Am 24. November stellten SPD, Grüne und FDP ihren Koalitionsvertrag vor. Direkt zu Beginn des Papiers wird konstatiert, dass die drei Parteien nicht die Koalition ihrer Wahl eingegangen seien, sondern primär durch die staatspolitische „Bereitschaft gemeinsam Verantwortung für die Zukunft Deutschlands zu übernehmen“ geeint würden. Diese Logik dürfte zugleich den Kitt der kommenden Koalition bilden. Und so bewegt sich der Vertrag entlang der Grundlinien der deutschen Außenpolitik der letzten Jahre, die immer auch die Welt als Exportraum im Blick hatte – allerdings betont sie nun stärker das Moment „einer von Unsicherheit und Systemkonkurrenz geprägten Welt“ (KV, Z. 4550f). 

Der Koalitionsvertrag spricht von einer „abrüstungspolitischen Offensive“. In den letzten drei Jahrzehnten kannte die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland nur eine Richtung: Salamitaktiken für immer mehr Kriegseinsätze der Bundeswehr; die interpretatorische Dehnung des Grundgesetzes sowie die Aufweichung des Völkerrechts, um diese in Afghanistan desaströs gescheiterten Auslandseinsätze zu legitimieren; den entsprechenden Umbau der Bundeswehr in eine Out-of-Area-Armee; und – seit 2015 – die massive Ausweitung des Rüstungsetats (trotz sozialer, Klima- und Coronakrise); die Zuspitzung der Konfrontation mit Russland und auch mit China durch eine immer aggressivere Rhetorik sowie NATO-Manöver in Grenznähe; ganz allgemein, die Dominanz einer Logik des Militärischen über die Mittel einer zivilen und friedlichen Außenpolitik, die auf Diplomatie, zivile Friedenskräfte, Entspannung, Abrüstung, Vertrauensbildung und Kooperation setzt. 

Kurzum, eine „abrüstungspolitische Offensive“ und eine grundlegende außenpolitische Kurskorrektur durch eine Reformregierung, die mit dem Weiter-so der letzten zwei Jahrzehnte bricht, wären zweifellos zu begrüßen. Messen muss man die neue Regierung jedoch nicht an den schönen Worten, sondern an den Taten, die sie plant. Dabei steckt, wie so oft, der Teufel im Detail. Ein wesentliches Detail, das so gar nicht zur Formel „abrüstungspolitische Offensive“ passt, ist zum Beispiel der Plan, die Bundeswehr jetzt mit bewaffnungsfähigen Drohnen auszustatten. Dabei muss klar sein, dass die neue Regierung dieses Vorhaben mitnichten auf Druck ihres kleinen liberalen Koalitionspartners tut.  

Anschaffung von bewaffnungsfähigen Drohnen 

Bereits vor Abschluss der Sondierungen im Oktober war der Abschlussbericht der SPD-Projektgruppe zum Thema Drohnen bekannt geworden. Diese Gruppe war 2020 eingesetzt worden, um die Entscheidung über die Anschaffung bewaffnungsfähiger Drohnen zu vertagen. So konnte das leidige Thema erfolgreich aus dem Wahlkampf der SPD herausgehalten werden. Die FDP möchte sie schon seit längerem beschaffen und das kategorische „Nein“ der Grünen wurde auf ihrem letzten Wahlparteitag aufgeweicht. Nun ist es offiziell: Die neue Bundesregierung will in dieser Legislaturperiode die Beschaffung von bewaffnungsfähigen Drohnen auf den Weg bringen und für ihren Einsatz eine Reihe von – nicht näher genannten – Auflagen formulieren. Was als Maßnahme zum Schutz der im Ausland eingesetzten Soldat*innen präsentiert wird, ist eine beträchtliche Fähigkeitserweitung der Bundeswehr innerhalb des globalen Rüstungswettlaufs um bewaffnete Drohnen. Die Schrittfolge ist Anschaffung und dann anschließender Einsatz zur internationalen Regulierung. Dabei wird betont, dass Drohnen weder als vollständig autonome letale Waffensysteme, die nur nach Algorithmen handeln, zum Einsatz kommen sollen und man auch extralegale Tötungen, wie sie die USA betreiben, ablehnt. Indes: Aus dem Papier der SPD-Projektgruppe wissen wir, dass nicht zuletzt die Bündnisraison eine wichtige Rolle bei der Drohnen-Entscheidung spielte. Klar ist auch, dass einmal angeschaffte bewaffnungsfähige Drohnensysteme von neuen Bundesregierungen eingesetzt werden können, so wie es diese Technologien grundsätzlich ermöglichen. 

