Ebenso notwendig erscheint es, dass Menschen sich entscheiden, auf die verflochtenen Folgen von Krisen und Krieg mit einer ›eigensinnigen‹ Mobilität zu reagieren: mit Flucht und Auswanderung, mit Praktiken der Migration, die eine wirkliche soziale Bewegung hervorbringen. Sie heben den jetzigen Zustand nicht auf, sondern versuchen, sich seinen Folgen zu entziehen und dem eigenen Wunsch auf ein besseres Leben zu folgen.
Die europäischen Staaten reagieren auf diese Bewegungen seit den 1980er Jahren zunehmend repressiv. Die Europäisierung der Migrationspolitik dient als Katalysator und Medium ständiger Verschärfungen: Dublin III hebelt das Asylrecht weiter aus, Frontex perfektioniert die Grenzabschottung, und dystopische Großtechnologien wie das biometrische Entry-Exit-System intensivieren den herrschaftlichen Zugriff auf die subalterne Mobilität. Seit den frühen 1980er Jahren wehren sich migrantische Bewegungen und linke AktivistInnen gegen solche Politiken. Mit Slogans wie ›Kein Mensch ist illegal‹ und ›No Border! No Nation!‹ haben sie die Idee globaler Bewegungsfreiheit auf die Agenda sozialer Bewegungen gesetzt. Sie beschreiben die Idee, dass sich alle Menschen frei auf der Erde bewegen können, dass sie leben und sich niederlassen können, wo sie möchten, und dabei gleiche Rechte genießen, ungeachtet ihrer ›Nationalität‹, ihrer ›Staatsbürgerschaft‹ oder anderer Kriterien. Selbstorganisierte sans-papiers und refugees sowie die NoBorder-Bewegung haben globale Bewegungsfreiheit als ein gegenhegemoniales Projekt konstituiert, als ein politisches Vorhaben, das die ›tiefe Hegemonie von Grenzen‹ radikal infrage stellt.
Dieses Projekt wird vielfach kritisiert. Globale Bewegungsfreiheit löse keine Probleme, sagen manche. Zwar müsste niemand mehr im Mittelmeer ertrinken aber worum es doch eigentlich gehe, sei die Möglichkeit, nicht weggehen zu müssen. »It must be a viable option to stay in one’s country«, so die Europäische Union. »Vom Recht zu gehen – und zu bleiben« spricht deshalb medico international. Die Forderung nach offenen Grenzen scheint schlimmstenfalls eine moralistische Position zu sein, die jene politökonomischen Strukturdynamiken aus den Augen verliert und verewigt, die Migration aus dem globalen Süden und Chauvinismus im globalen Norden ständig neu hervorbringen. Ein erster Schritt, um in diesem Dickicht der Widersprüche Klarheit zu gewinnen, ist Analyse.
Analyse: Tiefe Hegemonie der Grenze
Migrationskontrollen sind ein grundlegendes und nicht beliebig aufhebbares Strukturmerkmal bürgerlich-kapitalistischer Staaten (vgl. Georgi 2013). Die Europäisierung (und Internationalisierung) eines ›Migrationsmanagements‹ definiert dessen historisch jüngste Phase. Seine ständige Umgestaltung wird zentral durch zwei Konflikte vorangetrieben.
Der erste besteht zwischen verschiedenen Fraktionen der ›Weltarbeiterklasse‹. Auf der einen Seite steht eine subalterne Mobilität: Menschen aus peripheren Räumen versuchen, durch Migration (in die nächste Stadt, in regionale Metropolen oder in den globalen Norden) Schutz, Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Zu einem wesentlichen Teil ist diese Mobilität eine eigensinnige Reaktion auf die dramatischen Folgen neoliberaler Globalisierung, der jüngsten kapitalistischen Expansionsphase. Auf der anderen Seite reagieren große Teile der Bevölkerungen des globalen Nordens restriktiv auf diese Mobilität. Angesichts von Sozialabbau und wachsender Prekarität versuchen sie, in einer rassistisch geprägten Dynamik die Privilegien ihrer ›imperialen Lebensweise‹ und den Mehrwert ihrer ›national-sozialen‹ Bürgerrechte auch durch repressiv ausgebaute Migrationskontrollen abzusichern.
Der zweite Konflikt ist eine ›arbeitskraftpolitische‹ Auseinandersetzung. Hier geht es darum, wie die EU-Staaten die für den kapitalistischen (Re-)Produktionsprozess nötigen Arbeitskräfte mobilisieren. Wie frühere Arbeitskraftstrate-gien zielt das heutige ›Migrationsmanagement‹ darauf, die Mobilität der Weltarbeiterklasse zu regulieren und sie abgestuft zu entrechten, dieses Mal durch ihre ›Migrantisierung‹ als Effekt von Ausländerrecht und rassistischen Diskursen.
