Notwendige Vorsorgeuntersuchungen und freiwillige Zusatzleistungen eingeschlossen, gibt jeder Erwachsene zusätzlich zur Krankenversicherung durchschnittlich weitere 900 Euro pro Jahr aus. Bald wird ein Viertel der Einkommen für Gesundheit aufgewendet werden.
Gesundheit hält längst die gesamte Gesellschaft auf Trab. Jogging für gestresste Berufstätige, Nordic Walking als Freizeitgestaltung, ganze Städte im Marathonfieber, Ernährungsberatung im Supermarkt: zu Recht macht das Wort von der »Gesundheitsgesellschaft« die Runde. Selbst die Endlichkeit des menschlichen Lebens steht offenbar zur Disposition. Glaubt man so manchem Befürworter von Gen-Therapie und den Händlern der immer größer werdenden Palette von Anti-Aging-Produkten, so steht das Märchen von der ewigen Gesundheit unmittelbar vor seiner Verwirklichung.
Allerdings ist bei allem Streben nach Gesundheit eine eigentümliche Paradoxie un- übersehbar: so sehr Krankheit heute verpönt und das Sterben tabuisiert ist, so wenig ist ein Zustand vollständiger Gesundheit erreichbar. Wer von sich behauptet, gesund zu sein, muss sich von einschlägigen Leistungsanbietern vorhalten lassen, nur nicht zu Ende untersucht worden zu sein. Unablässig entdeckt die Gesundheitswirtschaft, allen voran die Pharma-Industrie, immer neue Krankheiten, darunter die ominöse female sexual dysfunction (FSD), aber auch bloß Fältchen, Dickleibigkeit, Haarausfall, das Älterwerden als solches, selbst Risikofaktoren, wie das Rauchen oder Bewegungsarmut, gelten heute als Krankheiten. Zug um Zug schreitet die Pathologisierung der Lebenswelten voran und mit ihr weitet sich die Profitzone Gesundheit aus.
DIE ZWEISCHNEIDIGKEIT DES GESUNDHEITSDISKURSES
In der Idee von Gesundheit spiegeln sich Leitbilder, die sowohl die Gestaltung der gesellschaftlichen Realität als auch Vorstellungen von einem perfekten Zustand menschlichen Lebens umfassen. Exemplarisch kommt das in der viel beachteten Gesundheitsdefinition der WHO zum Ausdruck, die Gesundheit als den »Zustand eines vollständigen physischen, seelischen und sozialen Wohlbefindens« begreift. Zu Recht ist dieser Begriff kritisiert worden: auch körperliche Gebrechen, geistige Behinderungen, das Älterwerden und am Ende selbst der Tod zählen zu den Umständen und dem Zyklus des Lebens.
Ein Verständnis von Gesundheit als »vollständiges Wohlbefinden« ist zweischneidig. Es kann einschränkende Normierung begründen und zugleich als Aufruf zur Veränderung verstanden werden. Aus der Perspektive derer, denen der Zugang zu Gesundheit vorent halten wird, ist das Bemühen um Veränderung klar: sie drängen darauf, Gesundheit in einem umfassenden Sinne herzustellen. Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit – und mit eben dem Anspruch auf Verbesserung des Lebens insgesamt kämpfen zivilgesellschaftliche Gesundheitsinitiativen in aller Welt, lokale Projekte, soziale Bewegungen, politische Parteien und die internationalen Netzwerke engagierter Gesundheitsarbeiter um Veränderung. Sie verlangen soziale Verhältnisse, in denen das Recht auf Gesundheit verwirklicht ist. Aus dieser Sicht ist Gesundheit auf engste verknüpft mit emanzipatorischen Zielen.
Auf der anderen Seite steht ein Gesundheitsbegriff, in dem vor allem staatliche und wirtschaftliche Interessen zum Ausdruck kommen. Gesundheit meint dann Wehr- und Arbeitsfähigkeit oder eine fortbestehende Bereitschaft zum Konsum von Waren, zu denen nicht zuletzt das immer größer werdende Angebot von Gesundheitsleistungen selbst zählt. Aus dieser Perspektive entpuppt sich die Idee »vollständiger« Gesundheit nicht als Teil von Emanzipation, sondern als deren Gegenteil: Abhängigkeit und Kontrolle. Dann sind es nicht mehr freie Entscheidungen, die menschliches Verhalten leiten, sondern herrschende gesellschaftliche Normen, Moralvorstellungen und Profitinteressen. Unter solchen Umständen verwandelt sich das Recht auf Gesundheit in einen Zwang zur Gesundheit. Man muss gesund bleiben, um hochflexibel dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen.
