die in einem bestimmten Moment nicht den entscheidenden Konfliktpunkt darstellen, kann diese Subjekte zu Sklaven der Gewohnheit des Parlamentarismus, oder im Gegenteil, eines zwecklosen gesellschaftlichen Aufruhrs machen. Die politische Strategie und vor allem die politische Taktik (die mehr als die Strategie die konkrete Position des Subjekts bestimmt) sind also nicht nur ein Instrument des Subjekts, sondern eine Form seiner Konstitution. Unsere gegenwärtige Aufgabe kann nicht nur oder vor allem darin bestehen, die existierenden Subjekte zu inventarisieren und ein gemeinsames Vokabular zu verfassen. Sie kann allerdings auch nicht einfach auf eine gesellschaftliche und kulturelle Selbstdefinition eines Subjekts warten und deshalb bestimmte Politiken vertagen. Unsere Aufgabe besteht darin, sofort eine politische Linie zu schaffen und die Reaktionen der Gesellschaft auf unsere Vorschläge zu analysieren.
Ein Problem von Marx
Wir haben noch keine zufriedenstellende Theorie des revolutionären Subjekts. Wobei wenn das politische Subjekt sich durch Strategie und Taktik als Teil von realer Praxis stets neu konstituieren muss, wenn diese Praxis sich mit den ständig verändernden Bedingungen kapitalistischer Gesellschaften fortwährend ändert, kann es auch keine abgeschlossene Theorie geben. Marx und Engels haben uns zwar eine Vielzahl historisch-politischer Einschätzungen und praktischer Hinweise zu den Organisationen und Zielen der Kämpfe des Proletariats hinterlassen, doch auf abstrakterer theoretischer Ebene, nämlich im Kapital, haben wir keine Theorie des Subjekts, sondern eine Theorie der Unmöglichkeit des Subjekts. Vielleicht haben sie uns auch eine Theorie der unwahrscheinlichen Möglichkeit des Subjekts hinterlassen.
Im Kapital erklärt uns Marx, warum es für die Arbeiterklasse höchst kompliziert ist, ein volles Bewusstsein von sich zu haben, unter anderem weil sie im Lohnfetischismus feststeckt, welcher die tatsächlichen Machtverhältnisse verschleiert und den politischen Kampf durch den ökonomischen Kampf ersetzt,[1] und weil sie materiell vom Kapitalisten abhängig ist: Eine ökonomische Krise des Kapitalismus ist auch eine Krise der Arbeiterklasse, und deshalb ist die erste Antwort der Arbeiter*innen auf die Krise die Forderung nach „mehr Investitionen“, das heißt nach „mehr Kapital“. Es stimmt, dass Marx auf die zunehmende Konzentration und das wachsende Bewusstsein der Arbeiterklasse hinweist, aber es handelt sich eher um eine Beschreibung als um die Entwicklung eines Konzepts. Das heißt nicht, dass ein bewusster Klassenkampf nicht möglich ist. Es heißt aber, wie die deutschen Kommunisten zwischen 1918 und 1923 und später erleben mussten (vgl. Broué 1973), dass die normale und unmittelbare Haltung der Mehrheit der Arbeiterklasse auch in ihren fortgeschrittensten Teilen Trade-Unionismus, Reformismus, Passivität oder Unterstützung der Reaktion ist. Deshalb kann eine „Klassenpolitik“, wenn sie keine offen sozialistische Politik ist, sehr unterschiedliche und oft zweideutige Charakteristiken haben. Lenin spricht deshalb auch von bürgerlicher Arbeiterpolitik. Deshalb genügt es uns heute nicht, die Perspektive des Klassenkampfs aufzuzeigen, um Zustimmung in den proletarischen Schichten zu bekommen, die zwischen Apathie und der Rechten schwanken. Wenn man ‚einfach als Klasse’ agiert, kann man Sowjets bilden, aber es ist wahrscheinlicher, dass man sich auf reformistischen Kampf beschränkt, dass man versucht, mit dem Unternehmer zu koexistieren, oder dass man sich gegen Einwanderer zusammenschließt, um der Konkurrenz zu begegnen. Es bedarf also einer sozialistischen Perspektive, die sich jedoch auf etwas unmittelbar Konkretes und Wahrnehmbares beziehen muss. Die Macht der Rechten besteht darin, dass sie längst nicht nur ökonomische Antworten, sondern auch ideelle und emotionale Antworten bietet, die auf greifbare Realitäten bezogen sind („Verteidigung des Territoriums“ usw.). Es sind falsche Antworten, die aber stärker verfangen, als die sozialistische Bewegung oder das abstrakte Predigen des Sozialismus. Genau deshalb schlägt ein (minoritärer) Teil der italienischen Linken die Verteidigung der antifaschistischen und „sozialistischen“ Verfassung von 1948 (die von vielen Italiener*innen, links wie rechts, als gemeinsame Errungenschaft und Faktor des gesellschaftlichen Fortschritts betrachtet wird) und die Verteidigung der demokratischen nationalen Souveränität vor, die notwendig ist, um diese Verfassung als konkrete Perspektive eines Volkskampfes zu aktivieren.