Was staats- und kapitalnahe ExpertInnen heute fordern, ist nichts anderes als ein System ›globaler Apartheid‹: Die überwiegende Mehrheit subalterner Bevölkerungen soll in ihren ›Homelands‹ räumlich fixiert werden, während die Mobilität nützlicher Gruppen durch Pässe, Visa und Grenzen selektiv inwertgesetzt, also profitabel gemacht wird. Der gewollte Effekt ist, dass die meisten Menschen im globalen Süden unmenschlichen Lebensbedingungen nur schwer entkommen können. ›Migrationsmanagement‹ zielt darauf zu verhindern, dass scheiternde und ungleiche Akkumulation und damit verbundene soziale Krisen und Kriege aus peripheren Räumen in den globalen Norden ›überschwappen‹. Erst eine solch selektive Blockade ermöglicht es den Eliten und Bevölkerungen im Norden, ihre ›imperiale Lebensweise‹ zu genießen, die notwendigerweise darauf beruht, deren soziale, ökologische und ökonomische Kosten zu externalisieren und die so im globalen Süden erzeugten Lebensbedingungen zu ignorieren. Aus diesem Zusammenhang speist sich die ›tiefe Hegemonie von Grenzen‹. Migrationskontrollen sind Teil des Staatsfetischs. Wie der Staat insgesamt erscheinen sie dem Alltagsbewusstsein der Menschen im globalen Norden als selbstverständliche und unhintergehbare Voraussetzung der eigenen Existenz.
Migrationskontrollen haben also den Effekt, periphere Bevölkerungen zu ent-machten, ihre Stellung in den nationalen und internationalen Kräfteverhältnissen massiv zu schwächen – und so ihren subalternen Status zu verewigen. Gelänge es, ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit durchzusetzen, würde sich die Machtstellung der subalternen Fraktionen der Weltarbeiterklasse dramatisch verbessern. Globale Bewegungsfreiheit ist deshalb nicht nur ethisch geboten, sondern strategisch notwendig, um globale Kräfteverhältnisse im emanzipatorischen Sinne zu verschieben. Dies wiederum ist eine Bedingung dafür, die Ursachen kapitalistischer Krisen und Kriege endlich aufzuheben.
Rechtfertigung: Es geht um Abolitionismus
Auf Basis einer solch grundlegenden Analyse ist es schwierig, eine linke Migrationspolitik zu entwerfen. Das Projekt globaler Bewegungsfreiheit knüpft an frühere Kämpfe an, die auf die vollständige ›Abschaffung‹ grundlegender Unrechtssysteme zielten. Wenn alle Menschen frei und gleich an Würde und an Rechten geboren sind, dann müssen alle Privilegien, die auf zufälligen oder ethisch irrelevanten Eigenschaften basieren, abgeschafft werden. Die großen Emanzipationskämpfe gegen Feudalismus und Sklaverei wurden auf dieser Grundlage geführt, ähnlich die Kämpfe gegen Kastensysteme, patriarchale Unterdrückung, rassistische Entrechtungen und die heteronormative Diskriminierung von LGBTI. In der Vergangenheit dachten vor allem Weiße Menschen, dass Schwarze Menschen natürlich nicht die gleichen Rechte haben können wie sie. Männer dachten, dass Frauen ihnen natürlich untergeordnet seien. Und heute denken die StaatsbürgerInnen des globalen Nordens, dass die Menschen des globalen Südens selbstverständlich an Grenzen gestoppt und abgeschoben werden dürfen. Hier setzt das Projekt globaler Bewegungsfreiheit an. Es entlarvt die scheinbare Selbstverständlichkeit von Migrationskontrollen als eine weitere, willkürliche und nicht zu rechtfertigende Hierarchisierung von Menschen. Es zielt nicht auf eine ›linke Migrationspolitik‹, nicht auf ›humane‹ und ›faire‹ Kontrollen. Es zielt auf deren Abschaffung.
Richtungsforderungen und Transformationsprojekte
Dennoch können Richtungsforderungen sinnvoll sein, radikalreformistische Transformationsprojekte, die in der Logik einer revolutionären Realpolitik das Terrain bereiten (Räume, Netzwerke, Diskurse, Institutionen), auf dem um die Abschaffung von Kontrollen gekämpft werden kann. Im Folgenden skizziere ich sechs solcher strategischen Projekte.