Von wegen Abrüstung…

Die neue Bundesregierung bekennt sich also, wie gesagt, zu einer „abrüstungspolitischen Offensive“ (KV, Z.4896). De facto steht aber nicht nur die Kampfdrohnenanschaffung im Widerspruch zu dieser Formel, sondern die Gesamtausrichtung. Denn im Koalitionsvertrag steht das genaue Gegenteil einer solchen Offensive: Die neue Bundesregierung will den bisherigen Kurs zu einer stärkeren Aufrüstung nämlich fortsetzen. Das 2-Prozent-BIP-Ziel der NATO, an dem die letzte Bundesregierung trotz Klimakrise, trotz Infrastrukturkrise und trotz Coronakrisenbelastungen als – zwangsläufig – langfristiger Perspektive festgehalten hat, wird zwar im Koalitionsvertrag nicht explizit genannt. Es ist nur davon die Rede, dass man „[d]ie NATO-Fähigkeitsziele […] in enger Abstimmung mit unseren Partnern erfüllen und entsprechend investieren“, sprich aufrüsten wolle (KV, Z.4883f.). Zugleich ist von „langfristig 3% [des] Bruttoinlandsprodukts“ Ausgaben für „internationales Handeln“ die Rede (KV, Z.4859f.). Da die Ausgaben für Rüstung einerseits und Entwicklungszusammenarbeit andererseits weiterhin im Gleichschritt steigen sollen, ist aber ein Bekenntnis zu Rüstungsausgaben von 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts impliziter Bestandteil des Koalitionsvertrags. Dies würde, selbst bei moderatem Wachstum, eine Fortsetzung der massiven Aufrüstungspolitik der Bundesregierung bedeuten und Deutschland zum größten Militärstaat in Europa (inklusive Russland) machen. Überhaupt wird die Logik des Militärischen – trotz ihres offensichtlichen Scheiterns in Afghanistan, Irak usw. – nicht infrage gestellt. Die Passagen, die sich auf „einen umfassenden Sicherheitsbegriff“ mit „Krisenprävention und zivile(m) Krisenmanagement“ beziehen, sind kurz und materiell kaum unterfüttert (KV, Z.4561ff.). Der Abschnitt über „zivile Krisenprävention und Friedensförderung“ umfasst ganze fünf Zeilen (KV, Z.4994ff.).

Wenn also im Koalitionsvertrag von einer „abrüstungspolitischen Offensive“ die Rede ist (KV, Z.4896), dann muss man genau hinsehen, was damit gemeint ist. So zielt Abrüstung fast ausschließlich auf Atomwaffen, die Deutschland überhaupt nicht besitzt, während die Rüstungskontrolle unter dem Vorbehalt einer europäischen Lösung steht (KV, Z.4923ff.) – man will nicht einseitig auf deutsche Waffenprofite verzichten. Ansonsten beschränkt sich die neue Bundesregierung auf die Ausweitung der Endverbleibskontrolle von deutschen Rüstungsexporten (KV, Z.4897ff.), die „neuen Bedrohungen“ (Cyber usw.) (KV, Z.4917ff.) und eben auf Waffensysteme, die die neue Bundesregierung allerdings vorher noch anschaffen will (bewaffnungsfähige Drohnen) (KV, Z.4913ff.).