Bei der Rede von Gesundheit geht es sowohl um Kontrolle als auch um Befreiung. Diese Ambivalenz durchdringt längst auch andere Sphären des menschlichen Lebens: Gutes Essen ist kein privater Genuss mehr, sondern wird zur öffentlich verhandelten Aufnahme von bis in Milligrammbereiche analysierten Nahrungsmittelbestandteilen. Die Existenz von Aufzügen und Rolltreppen, in frühsozialistischen Gesellschaftsentwürfen noch Beleg für die Befreiung von Mühen, wird zum Symptom pathologischer Bewegungsarmut. Und Sexualität meint nicht mehr allein Erotik und Befriedigung, sondern einen Ort der Übertragung lebensbedrohender Erkrankungen.
Es ist unstrittig, dass Gesundheit im Alltag entsteht, und doch birgt gerade die Allgegenwart gesundheitlicher Aufklärung das Risiko, dass diese in neues Unheil umschlägt. Dabei ist die Gefahr, dass »Gesundheit« Teil der Zurichtung und Beherrschung von Menschen wird, dort besonders groß, wo zugleich ökonomische Interessen im Spiel sind.
VON DER GESUNDHEITSGESELLSCHAFT ZUR GESUNDHEITSDIKTATUR
Rauchen, Bewegungsarmut, Dickleibigkeit – all das kann heute mit Ächtung am Arbeitsplatz, schlechterer Gesundheitsversorgung und schließlich auch höheren Versicherungsprämien bestraft werden. Gerade in modernen Gesellschaften wird »Gesundheit« zunehmend repressiv »von außen« verordnet. Das Ziel ist nicht Autonomie, sondern die Verwandlung der Menschen in Werkzeuge, die vor allem eines gewährleisten: einen störungsfreien und deshalb gut zu kalkulierenden Produktionsprozess. Unter solchen Umständen ist der menschliche Körper nicht mehr Teil einer schützenswerten Privatsphäre, sondern Gegenstand biopolitischer Kontrolle – und schließlich der Verwertung selbst. Vorgeburtliche Diagnostik, Transplantationsmedizin, Gen-Therapie: mit großem Tempo sind zuletzt medizinische Methoden entwickelt worden, die Kontrolle nicht mehr nur über Verhaltensbeeinflussung zulassen, sondern über Eingriffe in das menschliche Substrat selbst. Dabei wird der Körper selbst zu dem Ort, an dem sich Norm und – im Falle des Verstoßes – Ausgrenzung exerzieren lassen. Menschen, die als Rentner für den Produktionsprozess uninteressant geworden sind, könnten schon bald tatsächlich keine Hüftprothesen mehr erhalten.
Wo die Rendite über den Menschen gestellt wird, ist der Weg von der Gesundheitsgesellschaft in eine Gesundheitsdiktatur nicht mehr weit. Schon heute sind Tendenzen moderner Eugenik auszumachen, die »Volksgesundheit« über einen Mix aus politischem Zwang, sozialer Kontrolle, der Verinnerlichung ultimativer Gesundheitsvorstellungen und gentechnischer Eingriffe herstellen will. Unversehens verwandelt sich das Märchen ewiger Gesundheit in die negative Utopie einer Gesellschaft, die »Gesundheit« nutzt, um Kontrolle und Repression zu verewigen.
DIALEKTIK DER EIGENVERANTWORTUNG
Bedenklich stimmt, dass bei aller Erörterung von Gesundheit heute ausgerechnet der Bereich des gesundheitspolitischen Handelns in den Hintergrund rückt, auf den sich Gesundheit zuallererst gründet: die öffentliche Gesundheitsfürsorge. Offenbar empfinden viele Menschen eine gesicherte Trinkwasserversorgung, funktionierende Abfallbeseitigung, Nahrungsmittelsicherheit, Umweltschutz, Arbeitsmedizin, das Angebot breitenwirksamer Impfungen und öffentlich kontrollierte Versicherungen als selbstverständlich. Erst über den Verlust von public health tritt deren Bedeutung wieder ins Bewusstsein.
Der öffentliche Gesundheitsdiskurs dreht sich nicht um die Arbeit von Stadtwerken oder amtlichen Lebensmittelchemikern. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht vielleicht die spektakuläre medizinische Innovation, meist aber nur die vermeintliche Unfinanzierbarkeit eines öffentlich regulierten Gesundheitswesens. Dessen Kosten würden »explodieren«, heißt es unablässig, auch wenn sie real lediglich parallel zum Bruttosozialprodukt anwachsen.