Projekt I: Einen Offensiven Diskurs entwickeln. Linke und linksliberale KritikerInnen der europäischen Migrationspolitik sehen sich mit nur schwer auflösbaren Widersprüchen konfrontiert. Verzweifelt verteidigen sie die Überreste des ›Flüchtlingsschutzes‹ – und affirmieren so die Abschottung gegenüber Migration aus ökonomischen und anderen Gründen. Sie empfinden gewaltsame Abschiebungen als zutiefst unmenschlich und wissen, dass Frontex-Patrouillen die (eigene) privilegierte Lebensweise absichern. Doch sie schrecken davor zurück, die Konsequenzen aus ihrer ethischen Sensibilität zu ziehen: keine Abschiebungen, ein globales Recht auf Migration, gleiche Rechte für alle.
Für dieses Zögern gibt es Gründe: die Taktik pragmatischer Realpolitik, die Sorge, offene Grenzen untergrüben die Fundamente des europäischen Sozialmodells. Globale Bewegungsfreiheit scheint ethisch geboten – und zugleich unmöglich. Viele Linke sind sich dieses Dilemmas nur zu bewusst. Es wird meist ignoriert. Weil sich die Linke nicht mit den Widersprüchen der eigenen Position konfrontiert, gerät sie in die Defensive: Sie ist darauf verwiesen, die Einhaltung von Menschenrechten anzumahnen und die Nützlichkeit von MigrantInnen zu beschwören. Um in die Offensive zu gelangen, müsste sie die Widersprüche linker Migrationspolitik intensiv reflektieren und daraus eine neue Ethik entwickeln, einen offensiven Diskurs, der Nord-Süd-Verhältnisse und Arbeitskraft als die ›eigentlichen‹ Probleme benennt, utilitaristische Erwägungen zurückweist und das Recht auf globale Bewegungsfreiheit selbstbewusst zum Maßstab des eigenen politischen Handelns erklärt.
Projekt II: Progressives Rollback. Als Minimalprogramm, als ›Haltelinien‹, müsste eine progressive Migrationspolitik die in den letzten Jahrzehnten eingeführten asylpolitischen Verschärfungen zurücknehmen. Sie müsste das Dublin-III-Regime ebenso abschaffen wie die im ›Asylkompromiss‹ von 1993 eingeführten Rechtskategorien der ›sicheren Herkunfts- und Drittstaaten‹. Das Gleiche gilt für Residenzpflicht, Lager, Abschiebegefängnisse, Arbeitsverbote und das Asylbewerberleistungsgesetz. Zudem muss sie die Rechte von Illegalisierten verteidigen und juristisch verankern, genauso ihren Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und Rechtsschutz gegen Gewalt und Ausbeutung. Sie muss die Kooperation von Kitas, Schulen, ÄrztInnen oder kommunalen Einrichtungen mit den Ausländerbehörden beenden. Vorbild könnten die ›Sanctuary Cities‹ in Nordamerika sein, darunter Toronto, Los Angeles und New York (vgl. dazu Mogilyanskaya in diesem Heft).
Projekt III: Akteure stärken. Eine radikalreformistische Migrationspolitik muss die eigene soziale und politische Basis stärken. Dies hieße vor allem, es den von Rassismus und Entrechtung Betroffenen zu ermöglichen, sich zu verteidigen und zu organisieren, etwa durch Gewerkschaftsrechte, Rechtsschutz, großzügige Prozesskostenhilfe in Asylverfahren und die Finanzierung sozialer und politischer Vereinigungen (beispielsweise über unabhängige Stiftungen). Weitere Ansatzpunkte gäbe es in der Wissenschaftspolitik und bei der Stärkung migrationspolitischer NGOs.
Projekt IV: Massenlegalisierung. »Aquí estamos y no nos vamos!« rufen migrantische AktivistInnen in den USA seit den Massenprotesten von 2006. »Wir sind hier, und wir gehen nicht weg!« Ähnlich wie in den USA und in vielen EU-Staaten bereits geschehen, müsste es eine radikalreformistische Migrationspolitik in Deutschland zu ihrem Projekt machen, die bereits hier lebenden Menschen zu legalisieren. Bleiberecht für alle! Perspektivisch wären politische und soziale Bürgerrechte an den Aufenthalt in der EU zu knüpfen.
Projekt V: Soziale Rechte durchsetzen. Im Kapitalismus sind Migrationsregime immer auch Arbeitskraftregime. Deshalb muss sich eine linke Migrationspolitik direkt gegen eine neoliberale Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik richten, für die die Entrechtung qua Ausländerrecht nur ein Mechanismus von vielen ist, um Löhne zu senken und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Es müsste darum gehen, gleiche soziale Rechte für alle ArbeiterInnen auszubauen und durchzusetzen, dass Lohnbestimmungen und Arbeitsstandards eingehalten werden.