Atomare Abrüstung nur unter Vorbehalt der Bündnisräson

In Bezug auf Atomwaffen setzt die neue Bundesregierung dabei zugleich auf eine „atomare Teilhabe“ mit Frankreich. „Solange Kernwaffen im Strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben“ (KV, Z.4885ff.). Zugleich heißt es im Atomwaffenabschnitt weiter: Es brauche gegen Russland gerichtet eine „Aufrechterhaltung eines glaubwürdigen Abschreckungspotenzials“ (KV, Z.4889f.). Man strebt aber so etwas wie eine Wiederauflage des von den USA und Russland aufgekündigten Atomwaffensperrvertrags INF an, der auf China ausgedehnt werden soll (KV, Z.4904f.). Auch in Bezug auf das in den kommenden Monaten neu anzuschaffende Kampfflugzeugsystem (in Nachfolge der „Tornados“) will die neue Bundesregierung den „Zertifizierungsprozess mit Blick auf die nukleare Teilhabe Deutschlands […] sachlich und gewissenhaft begleiten“ (KV, Z.5030ff.).

In Bezug auf Rüstungsexporte bekennt sich die neue Bundesregierung nun zum Kurs der stärkeren Transparenz (KV, Z.4929f.), der von Seiten der letzten Bundesregierungen in Folge der Widersprüche und wachsenden Kritik an deutschen Waffenexporten in die Rüstungsexportberichte mündete. Das Problem ist aber nicht Intransparenz; denn da die Exportberichte nur „ex post“ erfolgen (es wird berichtet, was im letzten Jahr wohin exportiert wurde) und es für Rüstungsexporte so gut wie immer Genehmigungen gibt, ist „Transparenz“ ein Papiertiger und dient letztlich der Rechtfertigung der Exportpraxis. Konkret will man allein auf Waffenexporte an Staaten verzichten, die im Jemen Krieg führen (KV, Z.4930), was immerhin temporär Saudi-Arabien als wichtigen Abnehmer deutscher Waffen mitmeinen sollte. 

Der Endverbleib der Rüstungsexporte ist ein wichtiges Thema, weil einmal exportierte Waffen, vor allem Kleinkaliberwaffen, zum Beispiel von Syrien aus durch mehr als ein Dutzend Länder gewandert sind und dadurch Konflikte anheizen, real oder potenziell ganze Regionen destabilisieren und Menschen zur Flucht zwingen. Zugleich aber verbietet die Bundesregierung nicht, wie es nötig wäre, den Export von kleinkalibrigen Schusswaffen etc. Vielmehr dient die „Nonproliferation“ dem Ziel, dass von neuen Waffensystemen keine Gefährdung des Bündnisses ausgeht. Auch das formulierte Ziel einer „abrüstungspolitischen Offensive“ steht also wesentlich unter dem Vorbehalt der Bündnisräson. So möchte die Bundesregierung atomare Abrüstung weiterhin im Rahmen eines Nichtverbreitungsvertrages betreiben, nicht aber dem restriktiveren Atomwaffenverbotsvertrag beitreten. 

Militarisierung der EU

Bündnispolitisch setzt die neue Bundesregierung auf die Fortsetzung des außenpolitischen Kurses der Vorgängerregierung(en). Dieser zielt darauf, Deutschland zu einem militärisch wie nichtmilitärisch global handelnden Akteur zu machen. Als „viertgrößte Volkswirtschaft der Welt“ (KV, Z.4394) und „größter Mitgliedstaat“ in der EU (KV, Z.4388f.) sieht Deutschland für sich eine „Verantwortung für Europa und die Welt“. Das Vehikel deutscher Interessen ist dabei die EU; die neue Regierung werde „deutsche Interessen im Lichte europäischer Interessen definier(en)“ (KV, Z.4388). Das Ziel sei „Handlungsfähigkeit im globalen Kontext herzustellen“ (KV, Z.4431).

