Die Diskussion um die Krise der DRG-Abrechnung hatte schon vor Corona begonnen: So wurden etwa die Pflegekosten aus den Fallpauschalen herausgenommen. Aus Schleswig-Holstein wird nun die Forderung einer Finanzierung von sogenannten Vorhaltekosten als Grundfinanzierung für die Krankenhäuser laut. Und es gibt Überlegungen, zumindest die Kinder- und Jugendkliniken ebenfalls auszugliedern, weil ihr Bestand sonst nicht gesichert werden kann (vgl. Kunkel/Lützkendorf/Weinberg in LuXemburg-Online).
Corona hat die Frage der Krankenhausfinanzierung noch einmal zugespitzt aufgeworfen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft etwa fordert, das DRG-Abrechnungssystem im Jahr 2020 auszusetzen und alle entstandenen Kosten zu refinanzieren, damit am Ende nicht die einzelnen Krankenhäuser auf den Kosten der Corona-Krise sitzenbleiben. Es gab ja schon mal eine Alternative, das sogenannte Selbstkostendeckungsprinzip. Warum wurde es abgeschafft?
Die Selbstkostendeckung ist 1972 mit dem Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) eingeführt worden. Damals wurden neue Richtlinien zur Berechnung des Personalschlüssels aufgestellt. Das deutsche Krankenhausinstitut hat also Vorgaben gemacht, wie viel Personal pro Bett eingestellt werden muss. Das hatte einen erheblichen Aufbau an Personal zur Folge, der wegen der Selbstkostendeckung komplett durch die Krankenkassen finanziert wurde. Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre gab es dann bereits erhebliche Auseinandersetzungen zwischen den Krankenkassen und den Krankenhausbetreibern um das Selbstkostendeckungssystem. Die Krankenkassen kritisierten eine vermeintliche Kostenexplosion im Gesundheitssystem – dieser Begriff ging damals auch durch die Presse.
Und, hat es eine Kostenexplosion gegeben?
Nein, die Beitragssätze wurden in der Zeit zwar angehoben, dafür waren aber nicht die steigenden Ausgaben in den Krankenhäusern verantwortlich, sondern die sinkenden Einnahmen der Krankenkassen angesichts hoher Arbeitslosigkeit in dieser Zeit. Dadurch mussten einfach weniger Lohnabhängige mehr Geld aufbringen. Aber die Beitragsstabilität galt auch damals als oberstes Gebot im Gesundheitswesen, denn Deutschland sollte auf den internationalen Märkten konkurrenzfähiger werden – dafür musste der Anteil an den Sozialkosten und damit auch die Krankenkassenbeiträge sinken. In der Diskussion um Kostensenkungen in den Krankenhäusern wurden dann aber erste Änderungen eingeführt, die gravierende Folgen hatten. Zunächst wurden die Reinigungen und die Küchen privatisiert, d. h. das Gesamtsystem Krankenhaus als eine der Patientenheilung dienliche Einheit wurde auseinandergenommen und in verschiedene Bereiche zergliedert. Und auch das Selbstkostendeckungsprinzip wurde damals schon infrage gestellt. Die Krankenkassen drängten sehr auf Wirtschaftlichkeit.
Was bedeutete das in Bezug auf die Personalvorgaben, von denen du gesprochen hast?
1992 wurde beispielsweise eine Pflegepersonalbemessungsregelung (PPR) eingeführt, aufgrund derer viele neue Pflegekräfte in den Krankenhäusern eingestellt werden konnten (vgl. Gernhardt in LuXemburg Online). Durch ihr Drängen auf Kosteneindämmung haben die Krankenkassen aber bewirkt, dass diese PPR kurz nach Einführung wieder ausgesetzt wurde. Auch andere Bereiche wurden disziplinarisch zum sparsamen Wirtschaften gezwungen, was unter anderem dazu geführt hat, dass weiter outgesourct wurde. Alles, damit Beitragssätze stabil bleiben konnten.