Projekt VI: Visaregime abrüsten. Eine radikalreformistische Migrationspolitik müsste schließlich die globale Apartheid im EU-Visaregime durchbrechen. Ohne Visazwang könnten die Menschen, die derzeit im Mittelmeer ertrinken, gefahrlos mit Fähren und Flugzeugen in die EU gelangen. Meint man es ernst damit, das Sterben an den Grenzen zu beenden, bleibt keine Wahl, als Visavorgaben abzuschaffen oder radikal zu liberalisieren. Eine Möglichkeit wären ›Asylvisa‹, die dazu berechtigen würden, in die EU einzureisen, um dort einen Asylantrag zu stellen. Menschen werden auch weiterhin versuchen, in der EU Schutz und Arbeit zu finden. Linke Migrationspolitik muss ihnen ermöglichen, dies gefahrlos zu tun.
Gegenhegemoniale Strategien
Um die skizzierten Projekte durchzusetzen, müsste man unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte beziehungsweise »Hegemonieprojekte« (Forschungsgruppe ›Staatsprojekt Europa‹ 2014) strategisch einbinden, neutralisieren und ausschließen. Ein Ausgangspunkt wäre, sie im Milieu des linksliberal-alternativen Hegemonieprojekts zu verankern (NGOs, linke Parteien, soziale Bewegungen, kritische Wissenschaft). Wie beschrieben (Projekt I), bedarf es dazu einer intensiven Reflexion der Widersprüche linker Migrationspolitik und eines offensiven Diskurses.
In einem zweiten Schritt müssten Gewerkschaften, Sozialverbände und deren soziale Basen eingebunden werden. Sie sind zentrale ProtagonistInnen national-sozialer Hegemonieprojekte. Große Teile dieser Akteure lehnen eine liberalere Migrationspolitik ab und fürchten verschärfte Konkurrenz um Löhne, Arbeitsplätze und Sozialleistungen. Teils ist ihre Furcht das Resultat rechter Propaganda. Dagegen muss die Linke erklären, wie restriktive Migrationspolitik die Entrechtung aller ArbeiterInnen vorantreibt. Doch ihre Skepsis hat einen rationalen Kern. ›Einheimische‹ ArbeiterInnen werden durch den ausgrenzenden Charakter der europäischen Wohlfahrtsstaaten real privilegiert. Eine Einbindung dieser Kräfte könnte dennoch gelingen, würde linke Migrationspolitik deren national-soziale Logik durchbrechen. Sie müsste gleiche soziale Rechte für alle ausbauen und die Einhaltung von Lohnbestimmungen und Arbeitsstandards radikal durchsetzen (Projekt V). Das Problem verschärfter Konkurrenz unter den Lohnabhängigen wäre damit nicht aufgehoben, aber relativiert.
In einem dritten Schritt müssten Akteure des neoliberalen Hegemonieprojekts (Unternehmen, Arbeitgeberverbände) dazu gebracht werden, eine radikalreformistische Migrationspolitik nicht zu torpedieren. Die Chancen dafür stehen so schlecht nicht. Kapitalakteure fordern ständig eine Liberalisierung des Einwanderungsregimes. Eine radikalreformistische Migrationspolitik würde jedoch die Entrechtung migrantischer Lohnabhängiger abschaffen und arbeitsrechtliche Normen radikal durchsetzen. Das würde den Widerstand neoliberaler Akteure provozieren. Deshalb ließe sich wohl höchstens eine passive Akzeptanz durch diese Kräfte erreichen.
Viertens werden die Projekte einer linken Migrationspolitik am ehesten am Widerstand autoritär-kleinbürgerlicher Milieus, konservativer Eliten und Rechtsradikaler scheitern, die eine solche Politik erbittert bekämpfen würden. Sie und ihre VertreterInnen im erweiterten Staat wird man nicht integrieren können. Sie müssen hegemoniestrategisch ausgeschlossen werden. Ansatzpunkt dafür könnte ein offensiver Diskurs sein, der nationalistischen Widerstand durch die Berufung auf humanistische Ideale strategisch delegitimiert.
Schließlich wird jede linke oder progressive Migrationspolitik in dem Widerspruch gefangen bleiben, dass sie nie human und gerecht sein kann, dass Migrationspolitik in einem kapitalistischen und rassistischen Weltsystem immer gewaltvoll ist und dass sie selbst Teil des Problems ist, das abgeschafft gehört.