Die Orientierung auf eine „strategische Autonomie Europas“ und globale Rolle der EU – von der neuen Bundesregierung ahistorisch als „historische(s) Friedens- und Freiheitsprojekt“ idealisiert (KV, Z.4384f.) – und ihrer „gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) wird beibehalten, ja verstärkt. Dies entspricht einer Intensivierung insbesondere des Aufbaus einer EU-Armee im Rahmen der „ständigen strukturierten Zusammenarbeit“ (PESCO) und des Einstiegs in ihre Finanzierung durch Mittel des EU-Haushalts im Rahmen des „Europäischen Verteidigungsfonds“ (EVF) (KV, Z.5024ff.). Man trete für „eine verstärkte Zusammenarbeit nationaler Armeen integrationsbereiter EU-Mitglieder ein, vor allem bei Ausbildung, Fähigkeiten, Einsätzen und Ausrüstung […] “ (KV, Z.4568ff.).

Perspektivisch weniger parlamentarische Kontrolle 

Um Hemmschuhe in dieser Richtung aus dem Weg zu räumen, ist die Bundesregierung bereit, die Souveränität der Nationalstaaten und die parlamentarische Kontrolle des europäischen Militärs weiter einzuschränken. Dafür will die neue Bundesregierung nicht nur den Posten eines „echten EU-Außenminister(s)“ schaffen (KV, Z.4557ff.), sondern das – seinerzeit auf Betreiben Großbritanniens in der „einheitlichen Europäischen Akte“ verankerte – Einstimmigkeitsprinzip als zentraler modus operandi in der europäischen Politik zugunsten eines Prinzips „qualifizierter Mehrheit“ aufheben (KV, Z.4553ff.)! Was wäre dann aber mit dem Bekenntnis, dass die Bundeswehr eine „Parlamentsarmee“ sei, die „der parlamentarischen Kontrolle“ unterliege (KV, Z.5002f.), wenn zukünftig eine Mehrheit von Außen- und Verteidigungsministern im EU-Ministerrat ausreicht, um Kriegseinsätze unter Beteiligung von Soldaten aus Deutschland und anderen EU-Mitgliedsstaaten im Rahmen einer ausgebauten EU-Armee zu beschließen? Und warum stößt dieser Teil der „gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) nicht auf die ungeteilte Gegenliebe aller stimmberechtigten EU-Staaten? (Die Forderung nach einer Stärkung des EU-Parlaments durch das „Initiativrecht“ [KV, Z.4417] und das Ziel einer Verfassung für den avisierten „föderalen europäischen Bundesstaat“ [KV, Z.4414f.] sind dabei letztlich Makulatur und fallen weit hinter die Notwendigkeit einer Demokratisierung der undemokratischen EU-Strukturen zurück.)

Bei all dem hält man am liebgewonnenen Prinzip von flexiblen Militäreinsätzen mit oder ohne UN-Mandatierung und auch an der flexibel handhabbaren Ausdehnung der Landes- zur „Bündnisverteidigung“ fest, die – zukünftig mit Menschenrechten begründete – „Auslandseinsätze im Rahmen des Internationalen Krisen- und Konfliktmanagements“ erleichtert (KV, Z.5003ff.). Hierfür müsse die Bundeswehr „entsprechend […] bestmöglich personell, materiell sowie finanziell verlässlich ausgestattet werden“ (KV, Z.5008ff.). Der trotz eines in den letzten zehn Jahren um ein Vielfaches aufgeblähten Werbeetats mangelnden Attraktivität der Bundeswehr will man mit noch mehr Anstrengungen „zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr“ begegnen (KV, Z.5046ff.). Immerhin will man nun aber, nach dem katastrophalen Scheitern der deutschen Außenpolitik in Afghanistan, eine „regelmäßige Evaluierung von laufenden Auslandseinsätzen“ durchführen (KV, Z.5066f.), was bislang unterblieben war, und einen „parlamentarischen Untersuchungsausschuss“ wenigstens für die „Evakuierungsmission des Afghanistan-Einsatzes“ installieren (KV, Z.5069f.). 