Es gab damals ja sehr viele Mythen um die Selbstkostendeckung, etwa den Vorwurf, es hätte eine Verschwendung von Geldern gegeben, sie diene den Krankenhäusern als Selbstbedienungsladen. Andere versuchten die Selbstkostendeckung als Freiheitsberaubung der Patient*innen darzustellen, behaupteten also, die Patient*innen würden möglichst lange stationär behandelt, weil die Kliniken dadurch mehr Tagessätze abrechnen könnten. Was sagst du dazu? Wie funktionierte die Selbstkostendeckung tatsächlich?
Ein Krankenhaus musste auf Grundlage der Ausgaben des Vorjahres einen Wirtschaftsplan vorlegen. Es wurde aufgeschlüsselt, wie viele Fälle auf welchen Stationen in welchen Zeiträumen gelegen hatten. Für die Unterbringung der Patient*innen wurde ein Tagessatz gezahlt, also ein Basissatz, der die allgemeine Versorgung durch Küche, Reinigung und Handwerker*innen enthielt. Für Pflege und Medizin variierten die Tagessätze je nach Fachbereich. Auf der Grundlage des vergangenen Jahres wurde also für das Folgejahr eine Prognose aufgestellt. War diese zu gering, musste nachfinanziert werden; war sie zu hoch, wurde den Krankenhäusern der zu hohe Betrag vom Budget des nächsten Jahres abgezogen. Am Ende wurden nur die tatsächlich entstandenen Kosten erstattet – kein Selbstbedienungsladen also. Das wurde sehr rigide gehandhabt. Aber finanziert wurde eben schon alles, was aus medizinischer oder pflegerischer Hinsicht als notwendig befunden und geleistet wurde. Die öffentlichen Krankenhäuser hatten damals Krankenhauskonferenzen, in denen der Senat, der Bezirk, die Krankenhausleitung, Beschäftigtenvertreter*innen und Personalrät*innen saßen. Dort wurden Budgetfragen diskutiert, aber auch Sparmaßnahmen von den Krankenkassen eingefordert und ihre Ansprüche verhandelt.
Welche Rolle hat der Bezirk gespielt?
Der Bezirk hatte früher viel mehr Einfluss auf die Krankenhauspolitik, als das heute der Fall ist. Er war Ausrichter der Konferenzen und nahm eine vermittelnde Position zwischen dem Senat, den Kassen und den Krankenhäusern ein. Auch politische Fragen waren dort Thema. Wir hatten im Krankenhaus Neukölln zum Beispiel eine der größten Krankenpflegeschulen, deren Kosten durch die Krankenkassen nicht automatisch abgedeckt wurden. Das war dann ein Thema in den Krankenhauskonferenzen, da für die Finanzierung der Schulen immer gekämpft werden musste.
Und die Krankenhausbetreiber? Welche Interessen vertraten sie mit Blick auf die Kostenfrage?
Die öffentlichen Krankenhäuser waren damals – anders als heute – keine eigenständigen Betriebe, sondern nicht selbstständige Einheiten des Senats und der Bezirke. Sie waren bemüht, ihr Renommee als Krankenhaus zu verbessern. Es gab aber auch damals schon Versuche der Krankenhäuser, sich finanziell besserzustellen. So wurden zum Beispiel Auslandspatient*innen oder Privatpatient*innen in die Häuser geholt, um zusätzliche Gelder zu generieren. Im Grunde war es jedoch so, dass die Krankenhäuser nur auf Veranlassung des Senats bzw. der Krankenkassen – also durch politischen Druck, nicht durch Profitzwang – zum Sparen gebracht wurden.
Kommen wir noch einmal zurück zum Mythos der Freiheitsberaubung. Patient*innen verbrachten in den 1980er und 1990er Jahren durchschnittlich 15 bis 16 Tage im Krankenhaus, heute ist es ungefähr ein Drittel davon. Oft wird gesagt, dass Patient*innen beispielsweise auch noch über das Wochenende dabehalten wurden, weil das für die Krankenhäuser lukrativ war. Wie erklärst du die Unterschiede in den Verweildauern?
