Wir leben in bleiernen Zeiten: So viel Krieg war seit 1945 niemals an den Grenzen Europas, und in der Ostukraine wird täglich geschossen. So viele Flüchtlinge gab es weltweit nicht seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und in Afrika bahnt sich die größte Hungersnot der letzten Jahrzehnte an. Die Umweltzerstörung beschleunigt sich. Die Vermögenswerte der Superreichen schnellen in die Höhe, die Schulden und die Armut auch. 1914/15 war ebenso eine bleierne Zeit. Die Proletarier Europas mordeten sich, und die großen sozialdemokratischen Parteien sprachen von »Vaterlandsverteidigung«. Zeiten wie damals und heute sind durch den schreienden Widerspruch zwischen einem enormen Handlungsdruck und abschreckend geringen Handlungsmöglichkeiten geprägt. Was also tun, wenn – fast – nichts getan werden kann?
Der folgende Artikel wendet sich den Jahren zwischen 1914 und 1917 zu und fragt, was Lenin, der zum gewaltmächtigsten Revolutionär des 20. Jahrhunderts werden sollte, in diesen Jahren tat, die ihn fast jeder Möglichkeit direkten politischen Eingreifens beraubten. Welche Antwort findet er auf die Frage, was zu tun sei, wenn fast gar nichts geht? Dies ist keine Antwort auf unsere Nöte. Aber vielleicht hilft es, das heute schon Mögliche zu tun, damit morgen das Notwendige getan werden kann.
Blickt man auf die 32 Monate, die Lenin von September 1914 bis April 1917 in der Schweiz verbrachte, und misst sie daran, wie er später in die Russische Revolution eingriff, so kann man sicherlich sagen, dass kaum jemals zuvor jemand die Emigration so systematisch und konsequent genutzt hat, sich auf seine politische Stunde vorzubereiten. Obwohl seine Partei in Russland faktisch illegal war, die Kontakte weitgehend abrissen, Lenins Worte kaum jemanden erreichten, war er ungeheuer aktiv. In der anomischen Situation der Handlungsunfähigkeit tat Lenin das, was er konnte: Er stellte die Voraussetzungen für sein eigenes eingreifendes Handeln her. Lenin ging im wahrsten Sinne des Wortes ›in sich‹. Alles kam auf den Prüfstand. An einen Genossen schrieb er, dass, wenn man die Zeit richtig zu nutzen verstehe, man auch in Zeiten einer revolutionären Krise in der Lage sei, die richtigen Losungen aufzustellen und eine Strategie und Taktik zu entwickeln, der sich die Massen zuwenden würden. Acht Punkte seien genannt, die mir wichtig zu sein scheinen, will man Lenins Wirken in Zeiten der Ohnmacht verstehen – lernend auch das, was heute unbedingt anders zu machen ist.
I.
Das erste, das man von Lenin lernen kann, ist der Mut, radikal und stur NEIN zu sagen und alle, oft auch unbequeme Konsequenzen zu ziehen. Während andere sich der Situation anzuschmiegen suchten, das ›Beste‹ noch daraus machen wollten, hielt er direkt dagegen. Ohne Wenn und Aber verurteilte er den Krieg in jeder seiner Gestalten, lehnte er jedes Bündnis mit den »Vaterlandsverteidigern« strikt ab.
Heute würde man sagen: Auch ein Neoliberalismus light oder eine etwas sanftere Austeritätspolitik ist von Übel, und Rüstungsexporte in Krisengebiete wie »humanitäre Interventionen« (ein Oxymoron wie »menschliches Morden«) verbieten sich. Was man anders machen sollte, ist sicherlich, dass es weder richtig ist, dem Krieg einen Bürgerkrieg gegenüberzustellen, noch Bürgerkrieg als die höchste Form der Revolution zu verstehen. Der Bürgerkrieg, schrieb er, müsse »zum Mittelpunkt der Taktik« der Linken werden. Und genau dies dominierte Lenins Strategie bis 1921. In diesem Bürgerkrieg, den die Bolschewiki maßgeblich mitverursachten, starben in Russland so viele Menschen wie europaweit im ganzen Ersten Weltkrieg. Falsch war es auch, die politische Gegnerschaft zur Todfeindschaft zuzuspitzen.
II.
Man kann von Lenin lernen, sich in solchen Zeiten – auch – in die Bibliotheken zu begeben und Philosophie zu studieren. Kein anderes Buch hat Lenin so ausführlich exzerpiert wie das abstrakteste Werk Hegels – »Die Wissenschaft der Logik«. Lenins Lesegenuss wuchs ganz augenscheinlich mit jedem Kapitel, und euphorisch schrieb er über den letzten, ›abstraktesten‹ Abschnitt in einer Notiz: »In diesem idealistischsten Werk Hegels ist am wenigsten Idealismus, am meisten Materialismus. ›Widersprechend‹, aber Tatsache!« (Hervorh. i. O.) Er gewann aus dieser Lektüre einen neuen Blick auf die Wirklichkeit: Ganz anders als die führenden Theoretiker*innen der Zweiten Internationale, namentlich Karl Kautsky, drang er in eine Dialektik der Brüche ein, erkannte, dass das Einzelne und Zufällige in konkreten Situationen von zentraler allgemeiner Bedeutung sein kann: »Verwandlung des Einzelnen in das Allgemeine, des Zufälligen in das Notwendige, die Übergänge, das Überfließen, den wechselseitigen Zusammenhang der Gegensätze«. Aus dem Marxismus als Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen wurde wieder lebendige Praxisphilosophie. Nur ist die Praxis bei Lenin vor allem instrumentelles Handeln der Zweckrealisierung, nur Beziehung von Subjekt zum Objekt. Was Rosa Luxemburg an sozialistischer Praxis faszinierte, die Selbstorganisation, der offene Dialog, der Wettstreit, fehlt. In Lenins Dialektik des revolutionären Bruchs verschwindet die Dialektik historischer Kontinuitäten durch die Brüche hindurch. Es scheint alles möglich – wenn man nur den richtigen Augenblick ergreift. Die Folgen falschen Eingreifens wurden nicht bedacht. Im Vordergrund stand ein einziges Ziel: Die Übernahme der Macht durch die Bolschewiki als Vertreter des russischen Proletariats. Walter Benjamin hat in seinen hinterlassenen Schriften Dialektik als Kunst bestimmt, gegen den Wind anzusegeln. Die dialektischen Begriffe seien die Segel: »Die Kunst, sie setzen zu können, ist das Entscheidende.« Lenin hatte bei Hegel diese Kunst gelernt, wenn auch sehr einseitig.