Der Mythos der »Kostenexplosion« ist wirksam. Schaut man genauer hin, werden die Zusammenhänge deutlich: es geht um eine Neuverteilung der zur Verfügung stehenden Mittel und um die Abwälzung von Verantwortung auf die Patienten selbst. Wenn alle davon überzeugt sind, dass Gesundheit nicht mehr finanzierbar ist, dann kann sich auch staatliche Sozialpolitik ihrer Verantwortung dafür entledigen. An die Stelle des Rechts auf Gesundheit, dessen Verwirklichung die »Internationale Konvention über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte« (kurz: der UN-Sozialpakt) den Staaten auferlegt, tritt die individuelle Verpflichtung, selbst für die Gesundheit verantwortlich zu sein.
Der Appell zu mehr Eigenverantwortung ist zweischneidig. Eigenverantwortung gehört zum Kern neoliberaler Aktivierungsstrategien, verweist aber auch auf emanzipatorische Konzepte. Mehr individuelle Gesundheitskompetenz als solche ist durchaus im Interesse von Menschen und bedeutet nicht automatisch den Ausverkauf öffentlicher Versorgungsangebote. Im Gegenteil: nur wo die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Eigenverantwortung gefördert werden, ist auch eigenverantwortliches Leben möglich. Der Appell zur Eigenverantwortung läuft ins Leere, wo Armut herrscht, der Zugang zu Bildung, menschenwürdigen Wohnverhältnissen oder sauberem Trinkwasser versperrt bleibt und Prävention sich auf technische Angebote zur Raucherentwöhnung oder Fitnesssteigerung beschränkt. Ohne soziale Absicherung und Förderung von Selbstwertgefühl bleibt die Forderung nach Eigenverantwortung perfide.
Die Tendenz, Gesundheit nicht mehr im Zusammenhang von sozialen Rechten und staatlichen Verpflichtungen zu verorten, sondern als Ergebnis »unternehmerischer Lebensführung«, ist überall auszumachen. Zug um Zug entledigen sich die Staaten ihrer Verantwortung. An ihre Stelle treten user fees, Praxisgebühren, Zuzahlungen und individuelle Gesundheitsleistungen, für die Patienten selbst aufkommen müssen, out of pocket, wie es im globalen Süden längst die Regel geworden ist. Jene, die sich Gesundheit dann nicht mehr leisten können, werden für ihre Lage selbst verantwortlich gemacht.
Es ist die Abwälzung von gesellschaftlicher Verantwortung, die die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und damit die lukrative Neuverteilung der zur Verfügung stehenden Mittel zulässt. Und so ist es kein Wunder, dass Einsparungen in dem Augenblick gefordert werden, wo Gesundheit zu einem florierenden Wirtschaftsfaktor geworden ist. An Geld mangelt es nicht. Gesundheit wäre durchaus finanzierbar, wenn die vorhandenen Ressourcen rational und im Dienste aller eingesetzt würden. Das gilt für den nationalen wie den globalen Kontext. Und tatsächlich würde ein rationaler Einsatz auch Einsparungen möglich machen: durch den Verzicht auf unsinnige Arzneimittel und zweifelhafte Therapieverfahren beispielsweise, aber auch über die Zurückweisung der Pathologisierung von Lebenswelten.
DIE VERTEIDIGUNG DER AUTONOMIE
Die widersprüchlichen Konzepte im Gesundheitsdiskurs zeigen, dass Gesundheit über ärztliches Handeln, Versorgungsmanagement und betriebswirtschaftliche Kostenerwägungen hinaus eine politische Frage ist. Es ist die Aufgabe kritischer Öffentlichkeit, darüber zu entscheiden, in welche Richtung sich Gesundheitspolitik entwickelt.
Anlässe für politische Interventionen gibt es genug, etwa wenn neue Richtlinien für die Stammzellenforschung debattiert werden, wenn es um die Enteignung von Versicherungssystemen geht, wenn Gesundheit im öffentlichen Diskurs nicht mehr als Recht, sondern als normativer Zwang verhandelt wird. Zurückzuweisen ist zuvorderst die zunehmende Dominanz ökonomischer Interessen. Gesundheit darf nicht zu einer Ware verkommen, die sich nur noch wenige leisten können. Dann entscheiden nicht mehr die gesundheitlichen Bedürfnisse und Interessen von Menschen über das Angebot von Gesundheitsleistungen, sondern Renditeerwägungen.
Eine kritische Erörterung von Gesundheit muss von ihren Widersprüchen ausgehen: Es geht um die Frage,
- ob Gesundheit der Befähigung zur Emanzipation dient oder die Autonomie der Menschen einschränkt,
- ob Gesundheitspolitik dem Prinzip sozialer Gerechtigkeit folgt oder Menschen den Zugang zu bestmöglicher Gesundheit versperrt,
- ob gesundheitsrelevante Entscheidungen auf der Grundlage demokratischer Partizipation getroffen werden.
An diesen Fragen gilt es Kritik und Praxis von menschengerechter Gesundheitspolitik auszurichten.