Die Krankenkassen haben darauf gedrängt, die Verweildauern zu verkürzen, indem sie für das jeweilige nächste Jahr geringere Sätze vereinbarten. In einzelnen Fällen mag es dazu gekommen sein, das Patient*innen länger dabehalten wurden als erforderlich, weil es auch innerhalb der Häuser zwischen den Abteilungen Konkurrenz gab. Jede Abteilung wollte eine gute Bettenauslastung haben. Weil die Stationen innerhalb des Krankenhauses so mehr Ressourcen für sich beanspruchen konnten. Für einzelne Chefärzt*innen kann es dann auch Sinn machen, eine Entlassung zu verschieben. Aber das ist nicht der zentrale Punkt. Der große Unterschied in den Verweildauern erklärt sich vor allem dadurch, dass in der Pflege soziale Aspekte eine Rolle spielten, was heute nicht mehr der Fall ist. Wir hatten ein ganz anderes Pflegeverständnis. Damals diente die Pflege der Wahrung der persönlichen Integrität und der Wiederherstellung der Ressourcen der Patient*innen. Etwa indem sie dabei unterstützt wurden, nach der Krankheit ihr Leben wieder eigenverantwortlich zu Hause zu führen. Bei der Aufnahme der Patient*innen war es zudem möglich, eine ordentliche Anamnese zu machen und Planungsziele aufzustellen, die genau diese Wiederherstellung ihrer persönlichen psychischen und physischen Integrität zum Ziel hatten. Dafür braucht man Zeit, die wir damals hatten. Das findet heute nicht mehr statt. Bevor es zu diesen Fragen kommt, wird der Patient entlassen. Zu Hause ist er dann auf einen Pflegedienst angewiesen. Statt also mit Unterstützung seine Aktivität wiederherzustellen, werden bestimmte Alltagsdinge dann für ihn erledigt und er wird nicht mehr richtig selbstständig.
Warum gibt es diese Form der Pflegeplanung jetzt nicht mehr?
Technisch betrachtet gibt es sie noch. Wenn eine Patientin aufgenommen wird, bekommt sie eine Pflegediagnose und es werden Ziele aufgestellt, die darauf ausgerichtet sind, dass sie das Krankenhaus wieder so verlassen kann, dass sie sich selbstständig im Alltag zurechtfindet. Aber diese Ziele können nicht mehr erreicht werden, weil die DRG das einfach nicht hergeben. Patient*innen werden entlassen und müssen dann zusehen, wie sie sich behelfen. Das ist furchtbar, aber es ist Tatsache.
In den Krankenhäusern steht also nicht mehr eine möglichst gute Behandlung der Patient*innen, sondern ein möglichst geringer Einsatz von Kosten für die Behandlung im Vordergrund?
Das lässt sich so auch nicht sagen. Die tatsächlichen Kosten sind heute weitaus höher als früher. Wenn ich beispielsweise mit Schwierigkeiten im Bauchraum ins Krankenhaus komme und der untersuchende Arzt feststellt, dass ich auch ein bisschen komisch laufe, kann es passieren, dass auch meine Kniegelenke behandelt werden. Es ist also gängig, dass Patient*innen eine Zweitdiagnose bekommen. Dafür gibt es eine neue Berufsgruppe in den Krankenhäusern, die medizinischen Dokumentationsassistent*innen. Sie überlegen, wie man die Krankheitsbilder so zusammenfügen kann, dass am meisten Geld dabei rausspringt. Patient*innen bekommen folglich eine Behandlung, die nicht notwendig ist und sich nicht aus der eigentlichen Beschwerde ergibt, sondern daraus, dass sie dem Krankenhaus mehr einbringt. Damit es sich ökonomisch rechnet, muss diese Behandlung aber schnell gehen, da das DRG-System den Zeitraum begrenzt, innerhalb dessen der volle Fallsatz bezahlt wird. Sowohl bei kürzerer als auch bei längerer Verweildauer gibt es Abstriche. Ob die Pflegeplanung dann abgeschlossen ist oder nicht, interessiert keinen Menschen.