Zuspitzung der Systemkonkurrenz mit Russland und China

Die von der neuen Bundesregierung fortgesetzte Militarisierung der EU soll dabei nicht als ein Konkurrenzprojekt zu den USA und den von ihnen dominierten NATO-Strukturen verstanden werden, es gehe um die „Interoperabilität und die Komplementarität mit Kommandostrukturen und Fähigkeiten der NATO“ (KV, Z.4572f.). Das Bekenntnis zur NATO ist eindeutig und dazu gehört auch die Perspektive einer weiteren Zuspitzung des Konflikts mit Russland. Dafür sprechen viele Faktoren: (1.) Die offensive Orientierung auf die Ost- und Südosterweiterung der EU nicht nur in Richtung der sechs Westbalkanstaaten, sondern auch in Richtung Ukraine, was perspektivisch auch eine Einbindung in NATO-Strukturen bedeuten könnte. (2.) Das Bekenntnis zu fortgesetzten Wirtschaftssanktionen gegen Belarus und auch gegen Russland, von dem bedingungslos eine Rückgabe der Krim gefordert wird. (3.) Das im Koalitionsvertrag erklärte und von der neuen Außenministerin Anna-Lena Baerbock offensiv vertretene Ziel, die Importe von russischen Rohstoffen, insbesondere Energieimporten, zu reduzieren, und damit „weniger abhängig und verwundbar“ zu sein (KV, Z.4432f.), und (4.) die Erklärung, auch in den Strukturen der Zusammenarbeit mit Russland (OSZE, Europäischer Rat) mit „autoritäre(n) Europaratsmitglieder(n)“ den Konflikt zu suchen (KV, Z.4851). Man befinde sich in einem „Systemwettbewerb mit autoritär regierten Staaten“ (KV, Z.4823f.). 

Insgesamt prägt den Koalitionsvertrag die Annahme „einer von Unsicherheit und Systemkonkurrenz geprägten Welt“ (KV, Z. 4550f.). Gemeint ist damit wesentlich das Verhältnis zu China – keinen anderen Staat nennt der Vertrag häufiger (14 Mal). Doch genau diese Annahme der Systemkonkurrenz führt einen exportorientierten Staat, der beträchtliche Teile seines Außenhandels mit China abwickelt, in eine Reihe von Widersprüchen. Im 15. Jahr der manifesten Neoliberalismuskrise sieht sich der herrschende Block gezwungen, die generelle Stoßrichtung seiner Außenhandelsorientierung beizubehalten. Das zeigt sich auch in Bezug auf Afrika, sowohl mit Blick auf die Lippenbekenntnisse zur Fluchtursachenbekämpfung als auch in der Betonung der weitgehend abstrakt bleibenden und als schöne Absichtserklärung formulierten Entwicklungshilfe und „fairen Handelspolitik“. Diese werden damit  zur Makulatur gemacht (KV, Z.5090ff.; KV, Z.5150ff.), insofern der „Compact with Africa“, an denen auch die neue Bundesregierung neben den Economic Partnership Agreements festhält (KV, Z.5293ff.), an privatkapitalistische Investitionen gekoppelt ist – denn das exportbasierte deutsche Wachstumsmodell basiert auf trägen technischen, wie ökonomischen Strukturen, selbst konsequent verfolgter Wandel würde Zeit erfordern. Doch selbst das generelle Kurshalten erfordert Adaptionen. Dazu gehört auch die Modifikation des ursprünglich ausschließlich auf Austerität und „innere Abwertung“ von Löhnen und Kosten angelegten „Stabilitäts- und Wachstumspakts“ („Fiskalpakt“, SWP) im Rahmen der – in der Coronakrise eingeführten – Coronabonds, die letztlich Eurobonds mit anderem Namen sind. Damit reagierte man auf die inneren Fragmentierungstendenzen innerhalb der europäischen Währungsunion und die Gefahr ihres unkontrollierten Auseinanderbrechens und auf die Tatsache, dass die EU an Kapazität eingebüßt hat, federführend die Welthandelsordnung mitzugestalten. Die neue Bundesregierung hält an diesem Kurs mit Verweis auf die positive „Flexibilität“ des SWP in Sachen „Schuldentragfähigkeit“ (KV, Z.4470f.) und zum Zwecke der von der EU-Kommission angestrebten stärkeren Industriepolitik im Rahmen des europäischen „Green Deal“ und des Wiederaufbauprogramms „Next Generation EU“ fest (KV, Z. 4476ff.; KV, Z.4497ff.). Er ist vor allem als Reaktion auf die Dynamik des chinesischen Staatsinterventionismus zu sehen ist, der sich im Nachgang der globalen Finanzkrise und im Vergleich zur westlichen Exit-Strategie der Austeritätspolitik als überlegen erwiesen hat. An diesem Kurs ändern auch die – von der FDP forcierten – Bekenntnisse zu „Preisstabilität“ und haushaltspolitischer Verantwortung in den EU-Mitgliedsstaaten nur bedingt etwas (KV, Z.4491ff.). 

