Was bei der Verlängerung des Ausnahmezustands in Frankreich1 wirklich auf dem Spiel steht, lässt sich nur verstehen, wenn man ihn in den Kontext einer radikalen Umwandlung des uns vertrauten Staatsmodells stellt. Zunächst gilt es die Aussage unverantwortlicher PolitikerInnen zurückzuweisen, wonach der Ausnahmezustand angeblich die Demokratie schützt. Die Geschichte hat gezeigt, dass das Gegenteil richtig ist. Der Ausnahmezustand ist genau jene Einrichtung, über die sich die totalitären Mächte in Europa etablierten. So hatten die sozialdemokratischen Regierungen2 der Weimarer Republik in den Jahren vor Hitlers Machtübernahme derart oft auf das Instrument des Ausnahmezustands zurückgegriffen, dass man sagen kann: Deutschland hatte bereits vor 1933 aufgehört, eine parlamentarische Demokratie zu sein. Auch die erste Amtshandlung Hitlers nach seiner Ernennung (zum Reichskanzler, Anm.d.Ü.) bestand in der Ausrufung des Ausnahmezustands, der niemals (während der NS-Herrschaft, Anm. d. Red.) zurückgenommen wurde. Wenn man sich darüber wundert, welche Verbrechen in Deutschland ungestraft durch die Nazis begangen werden konnten, vergisst man, dass diese Handlungen absolut ›legal‹ waren, weil das Land dem Ausnahmezustand unterworfen war und Grundund Freiheitsrechte ausgesetzt waren. Es lässt sich nicht ausschließen, dass sich ein solches Szenario auch in Frankreich wiederholen könnte: Man kann sich mühelos eine rechtsextreme Regierung vorstellen, die sich zu ihren Zwecken eines Ausnahmezustands bedient, an den die sozialistische Regierung die BürgerInnen mittlerweile gewöhnt hat. In einem Land, das unter einem permanenten Ausnahmezustand steht und in dem polizeiliche Operationen zunehmend an die Stelle der Macht der Judikative treten, ist von einer raschen und nachhaltigen Beschädigung der öffentlichen Institutionen auszugehen.
Vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat
Ein Blick in die Geschichte des Ausnahmezustands in Europa zeigt, was in Frankreich wirklich auf dem Spiel steht.