In diesem Sinne können wir den Koalitionsvertrag als Versuch einer Antwort auf eben diese Widersprüche lesen. Die Ampelparteien räumen indirekt ein, dass Freihandel per se nicht fair, sozial, ökologisch ist oder auf menschenrechtlichen Standards basiert, ­indem sie eben diese Standards einfordern. Vor allem aber debattieren sie die Frage des Freihandels im Kontext einer wachsenden Konkurrenz zwischen den großen Mächten:


„Wir wollen den regelbasierten Freihandel auf Grundlage von fairen sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Standards stärken und sprechen uns für eine deutsche und europäische Handelspolitik gegen Protektionismus und unfaire Handelspraktiken aus. […] Wir setzen uns für die Stärkung des Multilateralismus und für die Weiterentwicklung der Welthandelsorganisation WTO ein, dazu gehört die Erneuerung der Regeln zu marktverzerrenden Subventionen, die Aufhebung der Blockade bei dem Streitbeilegungsmechanismus und eine Ausrichtung am Pariser Klimavertrag sowie den Globalen Nachhaltigkeitszielen der VN. Wir unterstützen die Neuausrichtung der EU-Handelsstrategie und wollen die künftigen EU-Handelsabkommen (u. a. mit Chile, Neuseeland, Australien, ASEAN, Indien) mit effektiven Nachhaltigkeitsstandards unter Anwendung eines Streitbeilegungsmechanismus ausstatten. […] Wir nutzen das europäische Wettbewerbsrecht und die Stärke des europäischen Binnenmarktes gerade mit Blick auf unfaire Wettbewerbspraktiken autoritärer Regime.“ (KV, Z.1056ff.).


Der Verweis auf das europäische Wettbewerbsrecht meint nicht nur die wirtschaftspolitischen Praxen Chinas, sondern stellt auch Seitenhieb gegen die umstrittene deutsch-russische Northstream-II-Pipeline dar. Deren Vereinbarkeit mit EU-Recht stellen ihre Kritiker*innen regelmäßig in Frage. Ein Kippen der Pipeline ist dennoch kaum zu erwarten, eine noch stärkere Berücksichtigung der Interessen der mittelosteuropäischen Regierungen (zum Beispiel an Flüssigasimporten aus Übersee) hingegen schon. Während der Verweis auf die Stärke des europäischen Binnenmarktes eine zumindest graduelle Einhegung des freihändlerischen Paradigmas indiziert, richten sich die Begriffe „unfaire Handelspraktiken“ und Proktektionismus vor allem gegen China und die chinesische Wirtschaftspolitik, deren eigene Marktöffnung unter den Erwartungen der westlichen Handelspartner*innen verbleibt. Am wichtigsten jedoch ist die wiederholte Formulierung „regelbasiert“. Sie verweist auf die politischen Herausforderungen, denen sich die auf Multilateralismus basierende Welthandelsordnung in den vergangenen Jahren stellen musste. Diese wurde eben nicht nur durch Russland und China herausgefordert, sondern auch von den USA, die ihre Interessen in der multilateral verhandelten Ordnung nicht mehr hinreichend berücksichtigt sahen. 

„Wertbasierte“ internationale Kooperation

Dieser indirekte, aber doch substanzielle Hinweis auf die Brüche innerhalb der westlichen Welt unter der Präsidentschaft Donald Trumps führt zur besonders starken Betonung von internationaler Kooperation im Koalitionsvertrag. Gleichwohl wird diese durch das Paradigma der Systemrivalität überformt: „Wir wollen und müssen unsere Beziehungen mit China in den Dimensionen Partnerschaft, Wettbewerb und Systemrivalität gestalten. Auf der Grundlage der Menschenrechte und des geltenden internationalen Rechts suchen wir die Kooperation mit China, wo immer möglich.“ (KV, Z.5303ff.) Internationale Kooperation soll also primär zwischen westlichen, liberalen Demokratie stattfinden. Auch der häufig in Anschlag gebrachte Begriff „wertebasiert“ dient dazu als Marker. Die Ampel-Parteien möchten ihre „Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik […] wertebasiert und europäischer aufstellen“ (KV, Z.4814f.) und die „strategische Souveränität Europas“ erhöhen (KV, Z.4821). Gleichwohl nennt das Sondierungspapier die USA hier nicht namentlich und meidet den umstrittenen Begriff „strategische Autonomie“, der eine größere Unabhängigkeit von den USA im Sinne eines realen Aufbaus alternativer militärischer, wie auch ökonomischer Strukturen implizieren würde: „Die transatlantische Partnerschaft und die Freundschaft mit den USA sind ein zentraler Pfeiler unseres internationalen Handelns. Wir treten für eine Erneuerung und Dynamisierung der transatlantischen Beziehungen mit den USA und Kanada ein, die wir europäisch ausgestalten wollen. Gemeinsam wollen wir die regelbasierte internationale Ordnung stabilisieren, autoritären Entwicklungen begegnen und in der östlichen und südlichen Nachbarschaft der EU verstärkt zusammenarbeiten.“ (KV, Z.5164ff.) Was in diesem Kontext unter „europäisch ausgestalten“ zu verstehen ist, wird nicht näher definiert, bewegt sich innerhalb der großen Linien des bundesrepublikanischen Elitendiskurses der letzten Jahre, der Ambivalenzen gegenüber den USA zulässt, aber am Ende doch einhegt (vgl. Gehring 2021).

Selbstredend versteht das Sondierungspapier die Bundesrepublik als Hegemon innerhalb der EU: „Wir werden eine Regierung bilden, die deutsche Interessen im Lichte europäischer Interessen definiert. Als größter Mitgliedstaat werden wir unsere besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen.“ (KV, Z.4387ff.)

Hegemonie des deutsch-französischen Tandems 

Gleichwohl kann sie diese Rolle nur zusammen mit Frankreich ausüben, eben deshalb sollen Interessensdifferenzen mit schwächeren EU-Staaten symbolisch überbrückt werden – zum Beispiel durch das Weimarer Dreieck. Letzteres ist ein Gesprächsforum zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, die vor allem polnische Bedenken gegenüber einer zu starken Hegemonie des deutsch-französischen Tandems primär symbolisch zerstreuen soll. Die Rolle des deutsch-französischen Tandems ist nicht weitergehend definiert, doch möchte die neue Bundesregierung „wo nötig mit einzelnen Mitgliedstaaten vorangehen“ (KV, Z.4419). Auch das Ziel, dass die EU-Kommission Verfahren gegen EU-Mitgliedstaaten, die die Rechtsstaatlichkeit aussetzen, anstrengen und bündeln darf (KV, Z.4455ff.), sowie die Zustimmung zu den Plänen der EU-Kommission, dass Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds an die Bedingung einer „unabhängige(n) Justiz“ (KV, Z.4451) knüpft, dürfte bei der polnischen Regierung für Alarmzeichen sorgen. Doch die wertebasierte Außenpolitik kommt mit flexiblen Auslegungsspielräumen: „Die Türkei bleibt für uns trotz besorgniserregender innenpolitischer Entwicklungen und außenpolitischer Spannungen ein wichtiger Nachbar der EU und Partner in der NATO“ (KV, Z.5226f.) Ihr EU-Beitrittsprojekt bleibt eingefroren.

Ohnehin liegen die inneren Widersprüche der EU primär auf anderen Terrains und entziehen sich den Ansätzen klassischen zwischenstaatlichen Ausbalancierens weitgehend. Für die Rolle der EU und damit auch Deutschlands in der Welt sowie für den inneren Zusammenhalt der EU überhaupt ist die Frage ihrer Integrationsweise von entscheidender Bedeutung. Doch dafür fehlt das Bewusstsein. 

Die Ampel betrachtet den Stabilitäts- und Wachstumspakt, der vor allem den mediterranen Staaten sozial und wirtschaftlich verheerende Sparpolitiken aufbürdete, als Grundlage für Wachstum, Schuldentragfähigkeit sowie für nachhaltige und klimafreundliche Investitionen. Erinnern wir uns: Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde sehr wesentlich die Bedienung jener Schulden sichergestellt, die die mediterranen Staaten bei den Gläubigern in den reichen Staaten der EU angehäuft hatten. Ihre Investitionen wurden so über die Finanzkrise hinweggesichert statt abgeschrieben. Das notwendige Reset des stark finanzialisierten europäischen Kapitalismus wurde so aufgeschoben. Eben deshalb hat die EU seit Jahren Schwierigkeiten ihre Infrastrukturen zu erneuern, Forschung auf Weltspitzenniveau zu betreiben und einen Wandel hin zu einem Green New Deal einzuleiten. Der Koalitionsvertrag spricht von „Systemwettbewerb“, fordert aber keine grundlegende Reform des eigenen Systems. Die Bearbeitung der Post-Brexit-Krise soll vor allem dadurch geschehen, dass die EU geschlossen auf die Einhaltung der Austrittverträge achtet. Tiefere konzeptionelle Schlussfolgerungen finden sich nicht, obwohl der Brexit ein Ergebnis der Krise der EU ist und zudem erheblich ihre weltpolitischen Kapazitäten reduziert, sie mithin in der selbst proklamierten Systemkonkurrenz mit China schwächt.

Visionslosigkeit der kommenden Koalition

Doch wie von uns gezeigt, wurden einige Hintertüren offengelassen: „Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat seine Flexibilität bewiesen“ (KV, Z. 5682). In der Tat wurden im Zuge der Corona-Krise mit Eurobonds gemeinsame europäische Kredite aufgenommen und zumindest auf diesem Feld der Staatsfinanzierung die Konkurrenz der nationalen Wettbewerbsstaaten zeitweilig gemildert. Auch die Fähigkeit der Ampel, in Krisen über ihren eigenen Schatten zu springen, ist folglich nicht zu unterschätzen.

Doch dies darf nicht über die Visionslosigkeit der kommenden Koalition hinwegtäuschen: Der tiefen inneren Krise der EU und ihrer Außenpolitik wird das Sondierungspapier nicht gerecht. Nur schwerlich wird die neue Bundesregierung auf Basis ihrer Gemeinsamkeiten emanzipatorische Akzente in der Außenpolitik setzen können. Auch auf diesem Feld wird es bei der Verwaltung des Status Quo bleiben, welches die Reste der neoliberalen Ordnung aufrechterhält, ohne aktive Schritte zu jenem sozialökologischen Reformprogramm eines Green New Deal zu unternehmen, für den nicht wenige Menschen SPD oder Bündnis 90/Die Grünen gewählt haben. Die neue Koalition wird versuchen, das in sich instabile System außenpolitisch weiter zu verwalten, wenn nicht unvorhergesehene Ereignisse es aus den Angeln heben und einmal mehr zum Krisenmanagement über den eigenen Schatten hinaus zwingen. Das außenpolitische Postulat der Systemkonkurrenz ohne eigene Vision innerer Systemreformen bleibt ein frappierender Widerspruch.